Der westliche Doppelstandard rechtfertigt Russlands Krieg nicht
Im Kosovo habe es im Gegensatz zum Donbas nicht einmal eine Volksabstimmung gegeben, wird gesagt. Das ist richtig. Doch einige Darstellungen und Schlussfolgerungen sind falsch.
Der Gewaltkonflikt, der seit 2014 im Donbas stattfindet, ist ein Bürgerkrieg zwischen den ukrainischen Regierungstruppen und russisch-stämmigen Milizen und Sezessionisten. Russland unterstützt sie mit Waffen, Munition und Söldnern.
Die Beobachterberichte der OSZE belegen, dass bis zur russischen Invasion beide Seiten etwa gleich stark beteiligt waren an kriegerischer Gewalt, Verstössen gegen das humanitäre Völkerrecht sowie am Nichteinhalten beziehungsweise Nichtumsetzen der Abkommen Minsk 1+2. Auch die Zahl der Opfer war laut OSZE auf beiden Seiten etwa gleich hoch.
Es wird immer wieder kolportiert, der Internationale Gerichtshof in den Haag (IGH) habe im Jahr 2010 «die Unabhängigkeit Kosovos bestätigt». Zwar stellten dies viele westliche Medien und Regierungen damals so dar. Doch der IGH hatte sich überhaupt nicht zum völkerrechtlichen Status des Kosovo geäussert, sondern lediglich auf Bitten der UNO-Generalversammlung in einem Rechtsgutachten, das völkerrechtlich nicht verbindlich ist, festgestellt, dass «die einseitige Unabhängigkeitserklärung durch die Provisorischen Institutionen der Selbstverwaltung des Kosovo» nicht gegen das Völkerrecht und gegen die Resolution 1244 des UNO-Sicherheitsrates verstosse (Siehe LTO: «Was der IGH wirklich entschied»).
Der IGH hat es unterlassen zu entscheiden, wie weit das in der UNO-Charta enthaltene Recht auf Selbstbestimmung der Völker geht und unter welchen Bedingungen ein Recht auf Sezession besteht.
Es bleibt deshalb im Fall Kosovo offen, ob es sich völkerrechtlich um einen unabhängigen Staat handelt. Eine einseitige, gegen nationales Recht verstossende Unabhängigkeitserklärung wie im Kosovo oder auf der Krim oder im Donbas hat laut diesem Gutachten nur eine innerstaatliche Bedeutung, aber vorerst keine völkerrechtliche Wirkung.
Lediglich 108 der 193 UNO-Mitglieder haben eine Eigenstaatlichkeit des Kosovo anerkannt. Auch vier EU-Staaten, nämlich Spanien, Griechenland Zypern und Malta haben das bis heute nicht gemacht.
Anders als es die NATO-Staaten dem Kosovo zubilligten, lehnen sie ein Selbstbestimmungsrecht der russischsprachigen Minderheit in der Ukraine ab und entsprechend auch ein Recht auf eine Sezession.
Einmischung von Drittstaaten in Sezessionsbestrebungen
Für Drittstaaten, die sich in den Prozess einer Sezession einmischen, sieht es völkerrechtlich wie folgt aus.
Im Fall von Kosovo verstiessen Nato-Staaten gegen das Völkerrecht, als sie Serbien ohne Beschluss des UN-Sicherheitsrats bombardierten. Über 12’000 Menschen kamen dabei ums Leben. Wirtschaftliche Sanktionen und andere Massnahmen gegen die völkerrechtswidrig handelnden Nato-Staaten wären legitim gewesen. Doch kein Land hat solche Massnahmen ergriffen.
Zwischen den Fällen NATO/Serbien/Kosovo ab 1998 und Russland/Ukraine/Donbass ab 2014 kommen eine Reihe spezifischer Unterschiede hinzu, die einer Analogie entgegenstehen.
Russland hatte und hat keine Schutzverantwortung für die russischstämmigen oder -sprachigen Bevölkerungen im Donbas, auf der Krim oder sonstwo in der Ukraine. Deshalb verstösst Russland gegen das Völkerrecht sowohl mit dem seit Februar 2022 geführten Angriffskrieg gegen die Ukraine als auch mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 und mit der Unterstützung der russischstämmigen Milizen und Sezessionisten im Donbas.
Richtig ist, dass der seit Februar 2022 geführte russische Krieg gegen die Ukraine kein Präzedenzfall war für die Anwendung militärischer Gewalt in Europa nach 1990 sowie für die gewaltsame Veränderung von Grenzen – wie von westlichen Medien und PolitikerInnen fast unisono behauptet. Der Präzedenzfall war vielmehr der NATO-Luftkrieg gegen Serbien im Jahr 1998 und die Abspaltung des Kosovo.
Der doppelte Standard des Westens ist keine Rechtfertigung für Russland
Autoren auf Infosperber haben über die Kritik an diesem NATO-Luftkrieg gegen Serbien sowie an anderen völkerrechtswidrigen Kriegen und Kriegsverbrechen westlicher Staaten wie etwa in Irak oder Afghanistan immer wieder informiert – ebenso wie über die Kritik an der Selektivität und den doppelten Standards, mit denen westliche Regierungen die seit 1945/48 universell gültigen Völkerrechts- und Menschenrechtsnormen anwenden (siehe weiterführende Informationen).
Doch alle notwendige Information und Kritik zu den Völkerrechtsverstössen und Kriegsverbrechen westlicher Staaten darf nicht dazu führen, die Verstösse und Verbrechen Russlands oder anderer Länder zu relativieren, zu verharmlosen, zu rechtfertigen oder gar zu leugnen. Wer das tut, ist mitverantwortlich für die Schwächung der universellen Normen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Danke für den klärenden Beitrag.
Vorneweg: ich habe selten gelesen/gehört, dass jemand den russischen Angriffskrieg rechtfertigt.
Was Sie hier jedoch beschönigend als Doppelstandard bezeichnen, ist eine unerträgliche Doppelmoral. Wer heute die Millionen von Toten und ein Mehrfaches von Vertriebenen verursacht durch die USA und ihre Verbündeten anprangert, wird mit dem Killerargument «Whataboutismus» abgekanzelt und in die Ecke der «Putin-Versteher» gestellt.
Ich denke auch, dass Meinungsäusserungen, die historische Bezüge herstellen, heutzutage sehr zielgerichtet verunglimpft werden. Wenn die Reflexionen über eine Doppelmoral unserer Wertegemeinschaft permanent diskreditiert wird, sind wir bald bei 1984 mit seinem Wahrheitsministerium.
Grundsätzlich kann ich Herrn Zumach nur Recht geben, möchte seine Argumentation aber um Aspekte erweitern:
1. Geschichte: Wie ist die Ukraine zustande gekommen? Wie sind die ehemals russischen und auch heute noch von mehrheitlich russischstämmigen Menschen bewohnten Gebiete zur Ukraine gekommen? Die Verschwendung der Krim?
2. Apartheid: Die Ukraine tendiert schon seit vielen Jahren zur Unterdrückung von ethnischen Minderheiten. Auch jetzt äußern Regierungsvertreter immer wieder die Absicht, das gesamte Gebiet der Ukraine zurück haben zu wollen – ohne die Russen. Das läßt sich nur als Aufruf zu Genozid oder Vertreibung werten.
3. Geopolitik: keine Atommacht kann die Raketen einer anderen Atommacht direkt vor der Haustür dulden, da sie dem Gegner eine Übermacht gibt und den Atomkrieg möglicher macht. Deshalb waren sowohl Gorbatschow als auch Jelzin gegen eine Ausdehnung der NATO.
4. die vergeblichen Anstrengungen Russlands 2021, den Krieg zu vermeiden.
Dann wird es komplizierter …
Mich erschrecken die 50% die den Artikel von Andreas Zumach für nicht nützlich bezeichnen (18.06.23 17:00 Uhr) . Da versucht jemand ein objektives Bild unter Abwägung von Fakten für und wider zu zeichnen und das passt offensichtlich nicht ins Weltbild der Hälfte der Sperber-LeserInnen.
Ja, es gibt einen grossen Imperialismus – man beobachte den aggressiven Eskalationskurs der USA gegen China – aber es gibt auch kleinere (Regional-?) Mächte, wie Russland, die, anstatt Argumente zu liefern, zu überzeugen und (z. B. in der UNO) Solidarität einzufordern, ihrerseits nur Waffengewalt kennen. Bei aller Berechtigung auf Sicherheitsgarantien zu beharren und keine NATO-Raketenbatterien an der eigenen Grenze zu wollen, Russland hat nicht wirklich den Versuch unternommen, diesen Krieg zu vermeiden.
Nichts rechtfertigt, den Raketenbeschuss von Wohngegenden, nicht in Afghanistan, nicht in Serbien nicht in Gaza nicht in der Ukraine!
Präsident Putin sagte, es sei für Russland eine Frage von Leben und Tod. Gorbi (im Westen umjubelt 1990, als er gab; später nicht mehr umjubelt, als er «um die Leben der russischen Kinder bittend» https://www.youtube.com/watch?v=IipaGt9WmcE&t=160s sich beklagte): das sei der Dank für seine Friedensinitiative, dass «die USA ihre Atomraketen» an «meinen Gartenzaun» stellen (SRF 17.9.2014 https://www.youtube.com/watch?v=D_m1EB9YsZY&t=232s ).
Dies ist eine der Meinungen, die für den Westen alles rechtfertigt, für Russland aber nichts. Der Artikel zeigt uns auch, dass es im Internationalen Recht in vielen Bereichen keine einheitliche Auslegung gibt, respektive sich die Auslegung nach den jeweiligen nationalen (geo)politischen Interessen richtet.
Minsk-2 war Internationales Recht (UNSEC Resolution), es wurde von Kyiv und dem Westen nicht nur gebrochen, sondern Kyiv, Paris, London gaben alle zu, dass sie sich von Anfang an nicht daran zu halten gedachten, sondern nur Zeit für die Wiederbewaffnung der Ukraine gewinnen wollten.
Im Gegensatz dazu sind die EU/US Wirtschaftsanktionen KEIN Internationales Recht, nach diesem sind sie sogar illegal, weil solche Boykotte nur vom UNSEC beschlossen werden können. Interessiert aber niemanden, man setzt sie um, weil angeblich ‹Internationales Recht› vorliege.
Die NATO und die USA kümmert Internationales Recht nur soweit wie es genutzt werden kann, die eigenen Interessen durchzusetzen.
Man muss das bindende Völkerrecht von UNO-Resolutionen, von internationalen Verträgen etc. unterscheiden.
Ich gehe mit Herrn Zumach einig: Nichts kann diesen Überfall Russlands rechtfertigen. Vergessen hat er – oder will es nicht erwähnen – dass dem militärischen Einschreiten der NATO ohne Mandat des UNO-Sicherheitsrats ein mörderischer Konflikt vorangegangen war, mit dem Völkermord in Sarajewo und der jahrzehntelangen Unterdrückung der albanischen Bevölkerung durch die serbisch dominierte Staatsmacht in Kosovo. Es wurden übrigens nicht 12’000 Menschen durch die NATO-Bombardierungen getötet, sondern laut Humanitarian Law Center gab es insgesamt in diesem Krieg folgeden Opfer:
13,517 (10,792 AlbanerInnen, 2,197 SerbInnen, 528 Roma, Bosniaken und Angehörige anderer nicht-albanische Gruppen. Nach dem Report der „The Independent International Commission on Kosovo» gab es durch die NATO-Angriffe 164 Tote.
Niemand der an Frieden interessiert ist, rechtfertigt den Angriff Russlands auf die Ukraine; da werden sich die meisten wohl einig sein. Mit diesem Mantra ist aber nicht getan. Die Realpolitik verlangt immer einen Interessenausgleich zwischen Groß- und Supermächten, ohne das wird es keinen Frieden geben: man kann zurück auf das Altertum und den jahrhundertelangen Konflikt zwischen Römischem Reich und den Parthern schauen. Beide Seiten unternahmen monströse militärische Anstrengungen, um genau gar nichts zu erreichen. Eroberungen wurden schnell wieder zunichtegemacht. Großsprecherei durch demütigende Niederlagen gestraft. Dann und wann errreichten beide einen Interessenausgleich, z.Bsp. wer Einfluß auf den Zankapfel Armenien nehmen durfte, erst dann kam es zum Frieden. Wenn zwei Superblöcke gegeneinander kämpfen, gibt es keine militärische Lösung. Das ist der einzige Leitfaden in diesem Konflikt: Verhandeln, besser spät als nie.
Ich frage mich, was die Objektivierung und Relativierung bringen soll. Kriege beruhen nicht auf Fakten, sondern auf emotionalem Handeln. Es gibt auch keine Wahrheit – sie ist ein momentaner Zustand,, den eine Mehrheit als richtig ansieht. Damit gilt es sich für einen Waffenstillstand auseinanderzusetzen Diese Zustandsbeschreibung ist im Buch Kriegsfolgen von Hannes Hofbauer et al. trefflich wiedergegeben
Unabhängig davon, ob hier mit zweierlei Maß gemessen wird oder nicht, und ohne die russische Invasion zu rechtfertigen, ist die völkerrechtliche Situation bei weitem nicht so eindeutig, wie der Autor annimmt. Ich habe mir die Mühe gemacht, die Argumente hier aufzulisten. Bilden Sie sich Ihre eigene Meinung!
https://medium.com/@felixabt/wie-selensky-daran-gehindert-wurde-frieden-im-donbass-zu-schlie%C3%9Fen-f2dbef806ad
Besten Dank für diese Dokumentation.
Ich stimme zu, man kann etwas Falsches mit etwas ebenso Falschem begründen.
Auch der IRAK2 Krieg war falsch und fusßte auf einer Lüge «Weapons of Massdestruction» deswegen sind aber nicht plötzlich alle Kriege die auf einer Lüge basieren gerechtfertigt.
Es ist mir unerklärlich, wie Menschen die wie ich sich gegen den Irakkrieg aussprachen nun den russischen Angriff legetimieren.
Soll die Ukraine für den Irak büßen?
Falsche Frage.
Richtig wäre: warum werden die USA nicht zur Rechenschaft gezogen, gleich wie das mit Russland geschehen muss.
Ich fordere: Gleiches Recht für alle. Ich frage: Warum sah und sehe ich diese Art von «Mobbing» in vielen Westmedien (heutige Schlagzeile Der Bund: «Das Netz der Putin-Freunde Eine Spur führt in die Zürcher Altstadt»), während ich das Pendant «Das Netz der Bush-Freunde Eine Spur führt in die Zürcher Altstadt» vermisse. (Hinweis: Den Name Bush kann man durch den jedes USA-Präsidenten einsetzen, Obama und Trump bombten meines Wissens sogar noch mehr als Bush.)
Gibt es etwas, das den Krieg rechtfertigen könnte ?
Irgendwie haben unsere Philosophen den Grund unter ihren Füssen verloren.
«Ich muss Dich töten, weil Dein Grossvater meinen Grossvater getötet hat.»
So oder ähnlich habe ich es oft in Ostafrika gehört. Die Mär der Erbfeindschaft ist das Pendant in Europa.
Verdun oder Ostukraine ? Hat niemand aus der Geschichte etwas gelernt ? Ost-Kivu, Itturi, Darfor…
Was die Weissen in der Ukraine abspielen, ist das unglaubliche Szenario menschlichen Unverstandes. «Africa addio» war ein unerträgliches Szenario der 60er Jahre. Die aktuelle Geschichte zeigt, dass niemand was aus der Geschichte gelernt hat.
Enfin, gewisse Szenen des Films «Africa addio» finden sich bereits in den Reliefs der Nordmauer des Ramsestempels in Luxor.
Unmenschliche Grausamkeit hat Geschichte.
Der Umkehrschluss gilt offensichtlich nicht: «Doch alle notwendige Information und Kritik zu den Völkerrechtsverstössen und Kriegsverbrechen Russlands darf nicht dazu führen, die Verstösse und Verbrechen westlicher Staaten zu relativieren, zu verharmlosen, zu rechtfertigen oder gar zu leugnen. Wer das tut, ist mitverantwortlich für die Schwächung der universellen Normen.» Ist das nicht Doppelmoral?