Kommentar

Die internationale Diskussion läuft falsch

Christian Müller © zvg

Christian Müller /  Separatisten verunsichern die Welt. Das wäre unnötig, würden sich Regierungen und Parlamente eines bewährten Prinzips bedienen.

Am einen Ort schiessen sie – politisch – mit medial verbreiteten populistischen Parolen, am anderen Ort schiessen sie – paramilitärisch – mit über zehn Bleikugeln pro Sekunde aus einer AR-15 oder einer Kalaschnikov. Die Ursache solcher separatistischen Kämpfe und Kriege ist allerdings, unabhängig vom Kaliber, überall die gleiche: die Einwohner einer Region fühlen sich in ihrer kulturellen Eigenart nicht angemessen wahrgenommen, gegenüber anderen Regionen als benachteiligt, demokratisch an den Entscheidungen einer Zentralregierung als zu wenig teilnahmeberechtigt.

Oft haben diese Leute Recht. Viele Regierungen haben, meist aus machtpolitischen Gründen, wenig Verständnis für Minoritäten und ihre Wünsche nach mehr Autonomie. Die Ukraine ist ein anschauliches und leider auch extremes Beispiel: Nach dem Sturz des demokratisch gewählten Wiktor Janukowytsch am 22. Februar aufgrund des – mitnichten landesweit mitgetragenen – Drucks der Strasse in Kiew kamen mit Arsenij Jazenjuk und Petro Poroschenko Politiker ans Ruder, die mit ihrer einseitig westlich orientierten Politik jede Hoffnung der russischsprachigen Minorität im Osten und im Süden auf Anerkennung ihrer sprachlichen und ethnischen Eigenarten und wirtschaftlichen Gegebenheiten zunichte machten – die Hoffnungen einer Minorität, die gegen 30 Prozent der ukrainischen Bevölkerung ausmachen. Nachdem der unübersehbare Einsatz von Molotow-Cocktails gegen die Polizei durch die Maidan-Demonstranten in Kiew international als Ausdruck einer demokratischen Bewegung interpretiert, akzeptiert und sogar legitimiert wurde, war im Russland-affinen Osten der Ukraine der Griff zu den Waffen auch nicht mehr so überraschend. Wer nichts zu verlieren hat, fürchtet eben auch nicht das Risiko.

Der Nationalstaat als massgebendes Raster der Gesetzgebung ist überholt

Was die Spitzenpolitiker rund um den Globus leider noch nicht begriffen haben: die nationalen Grenzen sind im Zeitalter der Globalisierung als Grenzen für alles und jegliches – für die Landwirtschaft, das Bildungswesen, das Gesundheitswesen, die Energiewirtschaft, das Verkehrswesen, die Kulturpolitik – unsinnig geworden. Es muss endlich eine breitangelegte Diskussion beginnen, welche Lebensbereiche und Probleme auf welcher politischen Organisationsebene angegangen und geordnet werden müssen. Und dabei muss nach einem alten, bewährten und eigentlich ganz einfachen Prinzip ans Werk gegangen werden: Regelungen, was immer sie betreffen, sollen immer auf der unterstmöglichen Stufe getroffen werden. Um zwei extreme Beispiele zu nennen: der Entscheid, ob bei einer Strassengabelung die eine Zufahrt aus Sicherheitsgründen durch einen Stopp zu entschärfen ist, kann auf Gemeindeebene diskutiert und gefällt werden. Der Entscheid aber, ob im internationalen Finanzmarkt Finanztransaktionen mit einer kleinen Steuer, der sogenannten Tobin Tax in Höhe von zum Beispiel 0,5 Promille, belastet werden sollen, um die reine Spekulation aus den Währungsdifferenzen zu erschweren, kann nur international diskutiert und gefällt werden, weil die Steuer sonst wirkungs- und damit sinnlos ist.

Das Prinzip, Gesetze und Regulierungen auf der unterstmöglichen – sinnvollen! – (politischen) Organisationsebene zu erlassen und durchzusetzen, nennt man Subsidiarität – ein fürchterliches, schwer nachvollziehbares Fremdwort. Vielleicht auch deshalb ist es nicht in jedermanns Mund, obwohl es dort eigentlich hingehörte. Wir sollten nämlich endlich darüber zu diskutieren beginnen, welche Ordnungen, Regulierungen und Gesetze auf welcher organisatorischen Ebene angegangen werden müssen.

Nicht jede Vereinheitlichung ist schlecht

Die EU – oder, wie Viele sie simpel nennen: Brüssel – wird vor allem der Neigung zu Zentralisierung und Standardisierung wegen kritisiert. Und in der Tat, «Brüssel» hat, meist auf Wunsch irgend einer lobbystarken Industrie-Branche, schon Regulierungen erlassen, die vollkommen überflüssig sind. Man erinnert sich an die zwischenzeitlich annullierte Minimal- und Maximalkrümmung der Gurken für den Handel. Auf der anderen Seite gibt es Vereinheitlichungen, von deren Segen wir jeden Tag profitieren, das metrische Masssystem etwa, der Rechtsverkehr auf den Strassen, ganz generell die Strassen-Signalisierung, und und. Und es gibt weiteren Bedarf. Dass im elektronischen Zahlungsverkehr wir Schweizer zwischen Franken und Rappen einen Punkt setzen, die Italiener zwischen Euros und Centesimi aber ein Komma, ist keines besonderen Kulturdiversitäts-Schutzes wert und dürfte von mir aus schon morgen vereinheitlicht werden, ob so oder so. Ob aber eine Grenzstadt in ihren Schulen nur eine oder zwei Sprachen zulässt und fördert, soll doch bitte diese Stadt selber entscheiden dürfen. Und dass sich unsere Universitäten der sogenannten Bologna-Reform angepasst, ja untergeordnet haben – freiwillig, notabene – zeigt, dass unsere Welt nicht etwa von «Brüssel», sondern von der immer einflussreicheren Wirtschaftslobby regiert wird: Die Wirtschaft hat kein Interesse an breit gebildeten Akademikern, sie braucht superspezialisiert ausgebildete Hochschul-Abgänger. Die Universitas hat aus ihrer Sicht ausgedient, nur noch betriebswirtschaftlicher «Nutzen» ist gefragt.

Schottland als Hoffnungsschimmer

Dass die Schotten mit «London» nicht mehr zufrieden waren und sind, wusste man schon lange. Aber statt dass man die teilweise berechtigte Kritik einmal genauer angeschaut und nach dem Prinzip der Subsidiarität den Schotten eine weitergehende Teilautonomie zugestanden hat, liess man es auf eine Machtprobe hinauslaufen – mit dem jetzt vielleicht bestmöglichen Resultat. «London» scheint nämlich nach den 45 Prozent Ja-Stimmen zur Abtrennung definitiv begriffen zu haben, dass im United Kingdom endlich über das «System» nachgedacht werden muss und Reformen dringlich anstehen.

Die Diskussion läuft weltweit falsch

Die internationale Diskussion läuft zur Zeit total falsch. Die Abtrennung einer Region von einem Staat hat – per se – noch nie ein Problem gelöst. Nicht selten wurden dadurch sogar neue Probleme geschaffen.

Die Grenzen der Nationalstaaten werden im politischen Denken, zum Nachteil brauchbarer Lösungen, als Axiom behandelt: als Tabu, wie Nicht-Mathematiker das vielleicht nennen würden. Angesagt und für eine friedliche Zukunft Europas aber unerlässlich ist, dass wir regional zu denken beginnen und unsere Welt nach dem Prinzip der Subsidiarität regeln.

Für einmal könnte auch Europa etwas von der Schweiz lernen, denn unser Land ist, mit einer relativ starken Gemeindeautonomie, einer – vielleicht sogar zu – starken Kantonsautonomie und einer doch immer noch stark subsidiär denkenden Legislative in diesem Punkt nämlich vielen anderen Ländern eine Nasenlänge voraus. Mit dem Nachteil, dass es zwischenzeitlich auch in diesem Bereich Fundamentalisten gibt, die meinen, sogar die Menschrechte seien auf die Organisationsebene unseres Nationalstaates hinunter zu brechen. Es gibt Themen, die, auch bei intensiver Beachtung des Subsidiaritätsprinzips, definitiv nicht auf der Ebene des Nationalstaats diskutabel sind. Dazu gehört natürlich die Klima-Politik – und eben: auch die Menschenrechte sind kein «regionales» Anliegen. Aber auch etwa der subsidiär begründete Steuerwettbewerb, der den reichen Gemeinden mehr Reiche und den armen Gemeinden mehr Arme beschert, müsste ja nicht unbedingt übernommen werden.

Separatistische Bewegungen sind immer ein Warnsignal

Wo separatistische Ideen und Bewegungen aufkommen, zur Zeit besonders stark etwa in Katalonien in Spanien, aber auch in Belgien oder in Norditalien, lohnt es sich, über das «System» nachzudenken. Wo es nur um die Rosinenpickerei bodenschatzreicher Regionen geht, darf und soll im Sinne von Solidarität gegen Egoismus ruhig Widerstand geleistet werden. Hellhörigkeit allerdings ist immer angebracht.

Ein alter, aber trotzdem dummer Spruch besagt: Alles Gute kommt von oben. In einer Demokratie ist es umgekehrt: Das Gute kommt sehr oft von unten!


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine

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Eine Meinung zu

  • Portrait_Pirmin_Meier
    am 21.09.2014 um 11:57 Uhr
    Permalink

    Der letzte Satz ist der Beste, im Sinn des Subsidiaritätsprinzips. Völlig wahr ist er trotzdem nicht, weil immer noch etwas stark vom Glauben an das Gute im Menschen getragen. Die Wiedererlangung der schottischen Unabhängigkeit, welche sicher keine Gefahr für Europa dargestellt hätte, konnte auch deswegen nicht klappen, weil ein subsidiärer Staatsaufbau weder in England noch in Schottland bislang eingespielt war. Bei meinem letzten Schottlandaufenthalt, schon länger zurückliegend, sagte mir eine schottische Nationalistin, sie könnten nicht mal ein Opernhaus bauen ohne die Zustimmung von Westminster. Die Frage ist, was die in Panik abgesonderten Mitbestimmungsschwüre der Zentralregierung nun aber fruchten.

    Das Argument der Ja-Stimmer, in Glasgow und Dundee, «Nie wieder Torys», greift als rein parteipolitische Losung für eine Entscheidung von solcher Tragweite zu wenig.

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