Der Aufruf zum Widerstand gilt
Stéphane Hessel lebte mitten in unserer Zeit, am Herzschlag unserer Geschichte. Er hat die Therapie für die globale Krise unserer Gesellschaften verordnet, bevor bei uns die Diagnose in aller Klarheit auf dem Tisch lag: «Indignez-vous! Empört Euch!» – Das war vor drei Jahren.
Heute liegt die radikale Diagnose offen da. In literarischer Form von Rainald Goetz in seinem Roman über «die Macher, gesteuert von Gier, der Gier, sich dauernd irgendeinen Vorteil für sich zu verschaffen, am liebsten natürlich in Form von Geld…» (in: Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman, Suhrkamp 2012). Und im analytischen Essay von FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher über die «neue Ära des Informationskapitalismus», die den Menschen in ihren Modellen als Egoisten beschreibt und mit ihren Steuerungsmodellen zum Egoisten macht (in: EGO. Das Spiel des Lebens. Blessing 2013), wie ein Avatar, der gesteuert ist von den Daten, die er bei seinen unzähligen Besuchen im Internet hinterlassen hat.
Ist es ein Zufall, dass drei Jahre nach Stéphane Hessels Aufruf Schirrmacher und Götze, jeder auf seine Weise, die Gründe für diesen Aufruf nochmals radikal und klar nachliefern? – Das französische Wort für «Zufall» heisst «coïncidence» – es geht um Dinge, die zusammentreffen.
Ein Leben im Widerstand
Stéphane Hessel hat seine Erkenntnis gewonnen aus Erfahrung, Wissen und Werten, und deshalb hat er vor drei Jahren gefordert: «Wir müssen radikal mit dem Rausch des ‚Immer noch mehr!’ brechen…Es ist höchste Zeit, dass Ethik, Gerechtigkeit, nachhaltiges Gleichgewicht unsere Anliegen werden.»* Der Aufruf zur Empörung ist dazu das Mittel, nicht das Ziel.
Stéphane Hessel hat seine Botschaft ein ganzes Leben lang unter Einsatz dieses Lebens verbreitet. Als Kämpfer der Résistance, als Häftling in den Konzentrationslagern der Hitler-Faschisten, nach der Flucht und dem Ende des Krieges als Sekretär des französischen UNO-Vize-Generalsekretärs, bei dem er an der Ausarbeitung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte mitwirken konnte.
Diese Werte und die sozialen Errungenschaften der Nachkriegszeit, für die er eingetreten ist, sah er in seinen letzten Jahren gefährdet, «weil die Macht des Geldes – die so sehr von der Résistance bekämpft wurde – niemals so gross, so anmassend, so egoistisch war wie heute, mit Lobbyisten bis in die höchsten Ränge des Staates.»
Kristallisationspunkt der Bewegung
Stéphane Hessels Kritik an der Demontage des Sozialstaates, an der Herrschaft der Banken, an der Untätigkeit der Politik im Klimawandel, an der Verachtung der Schwachen und der Ausschaffung der Fremden, an der um sich greifenden Verletzung von Menschenrechten traf den Nerv demokratisch engagierter Bürger. Und vor allem die jungen Betroffenen der Finanz- und Wirtschaftskrise machten seinen Aufruf zu ihrem Namen: Die Empörten – les indignés – los indignados fanden in diesem Wort ihre gemeinsame Haltung, wie auch die «Occupy»-Bewegung: Solidarisierung gegen die Übermächtigen.
Das ist mehr als der Kampf um materielle Absicherung. Es ist das Duell zweier Wertsysteme. Stehen auf der einen Seite Rainald Goetz’ «Macher» oder Schirrmachers Egoisten, mit ihrer Gier nach dem eigenen Vorteil, so stehen auf der anderen Seite die Jungen und Gemeinsinnigen mit ihrem Bedürfnis und ihrem Bedarf nach grundlegenden, verbindenden Werten. Die Freiheit und die Eigenverantwortung des Einzelnen bedeutet auch ihnen ein hohes Gut, wie ihre Organisationsformen von «Occupy» bis Grillos «Cinque Stelle» zeigen, aber dieser Individualismus will sich einbinden in ein Netz der sozialen Verantwortung und der Brüderlichkeit. Stéphane Hessels grosses Anliegen, die universale Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist für diese freiheitlich-sozialen Bewegungen der zukunftsfähige Bundesbrief.
Die Menschenrechte im Zentrum
Stéphane Hessel hat die Erklärung der Menschenrechte als Orientierungssystem gesetzt: sie reicht von der Unantastbarkeit der Menschenwürde über die Meinungs- und Medienfreiheit bis zum Recht auf Arbeit. Und seine philosophischen Bezugsgrössen sind unter anderen Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Jean-Paul Sartre: «Sartre lehrte uns, dass wir selbst, allein und absolut, für die Welt verantwortlich sind – eine fast schon anarchistische Botschaft…Engagement allein aus der Verantwortung des Einzelnen.»
Das stellt jede und jeden Einzelnen in die Welt «ohne Rückhalt, ohne Gott.» Und es stellt alle und jeden vor die Frage, in welches ethische oder gar religiöse Gefüge sie sich einbinden wollen. Und aus welcher Erfahrung sie die Notwendigkeit des Engagements ableiten. Mit Hegel geht Stéphane Hessel davon aus, dass «Geschichte…eine Abfolge von Erschütterungen ist – und damit Herausforderungen», aber er liest das optimistisch: «die Freiheit des Menschen schreitet stufenweise voran.» – Es gibt, mit Blick auf den grossen Bogen der uns bekannten Geschichte, Ansatzpunkte für diese Auffassung.
Der Weg der Gewaltlosigkeit
Stéphane Hessel, der Mann der Résistance, der im Krieg gegen die deutsche Besetzung Frankreichs und gegen die europäische Herrschaft der Faschisten gekämpft hat, setzt sich an einer entscheidenden Stelle ab von Sartre: bei der Frage der Gewalt (die Sartre nicht legitimiert, aber für unvermeidlich hält): «Die Zukunft gehört der Gewaltlosigkeit und der Versöhnung der Kulturen…das muss, das wird die nächste Etappe der Menschheit sein», denn «’Gewalt wirkt nicht’» – das ist am Ende des Lebens auch Sartres Feststellung. Gewalt vernichtet die Hoffnung und verhindert die Versöhnung.
Hessel erinnert im Gegenzug an Martin Luther King und an Nelson Mandela, und man könnte die Erfolggeschichte der Gewaltlosigkeit in die Geschichte weiter zurück verfolgen: zur Bürgerrechtsbewegung in der DDR, auch zum Prager Frühling, der 1968 ein unvergessenes Zeichen gesetzt hat, auch wenn er von den Panzern des Warschauer Pakts niedergewalzt wurde. Und selbstverständlich zu Mahatma Gandhi, der Indien gewaltfrei zur Unabhängigkeit geführt hat, nachdem er schon der südafrikanischen Apartheid die Stirn geboten hatte.
Stéphane Hessel verurteilt die Gewalttätigen nicht blind. Er erkennt die Ursachen für den Terrorismus der Algerier im Befreiungskrieg (1954 – 1962) oder die Raketenangriffe der Hamas gegen Israel, aber er rechtfertigt sie nicht. Er kennzeichnet Terrorismus als «eine Erscheinungsform von Verzweiflung», als «inakzeptabel» und als Zerstörung der Hoffnung. Hoffnung ist aber die Voraussetzung von Engagement und Veränderung.
Kritik an Israel
Stéphane Hessel, der sich aus dem KZ gerettet hat, kritisiert bedingungslos die Politik Israels im Westjordanland und im Gazastreifen – «ein Gefängnis unter freiem Himmel». «Dass Juden Kriegsverbrechen begehen können, ist unerträglich.» Und er verweist noch einmal auf die Kraft der gewaltfreien Aktion auch gegen eine so rücksichtslose Besatzungsmacht wie Israel mit ihrem Mauerbau durch das Gebiet der Palästinenser. Er erinnert an die Bürger von Bil’in, eines Palästinenserdorfes nicht weit von Jerusalem, die «jeden Freitag gewaltlos, ohne Steine zu werfen, an die Mauer gehen…Die israelischen Behörden haben diesen Marsch als ‚gewaltlosen Terrorismus’ charakterisiert…Um Gewaltlosigkeit terroristisch zu nennen, muss man schon in der Lage der Israelis sein.»
Die Utopie
Wenn Stéphane Hessel von Widerstand spricht, dann meint er damit nichts Geringes. Widerstand, Résistance, war sein Kampf gegen das brutale, totalitäre, rassistische System des Nationalsozialismus. «Wie konnte der Faschismus so mächtig werden?», fragt er sich, und er antwortet: «Eine Erklärung scheint mir zu sein, dass die Besitzenden in ihrem Egoismus schreckliche Angst vor der bolschewistischen Revolution hatten. Sie liessen sich von ihren Ängsten leiten.»
Der Blick in die Geschichte gibt ihm recht. Wie heute der Blick auf die Gegenwart, wo jede Regulierung des kapitalistischen Marktes und Massnahmen für sozialen Ausgleich schon als Bedrohung der bürgerlichen Freiheiten gebrandmarkt werden.
«Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, die Intellektuellen, die ganze Gesellschaft dürfen sich nicht kleinmachen und kleinkriegen lassen von der internationalen Diktatur der Finanzmärkte, die es so weit gebracht hat, Frieden und Demokratie zu gefährden.»
Dagegen richtet sich Stéphane Hessels Aufruf zur Résistance heute. «Neues schaffen heisst Widerstand leisten», schreibt er am Schluss seiner Broschüre, und: «Widerstand leisten heisst Neues schaffen.»
Widerstand für die freie Demokratie
Die Richtung hat er weit früher bestimmt, in seiner Jugend, auf der Grundlage von Hegels Dialektik: «Die Geschichte der Gesellschaften schreitet voran, bis am Ende der Mensch seine vollständige Freiheit erlangt hat und damit der demokratische Staat in seiner idealen Form entstanden ist.»
Das ist selbstverständlich Utopie. Aber es ist die bessere Utopie als die Verwandlung in einen fremdgesteuerten Avatar auf der endlosen, egoistischen Jagd nach dem eigenen Vorteil.
*Die Zitate von Stéphane Hessel stammen alle aus seiner Schrift «Empört Euch!» (Ullstein 2010).
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
Ein guter Artikel! Ich fasse mich dazu kurz: DIE ALLGEMEINE ERKLÄRUNG DER MENSCHENRECHTE wurde am 10. September 1948 von den Vereinten Nationen angenommen. Sie ist heute noch wahr und wird immer wahr bleiben. Wenn die verschiedenen Punkte im Leben angewandt würden, ginge es der Menschheit bedeutend besser.
ABER: Die Menschenrechte müssten auch bekanntgemacht werden. Es wäre ein wertvolles Thema in der Schule. Studieren, verstehen und anwenden! Die Welt würde sich garantiert sehr positiv verändern. Auch für jeden Erwachsenen ist es eine Pflicht die Menschenrechte zu kennen und anzuwenden.
Ich empfehle jeder Person, die meine Meinung liest und etwas äussern will, zuerst sicher zu stellen, dass sie alle Punkte der Menschenrechte gelesen hat und versteht.
Gruss Heidi Altorfer
Dieser Aufruf des Ausrufs gehört in die Tageszeitungen. Diese Nische, der Infosperber, ist gut und nötig, ist grossartig. Aber sie ist immer noch Nische. »Empört euch« wurde millionenfach verkauft, aber von Menschen, die sich bereits empören. Ich kenne zu viele Menschen, denen diese kleine Schrift kein Begriff ist. Und ich kenne noch zu viele Journalisten, die gerne über das Büchlein hergezogen wären (naiv!) wäre der Autor nicht, wer er gewesen war.
Wir brauchen dringend einen kritischeren, wacheren, aufgeklärteren Journalismus. Und den müssen wir einfordern, wo und wann immer wir können. Denn ohne kritischen Journalismus, keine aufgeklärten Bürgerinnen und Bürger. Wir werden uns als Gesellschaft nicht immer hinter einem »denn wir wissen nicht, was wir tun« verstecken können.
Ich kann hier nicht gelassener reagieren. Ich mag nicht mehr gelassen reagieren. In dieser Frage bin ich nicht mehr gelassen. Und bin darum froh um solche Artikel wie diesen, die mir Hessels Botschaft noch einmal gelassen in Erinnerung rufen.
Besten Dank für diese Situierung von Hessel. Er hat es im hohen Alter verstanden, in wenigen einfachen Worten Kernproblematiken unserer Zeit auf den Punkt zu bringen. In diesem Artikel gelingt es, Hessels Analyse und Lösungsansätze in einen grundsätzlicheren Zusammenhang europäischer Geistesgeschichte und dringend notwendiger Wertdiskussion zu stellen.