Die Opfer in der letzten Kolonie Afrikas fordern ihre Rechte
Red. Marokko gibt dem IKRK keinen Zugang zu gefangengehaltenen Sahraouis. Mitglieder der Parlamentarischen Gruppe Westsahara aus der Schweiz besuchten in der zweiten Hälfte Januar Flüchtlingslager jenseits der Grenze in Algerien, darunter der Co-Präsident der Gruppe, SP-Nationalrat Fabian Molina. Er berichtet für Infosperber über diesen von grossen Medien weitgehend ignorierten Konflikt.
Nur mit Begleitschutz
Der Sternenhimmel ist vollkommen klar, ansonsten ist es stockdunkel, als wir mit unserem Tross von Geländewagen durch die algerische Wüste brausen. Vom Flughafen Tindouf, wo wir nach Einbruch der Dunkelheit landeten, ist es etwa eine Stunde reine Fahrzeit bis nach Boujdour. Boujdour ist eines von insgesamt fünf Flüchtlingslagern im Westen Algeriens, in denen seit fünfzig Jahren schätzungsweise 200’000 Sahraouis leben – oder besser gesagt ausharren.
Begleitet werden wir von einer Kohorte der algerischen Gendarmerie, die uns bis zu einem Check-Point fährt. Wir erhalten unsere Pässe zurück und sind ab diesem Moment aus Sicht der algerischen Behörden nicht mehr in ihrem Zuständigkeitsbereich. Von da an begleitet uns eine bewaffnete Eskorte des Frente Polisario. Der Begleitschutz ist für alle ausländischen Besucher:innen obligatorisch, denn im Grenzgebiet zwischen Mauretanien, Mali, Algerien und Marokko treiben neben Drogenschmugglern verschiedene radikal-islamistische Terror-Organisationen ihr Unwesen, die in der Vergangenheit passierende Autos angegriffen und die Insassen entführt oder getötet haben.
Die Bewohner:innen der Flüchtlingslager, die wir in den nächsten beiden Tagen besuchen werden, widersetzen sich dem politischen Islam, der sich in der Gegend ausbreitet. Die Sahraouis glauben an Allah und auch an die Gleichberechtigung aller Menschen, an Toleranz und Menschenrechte.
Spanien verweigerte völkerrechtswidrig den Dekolonisierungsprozess
Die Sahraoui sind Beduinen, die über Jahrhunderte das Gebiet von der Sahara bis an den Atlantik bewanderten. Heute sind sie in ihrer Mehrheit zur Sesshaftigkeit im Niemandsland der algerischen Sahara verdammt. Ihr Land, die Westsahara, ist seit 1975 von Marokko annektiert. In den 1970er Jahren war die Dekolonisierung Afrikas bereits weit fortgeschritten. Spanien unter der Herrschaft von General Francisco Franco weigerte sich, der rechtlich bindenden Uno-Aufforderung zur Dekolonisierung nachzukommen und ein Referendum unter der saharaouischen Bevölkerung über den Status der «Spanisch-Sahara» abzuhalten. Stattdessen übergab Spanien das Gebiet im Vertrag von Madrid rechtswidrig an Mauretanien und Marokko.
In die algerische Wüste vertrieben
Unmittelbar nach dem Abzug der spanischen Kolonialmacht brach ein Krieg zwischen Marokko und Mauretanien aus, in dessen Verlauf es zu grausamen Massakern an der sahraouischen Zivilbevölkerung kam. Der 1973 gegründete Frente Polisario («Frente Popular para la Liberación de Saguía el Hamra y Río de Oro») und mit ihm ein Grossteil des sahraouischen Volkes wurden vertrieben und in die algerische Wüste gedrängt, wo sie seither leben. Fünfzig Jahre später befinden wir uns auf dem Weg dorthin.
Nach einem vorherigen Aufenthalt in der algerischen Hauptstadt Algier besuchte unsere Delegation der Parlamentarischen Gruppe Westsahara die Flüchtlingslager, die sich auf der algerischen Seite der Grenze befinden. Mitgereist waren die Co-Präsidentin der Gruppe, die Berner Nationalrätin der Grünen, Christine Badertscher, der Aargauer Mitte-Nationalrat Andreas Meier und die beiden Westschweizer SP-Nationalrätinnen Brigitte Crottaz und Laurence-Fehlmann-Rielle sowie unsere Reisebegleiterin Lucia Tramér vom Schweizer Unterstützungskomitee der Sahraouis.
In Algier befindet sich der lokale Sitz verschiedener internationaler Organisationen, die für die humanitäre Hilfe der saharaouischen Flüchtlinge zuständig sind, wie das Welternährungsprogramm und das IKRK.
Überleben dank humanitärer Hilfe
Die fast 200’000 Sahraoui sind weitgehend von humanitärer Hilfe abhängig. In der Wüste ist Landwirtschaft kaum möglich und Wasser eine kostbare Ressource. So ist das Uno-Welternährungsprogramm (WFP) für die Versorgung mit den fünf Grundnahrungsmitteln Weizen, Reis, Linsen, Gerste und Gofio (eine gemahlene Getreidemischung) sowie Zucker und Speiseöl verantwortlich. Für Früchte, Gemüse und Geflügel sorgen die Bewohner:innen der Lager selber, indem sie kleine Parzellen mit speziellen Techniken bewirtschaften.
Eine erwachsene Person braucht zum Überleben in einer Notsituation gemäss WFP mindestens 2100 Kalorien pro Tag. Aufgrund der steigenden Nahrungsmittelpreise infolge des Ukraine-Krieges und massiver Budget-Kürzungen durch die Geberländer musste das WFP die Rationen um 30 Prozent reduzieren, was die Ernährungssituation der Sahraoui noch einmal deutlich verschlechtert hat. Auch die Schweiz hat ihren Beitrag ans Welternährungsprogramm für 2025 in Algerien um einen Drittel reduziert: eine direkte Folge der parlamentarischen Budget-Streichung für die internationale Zusammenarbeit kurz vor Weihnachten 2024.
Die Resilienz der Sahraoui und ihr Wille, ihr gestohlenes Land zurückzubekommen, ist angesichts dieser widrigen Lebensumstände fast unvorstellbar. Viele Bewohner:innen der Lager verfügen aus der spanischen Kolonialzeit über einen spanischen und damit einen EU-Pass. Sie können also in die EU reisen, was sie auch regelmässig tun, um zu studieren oder für eine bestimmte Zeit zu arbeiten und Geld zu verdienen. Aber die meisten kehren in die Lager zurück.
Seit 2020 wieder Krieg
Seit 2020 befindet sich der Frente Polisario nach Jahrzehnten des Waffenstillstands wieder im Krieg mit dem Königreich Marokko. Es ist ein ungleicher Kampf zwischen der alawidischen Monarchie, die 2023 für ihr Militär 5,18 Milliarden Dollar ausgab, und einer kleinen Guerilla-Truppe von wenigen tausend Mann, die von Algerien militärisch unterstützt wird.
Das Gebiet der Westsahara befindet sich zu rund 80 Prozent unter Kontrolle des marokkanischen Militärs. Etwa 20 Prozent, das so genannte befreite Gebiet, wird vom Frente Polisario kontrolliert. Die beiden Teile, der an den Atlantik grenzende Nordwesten und der an Algerien grenzende Südosten, werden durch einen fast 2700 Kilometer langen Wall getrennt. Die Sahraouis nennen ihn «Mauer der Schande», in Marokko wird er «Hassans Wall» (nach dem früheren König) genannt.
Der Wall ist mit schätzungsweise acht Millionen Minen sowie Zehntausenden Soldaten und schwerem Gerät gesichert, so dass eine Überquerung unmöglich ist. Dennoch dauern die Kämpfe seit nunmehr vier Jahren an. «Entscheidend sind nicht die Waffen, sondern die Motivation derer, die sie bedienen», meinte ein Vertreter der Polisario während unseres Aufenthalts.
Phosphor-Vorkommen und Fischgründe
Der Hauptgrund für diese verfahrene Situation liegt im Rohstoffreichtum der Westsahara. Im Wüstenboden liegen riesige Phosphor-Vorkommen, die das Königreich Marokko seit Jahrzenten illegal abbaut. Dazu kommen die riesigen Fischgründe vor der Küste. Der Europäische Gerichtshof bestätigte 2024 in einem wegweisenden Urteil erneut, dass die Ausbeutung dieser Rohstoffe durch Marokko nicht mit internationalem Recht vereinbar ist.
Marokko spielt den «Trumpf» der Migrant:innen aus
Dennoch treiben insbesondere Frankreich und Spanien die Annäherung an Marokko weiter voran. Dabei lassen sie sich von Marokko erpressen, das als Gegenleistung Migrant:innen aus Afrika den Weg nach Europa versperren soll. In der Vergangenheit hatte Marokko immer wieder tausende Geflüchtete aus Subsahara-Afrika in Richtung der spanischen Enklaven Ceuta und Melilla oder der kanarischen Inseln passieren lassen, anstatt sie – wie von den Regierungen Europas gewünscht – zurückzuhalten und abzuschieben.
Auch die Schweiz will die wirtschaftlichen Beziehungen zu Marokko weiter ausbauen und hat Marokko unlängst zu einem Schwerpunktland der regionalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit erklärt.
Die Flüchtlingslager werden ignoriert
Mit den Flüchtlingslagern jenseits der Grenze in Algerien gibt es keine wirtschaftliche Zusammenarbeit. Zwar pflegen zahlreiche Staaten des Globalen Südens nach wie vor Beziehungen mit der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS) und es engagieren sich zivilgesellschaftliche Organisationen für die Sahraoui, so dass sie – auch dank dem grossen Engagement des Frente Polisario im Rahmen ihres Plans «gegen die Ignoranz» – überdurchschnittlich gut ausgebildet sind. Das Leben in der Wüste soll, so die Strategie der DARS-Behörden, eine Vorbereitung für das Leben in ihrem neuen Staat der Zukunft sein. Aber das alles kann nicht darüber hinwegtäuschen, wie trostlos und langweilig das Leben im Nirgendwo sein kann.
Recht und Gerechtigkeit spielen in der Kultur der Sahraoui eine entscheidende Rolle. Und Recht und Gerechtigkeit sind, so sehen es nach wie vor viele internationale Instanzen, auf ihrer Seite. Völkerrechtlich gehört die Westsahara nicht zu Marokko und das sahraouische Volk hat das Recht auf Selbstbestimmung.
Solange sich die Staaten Europas aber nicht dazu überwinden, das Völkerrecht konsequent und überall durchzusetzen, wird sich dieser Konflikt nicht lösen lassen. Und so lange wird sich Europa den Vorwurf der «Double Standards» gefallen lassen müssen.
Als Depositarstaat der Genfer Konventionen sollte sich die Schweiz wenigstens engagiert und lautstark auf die Seite des humanitären Völkerrechts stellen und folglich die Einhaltung fundamentaler Prinzipien der Menschlichkeit in diesem Krieg verlangen. Die Schweiz sollte die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Marokko sistieren, solange Marokko dem IKRK nicht einmal Zugang zu den sahraouischen Gefangenen in marokkanischen Gefängnissen gewährt.
Die letzte Kolonie Afrikas hat die Unterstützung jener Staaten verdient, die ihren Reichtum selbst auf dem Kolonialismus gründeten. Denn eines ist uns nach dem Besuch in den Flüchtlingslagern klar geworden: Die Sahraoui werden niemals aufgeben, sie werden weiterkämpfen, bis sie ihr Land zurückhaben. Und wenn sie dafür weitere fünfzig Jahre in der Wüste ausharren müssen.
Infosperber hat über die Situation der Sahraouis mehrmals informiert
20. Dezember 2020
Die Sahraouis als Spielball für Trumps Egotrip
Die USA haben die besetzte Westsahara als Territorium von Marokko anerkannt. Damit steigt die Gefahr eines neuen Krieges.
2. April 2020
Kampf gegen Plünderung der Westsahara zeigt erste Erfolge
Noch nie wurde so wenig Phosphat aus der Westsahara exportiert wie 2019. Die Beobachtung und Kontrolle der NGOs zeigt Wirkung.
5. Januar 2020
Grosses Schweigen zu Marokkos Kriegsverbrechen in Westsahara
Die Uno darf die gravierenden Menschenrechtsverletzungen nicht einmal dokumentieren, kritisiert Menschenrechtlerin Aminatou Haidar.
5. Juni 2016
Mohamed Abdelaziz kämpfte, wo das Völkerrecht seit Jahren nicht gilt
Nach dem Tod des Präsidenten der Phantom-Republik Westsahara könnte sich der Frente Polisario radikalisieren.
20. Januar 2016
Die vergessenen Palästinenser in Nordafrika
Die Sahraouis aus Nordwestafrika haben keine Lobby. Die Medien berichten fast nichts. Seit über 30 Jahren warten sie in Camps.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Fabian Molina ist Co-Präsident der SP Schweiz.
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Nur der Stamm der Sunniten sind die wahren Muslimen die restlichen Stämme, wie Sahraouis, werden bekämpft. Hat Allah so bestimmt.