Die gefährlichen Gefangenen in Kurdistan
Am 20. Januar überfielen Kämpfer des sogenannten Islamischen Staats (IS) ein Gefängnis im Nordosten Syriens. 100 Gefangene entkamen aus der Haftanstalt Al Sina in Al Hassaka. Einige nahmen Geiseln und verschanzten sich in der Nachbarschaft. Die Kämpfe dauerten zehn Tage und forderten 500 Menschenleben, davon mehr als 100 Angestellte des Gefängnisses und Angehörige der Syrian Democratic Forces (SDF).
Die kurdische Autonomiebehörde hatte lange vor solchen Szenarien gewarnt, während die Islamistenorganisation in der Weltöffentlichkeit langsam in Vergessenheit geriet. Auch Beobachter wie die Vereinten Nationen warnen vor einem Wiedererstarken der Terrormiliz und gehen davon aus, dass tausende IS-Dschihadisten im Irak und in Syrien weiter aktiv sind.
Zehntausende Gefangene in Lagern und Gefängnissen
«Der Konsens ist, dass der Islamische Staat im Nordosten Syriens nie besiegt werden wird. Es wird immer Schläferzellen im Irak und in Syrien geben und sie werden immer mehr oder weniger eine Bedrohung darstellen», sagt Diana Semaan, Syrien-Forscherin bei Amnesty International zum «Intercept», der sich mit den Gefangenen in Nordostsyrien auseinandergesetzt hat.
Das Schicksal der etwa 10’000 Gefangenen, die mutmasslich für den Islamischen Staat gekämpft haben, ist auch drei Jahre nach dem Fall des Kalifats unklar. Dazu werden zehntausende Familienangehörige ehemaliger IS-Kämpfer in Flüchtlingslagern wie Al Hol (oder Al Haul) und Roj festgehalten. Der Grossteil der Internierten hat die irakische oder syrische Staatsbürgerschaft, etwa 10 bis 15 Prozent sind Angehörige von bis zu 60 anderen Staaten, die meisten sind Kinder.
Gefangen im juristischen Niemandsland
Das Militärbündnis SDF konnte einen Grossteil der Geflohenen aus Al Sina nach eigenen Berichten wieder festsetzen. Die verbliebenen Gefangenen wurden in ein anderes Gefängnis verlegt. Wie viele schlussendlich entkommen sind, darüber gibt es widersprüchliche Angaben, wie auch bei den Opferzahlen. Vor dem Angriff waren etwa 4000 bis 5000 Gefangene in Al Sina inhaftiert, davon 700 Jugendliche. Wie viele Minderjährige beim Angriff auf das Gefängnis getötet wurden, ist unklar.
Begonnen hat ihre Gefangenschaft meist 2019, als die SDF beim Untergang des Kalifats jeden gefangen nahmen, der mutmasslich für den Islamischen Staat gekämpft hatte. Seither sitzen sie in überfüllten Lagern und Gefängnissen. Ohne Prozess, ohne Urteil, auf unbestimmte Zeit.
Wie Guantanamo in gross, nur schlimmer
Was macht man mit zehntausenden Gefangenen einer Terrororganisation? Eine Frage, die bisher nicht beantwortet ist. Insofern sind die Gefängnisse und Lager in Nordost-Syrien so etwas wie Guantanamo in gross, nur schlimmer. In Guantanamo gibt es weder Frauen noch Kinder.
In den Gefängnissen starben wegen der schlechten Bedingungen bereits hunderte Insassen. Die Zustände in den Lagern sind so schlecht, dass sie an Folter grenzen, sagen die UN. Im letzten Jahr gab es in Al Hol 90 Morde, zwei davon an humanitären Helfern. Wie viele Menschen dort an Krankheiten, Kälte und Hunger starben, ist nicht bekannt. Jungen werden von ihren Müttern getrennt und bis zum 18. Altersjahr und in Heimen untergebracht, aus Furcht davor, dass sie sich radikalisieren. Hunderte Jugendliche wurden in Gefängnissen wie Al Sina eingesperrt.
Nur wenige Länder haben bisher Verantwortung übernommen
Verbindliche Regelungen für den Umgang mit IS-Gefangenen gibt es nicht. Von den 60 Ländern, die die SDF beim Kampf gegen den Islamischen Staat unterstützten, haben bisher nur wenige Verantwortung übernommen.
Es gibt finanzielle Hilfen zum Bau von Gefängnissen und zum Unterhalt von Lagern, sonst sind die SDF und die kurdische Verwaltung auf sich allein gestellt. Eine enorme Aufgabe, die sie kaum bewältigen können.
Die SDF müssen nicht nur die IS-Terrorzellen abwehren, sondern auch ein Netz anderer Akteure, die in dem Gebiet um Einfluss kämpfen. Dazu gehören das syrische Regime, die Türkei, Russland und die vom Iran unterstützten Milizen. Neben den Gefangenen des Islamischen Staates leben in dem Gebiet auch fast 700’000 Binnenvertriebene. Es fehlt an ausgebildetem Personal, sicheren Gebäuden und Geld.
Beobachter bestätigen, dass die SDF alles tun, was möglich ist. Das sei allerdings keine Entschuldigung für die Zustände in den Gefängnissen und Lagern.
Eine tickende Zeitbombe
Neben Kämpfern gibt es noch die «zivilen» Helfer, die den Islamischen Staat am Laufen gehalten haben. Was aus ihnen und den vielen Kindern in den Lagern wird, die kein Verbrechen begangen haben, ist unklar.
Die Repatriierung von Kindern ohne ihre Eltern widerspräche den Menschenrechtskonventionen. Das gilt aber auch für die unbegrenzte Inhaftierung ihrer Eltern und die Zustände in den Gefängnissen und Flüchtlingslagern.
Im ungünstigsten Fall sind diese IS-Anhänger und ihre Nachkommen eine tickende Zeitbombe, die nicht aufhört zu ticken, wenn man sie ignoriert. Es gab in jüngerer Zeit bereits andere Überfälle, die der Terrororganisation zugerechnet werden.
So überfielen Bewaffnete am 22. Januar eine Militärbasis in der Provinz Dijala, 60 Kilometer von Bagdad und töteten elf Soldaten. In den Lagern gibt es regelmässig Aufstände. Im Februar griffen griffen Frauen in Al Hol die Lagerwächter mit Steinen und Messern an. Ein Kind starb.
Kein Gericht ist zuständig
Eine politische Lösung gibt es bisher nicht. Ein kleiner Teil der ausländischen Gefangenen wurde in ihre Heimatländer zurückgeführt, grösstenteils Kinder. Wer den Gefangenen den Prozess machen könnte, ist nicht festgelegt. Der Internationale Strafgerichtshof hat keinen Zugriff auf Irak oder Syrien.
Die kurdische Autonomiebehörde beziehungsweise die SDF und der SDC (Syrian Democratic Council) sind erstens Konfliktpartei und zweitens kein Staat. Eine eigene Gerichtsbarkeit haben sie nicht, das ist nach der Genfer Konvention verboten. Die Strafverfolgung durch syrische und irakische Gerichte entspricht nicht den internationalen Menschenrechtsstandards.
Eine internationale Organisation, die feststellen könnte, welche Verbrechen die Gefangenen begangen haben, gibt es nicht. Der Syrian Democratic Council wäre mit einer solchen Aufgabe überfordert.
Praktische Lösungen: von Freilassung bis Todesstrafe
Praktische Lösungen sahen bisher so aus, dass tausende mutmassliche syrische IS-Kämpfer im Rahmen einer Amnestie in ihre Dörfer zurückkehren durften. Diese übernahmen teilweise Garantien für die Entlassenen. Einige Opfer des IS kritisierten diesen Schritt. Anderen ehemaligen IS-Kämpfern wurde im Irak der Prozess gemacht, bei einigen wurde die Todesstrafe verhängt. Am rechtsstaatlichen Ablauf der Prozesse gibt es erhebliche Zweifel.
Immer wieder haben verschiedene Organisationen an die Heimatländer ausländischer IS-Angehöriger appelliert, ihre Staatsangehörigen zurückzunehmen. Bislang mit wenig Erfolg. Nur 28 Länder haben überhaupt Gefangene zurückgenommen, die meisten aus Zentralasien.
Europäische und nordafrikanische Länder mauern bei der Rückführung
Europäische und nordafrikanische Länder haben nur wenige ihrer Bürgerinnen und Bürger zurückgeholt, Usbekistan fast hundert. Australien, Dänemark und Grossbritannien entzogen dazu einigen Personen die Staatsbürgerschaft, was sie praktisch staatenlos machte. Einzig die USA sagen, sie hätten alle Bürgerinnen und Bürger repatriiert. Die ersten Gerichtsverfahren haben bereits begonnen.
Europäische Staaten argumentieren mit rein praktische Problemen, weil sie keine konsularische Vertretung vor Ort haben. Khaled Davrisch, Vertreter Rojavas in Deutschland, hält dieses Argument laut dem «Deutschlandfunk» allerdings für vorgeschoben.
Die schätzungsweise zehn Prozent ausländischen Inhaftierten in ihre Heimatländer zurückzubringen und ihnen dort den Prozess zu machen, wäre keine Gesamtlösung, doch würde es die Lage der anderen Gefangenen verbessern. Bis sich die internationale Gemeinschaft einigt, was mit ihnen geschehen soll.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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