Die «grosse Schlacht» in Afrin steht unmittelbar bevor
Die kurdische Autonomieverwaltung der nordsyrischen Stadt Afrin hat mit einem dringlichen Appell letzten Sonntag den UN-Sicherheitsrat dazu aufgerufen, Massaker der türkischen Besatzungsarmee an der Zivilbevölkerung zu verhindern. Türkische Truppen und ihre verbündeten syrischen Milizen stehen seit vergangenem Freitag unmittelbar von den Toren dieser Stadt im äussersten Nordwesten Syriens. Bei ihrem Vormarsch auf Afrin hatten sie den für die Agglomeration strategisch wichtigen Damm Mindaki unter ihrer Kontrolle gebracht. Der Damm versorgt Afrin mit Frischwasser und Elektrizität. Seitdem seien die Bewohner mit Wasser- und Stromunterbrüchen konfrontiert, berichtete Scheko Bello, ein lokaler Anwalt, dem Internetportal Ahval. Es gebe «Mangel an Nahrungsmitteln, an Medizin, an Treibstoff». Zudem hätten «die Bombenangriffe der türkischen Luftwaffe in den Aussenvierteln der Stadt enorm zugenommen», sagte Sulaiman Jaafar, zuständig für die Aussenpolitik Afrins, der Presse. Werden massive Bombardements und Wassermangel als Mittel eingesetzt, um die Bevölkerung in die Flucht treiben?
Angst vor einem blutigen Häuserkampf
Wie viele Menschen heute in der Agglomeration Afrin leben, ist nicht bekannt. Die UNO schätzte die Bevölkerungszahl letztes Jahr auf rund 323’000 Personen. 125’000 davon waren Flüchtlinge aus anderen Gebieten Syriens, die hier Zuflucht fanden. Noch galt die Region Afrin, die seit 2012 von den Kurden der Demokratischen Unionspartei (DYP) verwaltet wird, als einer der seltenen Flecken auf syrischem Territorium, der vom bereits sieben Jahre dauernden Krieg in Syrien verschont geblieben war. Seit dem Einmarsch der türkischen Truppen am 20. Januar trieben aber immer mehr neue Flüchtlinge aus der Provinz in die Stadt.
Seit die türkischen Truppen bis zu den Toren von Afrin vorgerückt sind, befürchtet die kurdische Autonomieverwaltung, ihrer Stadt könnte ein blutiger Häuserkampf mit vielen Opfern auch unter der Zivilbevölkerung bevorstehen. Denn neben regulären türkischen Streitkräften wurden seit Anfang März auch Spezialeinheiten der Gendarmerie und Polizei im Kampf um Afrin eingesetzt. Als «Albtraum der Terroristen» werden diese von der türkischen Presse gepriesen. In Wirklichkeit handelt es sich um die berüchtigten Elitetruppen des türkischen urbanen Anti-Terrorkampfs, die im Herbst 2015 die Revolte der PKK in den kurdischen südostanatolischen Provinzen der Türkei blutig niederschlugen. Auf den Einsatz dieser Spezialtruppen wird zurückgeführt, dass die historische Altstadt von Diyarbakir «Sur» in Trümmern verwandelt, in den Provinzen Nusaybin und Cizre Tausende Gebäude zerstört und über eine halbe Million Menschen in die Flucht getrieben wurden. Werden sie tatsächlich den Vormarsch in die Stadt wagen und damit ein Blutbad auch unter Zivilisten riskieren?
Kurdenkonflikt mit Waffen lösen – eine Illusion
«Afrin befindet sich unter türkischer Belagerung», triumphierte letzten Freitag in Ankara der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. Der Ansturm auf die Stadt stehe unmittelbar bevor. Dass er gleich danach beteuerte, die Türkei werde Afrin wieder aufbauen, verstärkt nur noch die Angst in der Stadt.
Die Türkei hat am 20. Januar den Einmarsch ihrer Truppen ins Nachbarland befohlen und berief sich dabei auf das Recht auf «Selbstverteidigung». Die UN-Charta räumt dieses Recht ein «im Fall eines bewaffneten Angriffs gegen ein Mitglied der Vereinten Nationen». Ankara betrachtet die im Nordsyrien und Afrin dominierende kurdische Partei und ihre Milizen der YPG als eine Verlängerung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die seit 1984 die wohl längste Revolte der Kurden in der Geschichte der Republik Türkei führt. Kein anderer Konflikt hat der Türkei mehr Leid gebracht und einen höheren Tribut an Menschenleben, Finanzmitteln, Ansehen und Selbstachtung gefordert als der Kurdenkonflikt.
Doch kann der Kurdenkonflikt der Türkei tatsächlich so gelöst werden, indem die türkische Armee jedes Mal in den Nachbarländern Bewegungen zu «säubern» sucht, die Ankara der PKK ähnlich zu sein scheinen? Zu glauben, dass eine militärische Zerschlagung der YPG in Afrin die über 15 Millionen Kurden der Türkei längerfristig «befrieden» könnte, dürfte wohl eine Illusion sein. Darüber hinaus hat die Türkei nicht einmal ihren engsten Alliierten in der NATO glaubhaft machen können, dass die kurdische Miliz der YPG von ein paar Tausend Mitgliedern tatsächlich eine existenzielle Gefahr für die hochgerüstete Türkei mit der zweitgrössten Armee der NATO darstelle.
Kritiker in Ankara befürchten, dass ein mögliches Massaker in Afrin ihr Land aussenpolitisch noch weiter in die Isolation treiben könnte. Journalistische Quellen behaupten, dass selbst höhere türkische Generäle Erdogan vor einem schnellen Ansturm auf die Stadt gewarnt haben.
Kurden vertreiben, syrische Flüchtlinge ansiedeln
«Heute rücken wir in Afrin vor, morgen in Manbidsch und dann bis an die Grenze zu Irak», gibt Erdogan sein Ziel an. Sein Aussenminister Mevlüt Cavusoglu ergänzt, dass eine gemeinsame Operation der türkischen und irakischen Streitkräfte im Irak gegen die PKK gleich danach bevorstünde. Beide Politiker verkörpern den Flügel der Falken innerhalb der regierenden Partei in der Türkei. Beide nehmen eine lange Präsenz der Türkei in Nordsyrien in Kauf. Dabei dient ihnen «Jarablus» als nachahmenswertes Beispiel auch für Afrin.
Die nordsyrische Stadt Jarablus wurde von türkischen Truppen im Sommer 2016 eingenommen und inzwischen zum militärischen und administrativen Zentrum der Türkei innerhalb des syrischen Territoriums umgebaut: Unmittelbar nach der Besetzung des Streifens Jarablus, Al-Bab und Azaz wurden zunächst rund 150’000 syrische Flüchtlinge aus der Türkei im Gebiet angesiedelt. Aus diesen Flüchtlingen rekrutiert die türkische Armee die Mitglieder der türkeifreundlichen syrischen Truppen und bildet sie in Jarablus aus, genauso wie die Kräfte einer neuen von Ankara abhängigen Polizei. In den Schulen von Jarablus wird türkisch als erste Fremdsprache unterrichtet und in den Moscheen Predigten vorgelesen, die das türkische Amt für Religionangelegenheiten (Diyanet) geschrieben hat. Die Löhne für Beamte, Lehrer, Imame und Polizisten werden direkt von Ankara mittels der türkischen Post oder der türkischen Banken in Jarablus überwiesen.
Die Türkei werde das «befreite Afrin» seinen «ursprünglichen Bewohnern» zurückgeben, verkündet Erdogan wiederholt und verspricht, 350’000 syrische Flüchtlinge aus der Türkei in Afrin anzusiedeln. Der Journalist Fehim Tastekin spricht von der Planung einer «massiven demographischen Veränderung» im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Demnach sollen die Kurden Afrins vertrieben und an ihrer Stelle Mitglieder turkmenischer Stämme angesiedelt werden. Tasketin wird allgemein als ein guter Kenner der Materie respektiert.
Der Westen lässt Erdogan gewähren
Die Kurden würden «Afrin bis zum letzten Mann/Frau verteidigen», sagte Sulaiman Jaafar, der in den letzten Jahren für die Aussenpolitik Afrins zuständig war, der Presse. Die Kurden Afrins wissen allerdings, dass sie dabei allein auf sich gestellt sein werden. Anders als in Kobane 2014, als Dschihadisten des IS das kurdische Städtchen belagerten, bleiben diesmal die Grossakteure im Syrienkrieg Afrin fern.
Russland hat den Luftraum über Afrin auch 53 Tage nach dem Einmarsch der Türkei für türkische Kampfflugzeuge nicht gesperrt. Ohne den massiven Einsatz der türkischen Luftwaffe hätten die türkischen Truppen kaum bis Afrin vorrücken können. Mit dem Argument, Afrin befände sich ausserhalb der amerikanischen Einflusssphäre, zucken die USA nur mit der Schulter und wollen es mit der Türkei nicht ganz verderben. Die UNO scheint ihr Hauptgewicht auf das Elend in Ost-Ghuta gelegt zu haben. Und die Reaktion der EU, die gegen den völkerrechtswidrigen türkischen Einmarsch als moralische Institution hätte auftreten können, bleibt lauwarm.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
UNO und Moral ? Das war einmal. In Afrin werden «nur» 300’000 Zivilisten – alles «Terroristen» – bedroht, in Ost Ghouta immerhin 400’000 «freiheistliebende» Mitglieder ehemaliger US-Allierten der Al-Khaida…. Die Arithmetik der «Westmächte» ist erstaunlich. So zynisch war seit dem Irak-Krieg niemand mehr.
Ein bisschen Gas in Salisbury ist natürlich viel schrecklicher als hunderte von Drohnenangriffen im Jemen oder Pakistan oder… Saudi-Bomben im Jemen fallen auch auf der richtigen Seite der Öl-Rechnung.
Selbst Tillerson verliert sein Latein. Und Glencore wird wohl weiter gut verdienen.
Alle schauen zu und niemand sieht etwas. Sollen wirklich die Türken die Greueltaten der Fränkischen Kreuzfahrer im benachbarten Attakiya wiederholen ?