Der US-Präsident regiert mit Jahrzehnte altem Notrecht
Am 18. Juli 2023 hat der US-Kongress fünf Vorschläge abgelehnt, deren Annahme nationale Notstandsbefugnisse zugunsten des Präsidenten aufgehoben hätte. Einige reichen bis ins Jahr 2003 zurück Zu den betroffenen Ländern gehören Kongo, Jemen, Libyen, Syrien und Irak.
In Bezug auf diese Länder kann der Präsident weiterhin Dutzende von Sondervollmachten anwenden. Er kann beispielsweise drastische Wirtschaftssanktionen, also auch einen Wirtschaftskrieg, verhängen, Vermögenswerte einfrieren oder Reisebeschränkungen erlassen, ohne den Kongress zu fragen.
Das «Brennan Center for Justice» schreibt: «Präsidenten verfügen während eines ausgerufenen Notstands über eine schwindelerregende Bandbreite an Befugnissen. […] Das Gesetz erlaubt dem Präsidenten, Notfälle auszurufen, ohne dass er dafür mehr tun muss als seine Unterschrift auf eine Durchführungsverordnung zu setzen. Er kann diese Notstände jedes Jahr aufs Neue verlängern. Der Kongress kann einen Notstand zwar beenden, benötigt dafür aber eine vetosichere Mehrheit [von zwei Dritteln].»
Das Gesetz für nationale Notstands-Situationen (National Emergencies Act) war 1976 verabschiedet worden, um die Befugnisse des Präsidenten bei der Ausrufung von nationalen Notlagen zu regeln. Zu den Befugnissen gehören beispielsweise die Einberufung amerikanischer Bürger in den aktiven Dienst; das Beschlagnahmen von Radio- und Fernsehsendern, das Einfrieren von Bankkonten sowie ausgedehnte Sanktionen gegen Länder, Unternehmen und Personen.
Das Gesetz schreibt zwar vor, dass der Präsident den Notstand jedes Jahr verlängern muss, und dass der Senat und das Repräsentantenhaus alle sechs Monate über eine Verlängerung eines nationalen Notstands abstimmen müssen.
Insgesamt sind gegenwärtig etwa dreissig Notstandserklärungen von US-Präsidenten in Kraft. Trotz der gesetzlichen Vorschrift hat der Kongress praktisch noch nie alle sechs Monate darüber beraten und abgestimmt, um den Notstand zu verlängern oder ihn mit einer Zweidrittelsmehrheit zu beenden.
USA Patriot Act
Ausser dem National Emergencies Act ist auch noch der «USA Patriot Act», auch «Terror Act» genann, teilweise in Kraft. Der US-Kongress beschloss ihn nach dem Anschlag vom November 2001. Er gibt dem Präsidenten, der CIA und anderen Staatsorganen weitreichende Kompetenzen, die der demokratischen Kontrolle entzogen sind. Die Massenüberwachung von Telefongesprächen wurde im Jahr 2015 nach den Enthüllungen von Edward Snowden eingeschränkt.
Am 18. Juli 2023 ging es im US-Kongress nicht um den Patriot Act, sondern um Notfall-Kompetenzen für den Präsidenten aufgrund des National Emergencies Act.
Irak als nationaler Notfall für die USA
Der republikanische Kongress-Abgeordnete Eli Crane, ein Irak-Kriegsveteran, schlug in einer Resolution vor, die nationalen Notstandsvollmachten, die Irak betreffen, zu beenden. Sie waren nur wenige Monate nach der US-Invasion 2003 in Kraft gesetzt worden. Die Regierung Biden verlängerte zuletzt im Mai 2023 die nationale Notstandsbefugnis: Der Präsident kann weiterhin Truppen im Irak stationiert lassen, weitere Truppen entsenden oder Verbündete militärisch unterstützen. Er kann die irakische Ölförderung sichern, Wirtschaftssanktionen verhängen und Vermögenswerte einfrieren.
Jemen als nationaler Notfall für die USA
Der republikanische1 Kongressabgeordnete Paul A. Gosar aus Arizona wollte die Notstands-Vollmachten des US-Präsidenten gegenüber Jemen aufheben: «Der ausgedehnte nationale Notstand im Zusammenhang mit Jemen blockiert die Spenden von Lebensmitteln, Kleidung und Medikamenten, die das menschliche Leid der Menschen in Jemen lindern sollen.» Tag für Tag würden schätzungsweise 130 jemenitische Kinder aufgrund der Hungersnot sterben: «Es ist unverständlich, dass der Ausruf einer ‹Notfall-Situation› genutzt wird, um der Bevölkerung eines anderen Landes zu schaden und Hunger und Krankheit zu verursachen.»
Libyen als nationaler Notfall für die USA
Zu den stets verlängerten Notstands-Ermächtigungen des Präsidenten wegen Gefahren in Libyen erklärte Gosar: «Seit 2011 stellte Libyen zu keinem Zeitpunkt eine militärische oder wirtschaftliche Bedrohung für die Vereinigten Staaten dar […] Es ist schon seltsam, dass die erweiterte nationale Notstandsermächtigung in Bezug auf Libyen weiterhin mit Muammar Ghaddafi begründet wird, obwohl Ghaddafi schon seit fast zwölf Jahren tot ist.»
Gosar fuhr fort: «Kein Präsident, egal welcher Partei, sollte einen Blankoscheck und endlose Sonderbefugnisse erhalten, mit denen er den normalen demokratischen Prozess umgehen, seine verfassungsmässigen Befugnisse überschreiten und das Gleichgewicht der Gewalten verletzen kann.»
Syrien als nationaler Notfall für die USA
Am 11. Mai 2004 hatte Präsident Bush auf der Grundlage des International Emergency Economic Powers Act und des Syria Accountability and Lebanese Sovereignty Restoration Act von 2003 den nationalen Notstand in Bezug auf Syrien ausgerufen.
Diese Notstandsermächtigung des Präsidenten wurde damit begründet, dass Damaskus den Terrorismus unterstütze, Massenvernichtungswaffen- und Raketenprogramme entwickle und die amerikanischen und internationalen Bemühungen um die Stabilisierung und den Wiederaufbau Iraks untergrabe.
Noch heute kann der Präsident aufgrund dieser Notstandsermächtigung gegen Syrien einen Wirtschaftskrieg führen. Im Mai 2023 verlängerte die Regierung Biden die Sanktionen. Syrien besitze «chemische Waffen» und unterstütze «terroristische Organisationen», welche «die nationale Sicherheit, die Aussenpolitik und die Wirtschaft aussergewöhnlich bedrohen». Nähere Angaben musste der Präsident nicht machen und den Kongress nicht konsultieren.
Vorstösse im Kongress ohne Chance
Vergeblich wandte sich der republikanische1 Kongressabgeordnete Paul A. Gosar am 18. Juli dagegen, dass weiterhin Notfallgesetze gegen die Länder Kongo, Jemen, Libyen, Syrien und Irak zur Anwendung kommen, weil diese für die USA keine derartige Gefahr mehr darstellen. Er begründete dies wie folgt:
«Notfall-Situationen können nicht ewig dauern. Deshalb gibt das Gesetz über die Erklärung des nationalen Notstands dem Präsidenten nur zeitlich begrenzte Befugnisse. Diese sollen spätestens sechs Monate nach der Ausrufung und danach alle sechs Monate vom Kongress überprüft und bewilligt werden.
Die ‹Notfälle›, um die es hier geht, sind zwischen zehn und zwanzig Jahre alt und weder dringend noch vorübergehend noch von kurzer Dauer. Der Kongress hat es versäumt, seine grundlegendste verfassungsmässige Pflicht zu erfüllen: diese Befugnisse der Exekutive zu kontrollieren. Nicht ein einziges Mal hat der Kongress eine dieser jahrzehntealten Notstandserklärungen überprüft, wie es das Gesetz verlangt.
Leider tragen die aufgrund der Notstandserklärungen verhängten Sanktionen in vielen Fällen zu Konflikten bei, die Tausende von Kilometern entfernt sind. Sie zerstören unschuldige Leben und verschlimmern menschliches Leid. So hat beispielsweise die Notstandserklärung gegen Libyen dieses Land im Wesentlichen zerstört. Das Land wird heute von politischer Gewalt und wirtschaftlicher Not geplagt. Dafür sind die USA zu einem grossen Teil verantwortlich, weil sie ihren Präsidenten ermordeten. Die USA hatten weder das Recht noch die Notwendigkeit, den libyschen Staatschef zu ermorden, aber sie taten es dennoch und setzten damit eine Kette von Ereignissen in Gang, die zu Tod, Zerstörung und offenen Sklavenmärkten in Benghazi führte.
Kein Präsident, egal welcher Partei, sollte mit einem Blankoscheck und endlosen Sonderbefugnissen ausgestattet werden, mit denen er den normalen demokratischen Prozess umgehen, seine verfassungsmässigen Befugnisse überschreiten und das Gleichgewicht der Kräfte verletzen kann.
Probleme, die sich über Jahre oder gar Jahrzehnte hinziehen, sind keine Notfälle und sollten auch nicht als solche behandelt werden. Sie sollten vielmehr vom Kongress mit einem ordnungsgemässen Verfahren, einer Debatte und mit Transparenz angegangen werden und nicht mit endlosen Notstandserklärungen, die Neokonservativen, Kriegstreibern, dem militärisch-industriellen Komplex und Bürokraten freie Hand geben. Ich habe für die Abschaffung dieser endlosen Notstands-Ermächtigungen gestimmt. Es gibt keinen Notfall in den Vereinigten Staaten, der die Fortsetzung einer dieser Erklärungen rechtfertigt.»
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1Hier stand anfänglich fälschlicherweise «demokratischer».
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
All diese Beispiele zeigen auf, dass die USA längst keine Demokratie mehr sind. Wo in einer echten Demokratie wird mit Not- und Sondererlaubnis regiert? Die USA sind eine simple Oligarchie. Die Reichsten sitzen im Parlament und der jeweilige Präsident verschafft seinen Angehörigen Aufträge und Profite.
Einverstanden, aber mir fällt da noch die Schweiz ein…
Notrecht war bei UBS-Rettung 2008 noch ein Einzelfall. Dann 18 Mal in der Covid-Pandemie, zuletzt Axpo-Rettungsschirm und CS-Rettung. Zusätzlich gibt es die dringlich erklärten Bundesgesetze des Parlamentes, die inflationär entstanden sind in den letzten Jahren:
https://www.bk.admin.ch/ch/d/pore/vr/vor_2_2_6_5.html
Wer vorausschauend regiert, braucht nicht per dringlichem Bundesgesetz oder Notrecht die direkte Demokratie auszuhebeln. Mit solchen Vorgehensweisen werden Fakten geschaffen, welche per Referendum (o.ä.) praktisch nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Bis ein Referendum zu Stande kommt, ist das Kind jeweils schon in den Brunnen gefallen.
Zuletzt wollten Thierry Burkart und Co. das Kriegsmaterialgesetz mit einer Lex Ukraine durchpeitschen (Geschäft 23.401). Bevor es zu einer Abstimmung durch das Volk hätte kommen können, wären die Panzer schon lange verkauft gewesen.
Das US-Parlamement – mit seinem universalen Dominanz-Amspruch – ist klar das Problem.
Es wäre an der Zeit ein Sanktionspaket gegen US-Parlamentarier zu schnüren. Vielleicht könnte sogar die EU davon überzeugt werden.
Aber wo keine Werte sind kann auch eine «Wertegemeinschaft» nichts bringen. Und wo keine eigenständigen Gedanken mehr gewünscht werden, sollte auch BR Cassis kleiner treten.
Ich empfehle einfach allen, den Wikipedia-Eintrag zum republikanischen Kongressabgeordneten Paul A. Gosar nachzulesen. Gosar ist Klimaleugner, Gegner von Schwangerschaftsabbrüchen, Befürworter eines liberalen Waffenrechts und der Off-shore-Förderung von Erdöl und als Vertreter der Tea-Party-Bewegung «ein entschiedener Unterstützer von Donald Trump». Im Oktober 2017 verbreitete er die Verschwörungstheorie von Alex Jones, wonach die rechtsextremen Demonstrationen in Charlottesville ein Plan der Linken gewesen seien, um Rassenunruhen zu schüren und Präsident Trump zu schaden. Gosar spricht sich zudem dagegen aus, die Ukraine im Russisch-Ukrainischen Krieg mit Waffenlieferungen zu unterstützen.
Ich lese seine von Infosperber zitierte Intervention weniger als aufrichtige Verteidigung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und humanitären Werten, und vielmehr als Ausdruck einer erznationalistischen «America First»-Ideologie.