Kommentar

Die nationalistische Begeisterung macht mir auch als Jude Angst

Professor Peter Beinart © Rockefeller Brothers Fund

Peter Beinart /  Israels militärische Offensiven bergen ein beunruhigendes Risiko: «middah k'neged middah» – «Wie Du mir, so ich Dir.»

upg. Dieser Gastbeitrag stammt vom liberal-orthodoxen Juden Peter Beinart auf Substack. Er ist Professor für Journalismus und Politikwissenschaften an der City-University of New York. Übersetzung und Zwischentitel von Infosperber.


Ich habe darüber nachgedacht, wie es sich anfühlt, als Jude Israels Handlungen zu kritisieren, besonders in diesem Krieg und angesichts der aktuellen militärischen Eskalation im Libanon. In einem Moment, in dem viele jüdische Israelis und Menschen weltweit von Israels scheinbaren militärischen Erfolgen regelrecht benommen sind.

Es erinnert mich ein wenig daran, wie schwierig es nach dem 11. September war, die US-Politik zu kritisieren – auch wenn ich das damals, ehrlich gesagt, nicht besonders gut gemacht habe. Aber ich erinnere mich an diejenigen, die es wirklich versuchten.

Zurzeit herrscht eine tiefgreifende nationalistische Begeisterung. Jegliche Kritik daran lässt einem das Gefühl aufkommen, man wolle nicht, dass «die gute Sache» siegt. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass diese Entwicklung weder den Libanesen noch den Israelis etwas Gutes bringt. 

Ich verstehe, dass die Israelis – ähnlich wie die Amerikaner nach dem 11. September – noch immer dieses starke Gefühl der Demütigung verspüren, das sie überwinden wollen. Und sie überwinden es mit ihrer enormen militärischen Stärke.

Ich verstehe auch, dass Israel vor einem realen Problem steht: Nach dem 7. Oktober wurden Israelis aus dem Norden des Landes vertrieben. Die Regierung sieht sich – wie jede Regierung in einer solchen Lage – in der Verantwortung, diese Menschen in ihre Heimat zurückzubringen. 

Doch wenn man sich von diesem instinktiven Gefühl löst – «Schaut, wie stark wir sind, wie stark Israel ist» – und versucht, strategisch zu denken, treten enorme Probleme zutage. Es geht nicht nur um das ernste moralische Dilemma, unschuldige Menschen zu töten.

Der palästinensische Kommentator Iyad el-Baghdadi schrieb am 17. Oktober in einem Tweet: «Die Israelis sind Meister darin, taktisch zu gewinnen, während sie strategisch verlieren.» Wir müssen also strategisch denken.

Selbst nach einem Waffenstillstand stünde Hisbollah weiter an der Grenze

Israels Ziel ist es, die Menschen zurück in den Norden zu bringen. doch diese Menschen fürchten sich davor, solange die Hisbollah an der Grenze präsent ist. Viele glauben, dass ein Waffenstillstand mit der Hisbollah nicht ausreicht, denn auch wenn die Hisbollah das Feuer einstellt, bleibt sie dennoch an Ort und Stelle. 

Seit dem 7. Oktober fühlen sich die Israelis im Norden nicht mehr sicher.

Wenn man dieser Logik folgt, müsste jemand die Grenze sichern und die Hisbollah fernhalten. Doch weder die Uno noch die libanesische Armee sind dafür geeignet. Die einzige Möglichkeit scheint eine Besetzung des Südlibanons zu sein, um die Israelis in Sicherheit zurückzubringen.

Eine Besetzung des Südlibanons wäre eine Hypothek

Doch es gibt gute Gründe, warum Israel den Südlibanon zuvor verlassen hatte. Obwohl der Hisbollah ein schwerer militärischer Schlag versetzt wurde, glaubt niemand, dass sie aufhören wird zu existieren. Sobald israelische Soldaten den Libanon besetzen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis es zu Angriffen auf sie kommt. Israelische Soldaten werden im Südlibanon Verluste erleiden, und irgendwann wird sich ein langwieriger Aufstand entwickeln. Wie wird Israel dann reagieren? Diese strategische Frage stellt sich kaum jemand.

Ein blossgestellter Iran entwickelt als Abschreckung Atombomben

Und wer denkt über die Konsequenzen nach, welche diese Entwicklung auf den Iran haben wird? Der Iran verfolgte eigentlich eine Beschwichtigungspolitik. Er hat immer wieder eins auf die Nase bekommen und dann doch [Red. Bis zu den jüngsten Raketenangriffen auf Israel] kaum reagiert. Offensichtlich befürchtet der Iran, in einem Krieg gegen Israel unterlegen zu sein.

Wahrscheinlich wird der Iran seine Bemühungen verstärken, Atomwaffen zu entwickeln. Denn wenn er sich konventionell nicht verteidigen kann, wird er, wie Nordkorea, auf nukleare Abschreckung setzen, um sein Regime zu sichern.

Nur Atomwaffen können aus der Sicht des Irans das eigene Regime bewahren und Israel und die USA davon abhalten, einen Angriff zu starten. 

Deshalb wird der Iran nach meiner Einschätzung jetzt alles daransetzen, eine Atombombe zu bekommen, sie zu testen und atomar bestückbare Raketen zu stationieren.

Unterdessen leidet die israelische Wirtschaft schwer, wie die Herabstufung durch die Ratingagentur Moody’s zeigt. Dies sind echte, langfristige Bedrohungen für Israel, die nicht durch militärische Stärke allein gelöst werden können. Die zunehmende wirtschaftliche Isolation führt zu ernsthaften Herausforderungen, die Israel nicht mit militärischer High-Tech-Zauberei lösen kann.

Niemand sollte über dem Völkerrecht stehen

Man kann nicht auf Dauer in einer Welt leben, in der man das Recht für sich beansprucht, ungestraft zu handeln, ohne dass andere einem dasselbe antun werden. Es gibt viele Menschen im Libanon, die die Hisbollah und Nasrallah ablehnen. Aber wie würden Israelis reagieren, die Netanyahu hassen, wenn jemand ihn ermorden und sein Haus in die Luft sprengen würde? 

Der Vergleich zwischen Netanyahu und Nasrallah mag unpassend erscheinen, doch moralisch gesehen sollten alle Menschen den gleichen Schutz geniessen. Niemand sollte über dem Völkerrecht stehen.

Und schliesslich kann man realistischerweise auch nicht dauerhaft in einer Welt agieren, in der man sich das Recht nimmt, ungestraft zu handeln, und denkt, dass andere einem nicht dasselbe antun werden. 

Je mehr man das Völkerrecht verletzt, desto mehr schafft man Präzedenzfälle, die mächtigen Staaten erlauben, zu tun, was sie wollen. Man wird verwundbar, sobald ein anderes Land die Macht und die Chuzpe erlangt, einem das anzutun, was man selbst getan hat.

Diese Entwicklungen führen uns in eine Welt, die grausamer, gefährlicher und gesetzloser wird. Während die Libanesen derzeit die Hauptleidtragenden sind, werden letztlich die israelischen Juden ebenfalls zu Opfern dieser neuen Ordnung werden – genauso wie die übrigen Menschen im Nahen Osten.

Wir in den USA sagen: «Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.» Im Hebräischen lautet der Ausdruck aus jüdischen Texten «middah k’neged middah» oder «Wie Du mir, so ich Dir». Man wird auf die gleiche Weise leiden, wie man anderen Leid zugefügt hat. Diese Perspektive macht mir Angst. 

Aus all diesen Gründen kann ich mich dieser nationalistischen Euphorie, die auf militärischen Erfolgen fusst, nicht anschliessen. Zu oft endet diese Art von Triumphgeheul in Tränen.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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