Nukleare Abschreckung Trends Research und Advisory

Nukleare Abschreckung: Nehmen die USA ein zerstörtes Europa in Kauf? © Trends Research und Advisory

Die Nato erhöht an Russlands Grenze weiter das Atomkrieg-Risiko

Urs P. Gasche /  Die Zerstörung russischer Abschussrampen würde das atomare Gleichgewicht gefährden. Deshalb droht ein russischer Erstschlag.

Russland, die Grossmacht mit den meisten Atomwaffen, wird in die Enge gedrängt. Die US-Abschussrampen für atomar bestückbare Raketen in Europa lassen Russland nur noch wenige Minuten Zeit, um auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen westlichen Erstschlag mit einem Gegenangriff gegen die USA oder gegen Europa zu reagieren. Ein russischer Gegenschlag infolge eines Fehlalarms eines Nato-Angriffs wäre nach Erkennen des Fehlalarms nicht mehr zu stoppen und würde einen atomaren Schlagabtausch auslösen.

Sollten jetzt von der Ukraine aus britische oder amerikanische Langstreckenwaffen russische Abschussrampen im Westen Russlands zerstören, wäre die russische Abschreckung namentlich in Richtung Europa stark geschwächt. Russland geriete in Gefahr, einer atomaren Bedrohung oder einem atomaren Angriff der USA, der Nato oder anderer Länder, die Atomwaffen besitzen, ausgeliefert zu sein. Es ist nicht anzunehmen, dass die russische Führung eine solche Entwicklung akzeptiert – ganz unabhängig davon, wie realistisch oder unrealistisch eine atomare Erpressung von Seiten des Westens wäre.

Um die gegenseitige Abschreckung nicht zu gefährden, hatte der Raketen-Abwehrvertrag («ABM-Vertrag») von 1972 das Stationieren solcher Raketen in Europa verboten. Doch seit die USA Ende 2001 diesen Vertrag gekündigt hatten, rüsteten beide Seiten wieder auf (siehe Infosperber vom 22.12.2021: Der Startschuss zum Wettrüsten 2.0 – vor 20 Jahren).


US-Verteidigungsministerium noch 2018: Gegenseitige Abschreckung ist zentrales Element der Friedenssicherung

Auch dank des damals herrschenden «Gleichgewichts des Schreckens» blieb Europa während der Jahrzehnte des Kalten Krieges vor einem Atomkrieg verschont. Sowohl die Sowjetunion als auch die USA mussten davon ausgehen, dass bei einem atomaren Angriff die andere Seite genügend Zeit hat, um mit eigenen Atomwaffen zurückzuschlagen. 

Ein Angriffskrieg mit Atomwaffen hätte sowohl für die Sowjetunion als auch für die USA zur Folge gehabt, dass auch eigene Städte zerstört und verseucht werden: «Wer zuerst schiesst, stirbt als zweiter».

Noch 2018 schrieb das US-Verteidigungsministerium auf seiner Webseite: «Abschreckung ist seit fast 70 Jahren ein zentrales Element der Friedenssicherung.»


Putin: «Direkte Verwicklung der Nato»

Präsident Putin erklärte am 12. September im staatlichen Fernsehen, der Einsatz weitreichender Waffen auf Ziele in Russland «würde die Natur des Konflikts erheblich verändern. Sollte Kiew grünes Licht für das Abfeuern von Langstreckenraketen weit ins Landesinnere Russlands hinein erhalten, «wäre dies nichts weniger als eine direkte Verwicklung der Nato-Länder in den Krieg in der Ukraine». Russland werde «entsprechende Entscheide auf der Grundlage der Bedrohungen treffen, mit denen wir konfrontiert sein werden».

Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius reagierte am 13. September in Berlin: Der Einsatz weitreichender Waffen gegen Ziele in Russland sei «durch das Völkerrecht gedeckt». Es stehe den USA und Grossbritannien frei, dies betreffend ihrer gelieferten Waffen «so zu entscheiden». 

Tatsächlich darf die angegriffene Ukraine völkerrechtlich Langstreckenraketen für militärische Ziele in Russland einsetzen. Doch weder die USA noch Grossbritannien noch Deutschland dürfen ignorieren, dass Russland eine Atommacht ist, und dass ein Atomkrieg in Europa für die Menschen diesseits des Atlantiks eine absolute Katastrophe bedeuten würde. 

Pentagon lässt Folgen eines Atomkrieges in Europa abklären

Das U.S. Army Corps of Engineers, das zur US-Armee gehört, will einen Auftrag vergeben, um die Auswirkungen von Atomwaffenexplosionen auf die landwirtschaftliche Produktion genauer abzuklären. Die Ausschreibung für den 34-Millionen-Dollar-Auftrag ging am 12. September 2024 zu Ende. Es geht um die Simulierung von Atomkriegen auf globaler Ebene, die zur Zerstörung der landwirtschaftlichen Systeme wie z. B. landwirtschaftlicher Betriebe führen würden, und um eine erhöhte Abdeckung speziell der ehemaligen Ostblockländer.

Hubert Wetzel, Auslandredaktor der «Süddeutschen Zeitung», fragte am 13. September in seinem Kommentar, der von den Tamedia-Zeitungen übernommen wurde: «Ist die Gefahr, dass der Krieg zu einem nuklearen Krieg eskalieren könnte, begründet?»

Die Antwort sei «tückisch», meinte er: «Das weiss man vielleicht erst, wenn es zu spät ist […] Das Ausbleiben einer Eskalation in der Vergangenheit ist eben keine Garantie für das Ausbleiben einer Eskalation in der Zukunft.»

Trotzdem plädierte Wetzel dafür, militärische Ziele in Russland anzugreifen. Es sei «absurd, dass Kiew westliche Langstreckenraketen nicht gegen Ziele in Russland einsetzen darf». Sein kaum überzeugender Vorschlag zur Risiko-Minimierung: Westliche Politiker müssten sich «Gedanken darüber machen, wie sich verhindern lässt, dass aus dem Krieg in der Ukraine der dritte Weltkrieg wird».

Aus Sicht Russlands gibt es keinen Grund zur Annahme, dass die USA oder die Nato Russland nicht angreifen würden. Diktatoren oder autoritäre Regimes, die in ihren Ländern Menschenrechte verletzen oder Minderheiten unterdrücken, dienten den USA in den letzten Jahrzehnten mehrmals als Anlass, um einen «Regime Change» anzupeilen. Vor allem, wenn es sich um Länder mit grossen Energie- oder Rohstoffvorkommen handelte: Irak, Libyen, Afghanistan, Syrien.

Aus Sicht Europas muss ein atomarer Schlagabtausch unbedingt verhindert werden. Denn die Atombomben würden sehr wahrscheinlich zuerst Europa treffen.

Statt jetzt nur über ein weiteres Aufrüsten zu reden, könnte Europa konkrete Vorschläge zur gegenseitig kontrollierbaren Abrüstung vorlegen. Abrüstung wäre im Interesse aller Beteiligten – ausser der Rüstungslobby.


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11 Meinungen

  • am 14.09.2024 um 17:43 Uhr
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    Hat nicht Putin im März 2023 angekündigt, Atomwaffen in Belarus zu stationieren?

    • am 15.09.2024 um 10:38 Uhr
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      @Martin
      Die USA hat ihre Bomben in ganz Europa gelagert und Raketenabschussanlagen in Rumänien und Polen, für unsere Sicherheit natürlich.

      • am 15.09.2024 um 23:26 Uhr
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        @Mark
        Dann bin ich ja beruhigt!

  • am 14.09.2024 um 18:12 Uhr
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    Möglich, dass die anglo-amerikanischen Generalstäbler einen grossen kontinental-europäischen Konflikt im Sandkasten geübt haben, wie Russland besiegt und unter Kontrolle gebracht werden kann, um die Kontrolle über die russischen Bodenschätze zu haben. Man geht wohl davon aus, wenn die Atomwaffen Richtung Russland gerichtet sind, dann wird es «nur» einen konventionellen Krieg geben. Deutsche, Polen, Franzosen, Italiener, Rumänen, etc. etc. sollen auf den Schlachtfeldern die Russen bezwingen. Es wird grosse Verluste an Material und Soldaten geben, wenn es zu gigantischen Schlachtgemetzeln kommt. . Die Städte werden durch Raketen und Drohnen platt gemacht, um die Bevölkerung in Panik zu versetzen in der Hoffnung so den Krieg verkürzen zu können. Kann wohl sein, dass in London und Washington noch nicht erkannt wurde, dass China und Indien die Zukunft bestimmen werden und die Amerikaner und Europäer zu Vasallen werden könnten.
    Gunther Kropp, Basel

  • am 15.09.2024 um 02:49 Uhr
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    Wie immer, nimmt niemand Russland ernst. Aber die Situation ist ernst! Für die USA, kein Problem, Russlands Antwort (sicher nuklear) wird nicht Amerika betreffen, sondern nur Europa! What else? Russland und Europa landen auf den Knien und USA wird uns allen helfen, wieder aufzustehen… aber wie teuer und wie lange wird das dauern???

  • am 15.09.2024 um 10:35 Uhr
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    Die EU Politiker wollen uns weismachen, dass wir als Auftragsgeber nicht verantwortlich sind für das Blutbad.

  • am 15.09.2024 um 14:37 Uhr
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    Erstaunlich wie lange die Erkenntns des offensichtlichen brauchte. Siehe Einleitung: «Die US-Abschussrampen (…) lassen Russland nur noch wenige Minuten Zeit, um auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen westlichen Erstschlag (…) zu reagieren. Ein russischer Gegenschlag infolge eines Fehlalarms eines Nato-Angriffs (…) würde einen atomaren Schlagabtausch auslösen» .
    * Das sagten die Russen von Anfang an, keine Atomraketen vor der Haustüre (Ukraine).

    Die Einsicht, dass die USA sämtliche Kontrollverträge kündigte, u.a. den INF-Abrüstungsvertrag ist noch ausstehend.

  • am 15.09.2024 um 21:15 Uhr
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    Weshalb hat man das nicht von Anfang an sehen wollen, dass mit der Provokation der NATO und dem anschliessenden Krieg nur Europa und Russland halb vor die Hunde gehen werden, die USA jedoch weit weg vom Geschütz sind auf ihrer grossen Insel drüben.

  • am 15.09.2024 um 23:30 Uhr
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    @ Martin Wolf: Sie bringen‘s auf den Punkt: Die USA haben ihre Bomben in ganz Europa gelagert und haben Raketenabschussrampen – atomar bestückbar – in Rumänien und Polen, zur Sicherheit Europas. Und Europäer glauben daran!

  • am 16.09.2024 um 11:26 Uhr
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    @Ruth
    Sie müssen nicht den ganzen Text von Marc Wolff wiederholen. Allerdings kenne ich nicht alle Europäer und weiss folglich nicht, was sie denken.

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