Die Bewohner der Krim sollen ihre Zukunft selber bestimmen
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist in Artikel 1 der Uno-Charta verankert. Und Artikel 1 des ersten Uno-Pakts hält fest:
«Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.»
Seit Präsident Donald Trump die Krim Russland definitiv überlassen möchte, gehen die Wogen hoch. «NZZ»-Auslandkorrespondent Volker Pabst schrieb am 26. April von einer «offiziellen amerikanischen Billigung des russischen Landraubs». Es sei «von zentraler Bedeutung», dass die Krim nicht als Teil Russlands anerkannt werde, sagte die EU-Aussenbeauftragte Katja Kallas.
Doch die jüngste Geschichte der Ukraine ist differenzierter.
Einvernehmliche Lösung
Um einem Ende des Krieges und einer einvernehmlichen Lösung zwischen der Ukraine, dem Westen und Russland näherzukommen, hatte Andreas Zumach schon im Oktober 2021 vorgeschlagen, die Krimbewohner über ihre Zukunft selbst bestimmen zu lassen. Zumach war viele Jahre Korrespondent bei der Uno in Genf.
Eine neue Volksabstimmung müsse jedoch unter anderen Rahmenbedingungen als die Abstimmung vom März 2014 stattfinden. Die Bevölkerung solle nicht nur wählen können zwischen «alter Status Quo» oder «Abspaltung von der Ukraine und Beitritt zu Russland», sondern auch über die Option einer Autonomie. Hier Zumachs Vorschlag:
- Die Abstimmung wird von der Uno oder der OSZE durchgeführt, überwacht und ausgezählt.
- Neben dem Verbleib zur Ukraine oder dem Verbleib in der russischen Föderation solle dem Volk die folgende dritte Option vorgelegt werden: Ein formeller Verbleib im Staat Ukraine, aber mit weitgehendster Autonomie. Diese müsste umfassen:
a. Sprachliche Autonomie: Amtssprache Russisch, gemäss der 58-prozentigen russischstämmigen Bevölkerungsmehrheit vorzugsweise sogar als erste Amtssprache;
b. Kulturelle Autonomie: russische Radio- und TV-Sender, Schulbücher, Strassenschilder etc.;
c. Administrative Autonomie: weitgehende Selbstverwaltung, keine hierarchisch-zentralistische Verwaltung durch Kiew;
d. Finanzielle Autonomie: das Recht, Steuern einzuführen, deren Erträge im Autonomiegebiet verbleiben.
Falls das Volk auf der Krim sich nicht für eine solche Autonomie, sondern für einen Verbleib in der russischen Föderation entscheiden sollte, wäre die Abspaltung von der Ukraine auch völkerrechtlich einwandfrei anerkannt.
Im Völkerrecht steht der Souveränität der Staaten das Selbstbestimmungsrecht der Völker gegenüber. Der tatsächliche Wille des Grossteils der Bevölkerung sollte nicht ignoriert werden.
Kiew und der Westen befürchten offensichtlich, dass die Einwohner der Krim bei einer geordneten, fairen und überwachten Abstimmung eine Abspaltung von der Ukraine befürworten. Aus diesem Grund haben sie eine solche Abstimmung nie vorgeschlagen.
Eckdaten zur jüngsten Geschichte der Krim

upg. Die Grenzen, auf deren Einhaltung die jetzige ukrainische Regierung besteht, wurden durch Josef Stalin und Adolf Hitler geschaffen und im Fall der Krim durch Nikita Chruschtschow, der die Krim der Ukraine rechtswidrig schenkte. Es sind keine Grenzen, deren Verlauf erkämpft oder durch öffentliche Referenden bestimmt wurde.
Als die Ukraine im Jahr 1991 von Moskau unabhängig wurde, gewährte Kiew der Krim vorerst eine Autonomie mit einer eigenen Verfassung und einem eigenen Parlament. Doch im Jahr 1994 stutzte eine ukrainische Verfassungsreform die Autonomierechte der Krim kräftig. Als Reaktion darauf sprach sich eine grosse Mehrheit der Krimbewohner in einer Volksabstimmung sowohl für eine weitgehende Unabhängigkeit als auch für eine doppelte Staatsbürgerschaft Ukraine/Russland aus.
Darauf zwang die Regierung in Kiew die Krim, sich von der revidierten Verfassung wieder loszusagen.
Nach dem Putsch in der Ukraine, der Vertreibung des russlandfreundlichen Präsidenten Wiktor Janukowytsch am 22. Februar 2014 und der Installierung einer Nato-freundlichen Regierung in Kiew kam es auf der Krim zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen ukrainischen Statthaltern und prorussischen Demonstranten.
Putschartig und mit Unterstützung Russlands wählte das Krim-Parlament, welches es seit der im Jahr 1991 zugestandenen Autonomie bereits gab, am 27. Februar 2014 den Abgeordneten Sergej Aksionow zum «Ministerpräsidenten der Autonomen Republik Krim». Ebenfalls mit russischer Unterstützung wurden die ukrainischen Statthalter auf der Krim gestürzt.
Es handelte sich um eine ungeordnete Abspaltung der Krim von der Ukraine. Die Sezession verstiess gegen die ukrainische Verfassung und gegen das «Budapester Memorandum» aus dem Jahr 1994, in dem die Vertragsmächte die territoriale Integrität der Ukraine garantierten.
Kurz darauf, am 16. März 2014, organisierten eine Übergangsregierung und das Parlament auf der Krim ein Referendum, das nach ukrainischem Recht illegal war. Bei einer offiziell hohen Beteiligung stimmten über 90 Prozent für einen Beitritt zur russischen Föderation. Auch wenn die Abstimmung überstürzt und mit einigen Unregelmässigkeiten stattfand, steht fest, dass eine deutliche Mehrheit der Krim-Bevölkerung die Sezession von der Ukraine und den Anschluss an die russische Föderation befürwortete.
Russland nahm das Aufnahmegesuch, das Ministerpräsident Aksionow sofort stellte, umgehend an. Nur zwei Tage nach der Abstimmung auf der Krim wurde ein Vertrag zum Beitritt der Krim sowie der Stadt Sewastopol als 84. und 85. Föderationsmitglieder in den russischen Staatenbund unterzeichnet und nochmals zwei Tage später von Russland ratifiziert. Die Krim betrachtet sich seither als «unabänderlicher Teil der russischen Föderation».
«Erobert», «einmarschiert» und «annektiert»
Russland habe die Halbinsel Krim «erobert» oder sei dort «einmarschiert». Das haben Tamedia-Zeitungen wie der «Tages-Anzeiger» sowie die «NZZ» unwidersprochen verbreitet.
Dies suggeriert, dass es auf der Krim zu militärischen Kampfhandlungen und zu Zerstörungen kam. Beides war nicht der Fall. Es gab keinen Widerstand der Bevölkerung auf der Krim.
Besonders in Kriegszeiten sollten Medien eine sachliche Wortwahl wählen, um nicht Gefahr zu laufen, sich von der Propaganda einer Kriegspartei instrumentalisieren zu lassen.
Heikler wird es beim Begriff «Annexion».
Völkerrechtlich ist selbst bei diesem Begriff nicht alles so klar, wie es meist dargestellt wird. Einseitig ist auch die Krim-Version auf Wikipedia. Als «doppelzüngig» bezeichnete Reinhard Merkel, emeritierter Professor für Rechtsphilosophie in Hamburg, die unterschiedliche Reaktion des Westens auf die Abspaltungen der Krim und des Kosovo. Die Sezession des Kosovo sei viel ungeordneter und ohne Volksabstimmung durchgesetzt worden.
Nach der ebenfalls rechtswidrigen Sezession der Krim habe Russland das Aufnahmegesuch der Krim in die russische Föderation zwar überstürzt angenommen, aber eine «Annexion» sei es nicht gewesen. Infosperber hatte am 16. September 2019 über die Sicht Merkels berichtet (siehe «Russland hat die Krim nicht annektiert»). Die Reaktionen darauf waren zum Teil emotional heftig.
Darauf hat Infosperber am 19. September 2019 versucht, die Unterschiede zwischen Annexion, geordneten und ungeordneten Sezessionen darzustellen.
Diese Diskussion würde überflüssig, wenn die Bevölkerung der Krim in einer überwachten Volksabstimmung über ihre Zukunft selber entscheiden könnte.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
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