Peter Beinart Times Books

Peter Beinart, Professor für Politikwissenschaft an der City University of New York, Autor des Buches «The Crisis of Zionism» © Guillaume Gaudet/Times Book

Den Anti-Zionismus nicht mit Antisemitismus verwechseln

Peter Beinart /  Das Argument Antisemitismus darf nicht zu einem Mittel werden, um das reale Grauenhafte in Gaza auszublenden.

upg. Diesen Gastbeitrag verfasste der liberal-orthodoxe Jude Peter Beinart auf Substack. Er ist Professor für Journalismus und Politikwissenschaften an der City University of New York. Übersetzung und Zwischentitel von Infosperber.


Antisemitismus ist ein echtes Problem. Aber wenn wir nicht in der richtigen Weise über Antisemitismus sprechen, dann führt dies dazu, dass man sich mit den Geschehnissen in Gaza nicht auseinandersetzen muss. Die Diskussion über den Antisemitismus darf die Realität des Grauens in Gaza nicht ausblenden.

Ich möchte dies an sechs möglichen Diskussionen aufzeigen.

Israel ist für antisemitische Ausfälle nicht verantwortlich

Erstens: Drei akademische Studien – eine in den USA, eine in Belgien und eine in Australien – zeigen für die letzten 20 Jahre eine starke Korrelation zwischen umfangreichen israelischen Militäroperationen, bei denen viele Palästinenser getötet werden, und dem Anstieg der gemeldeten antisemitischen Vorfälle.

Das heisst nicht, dass Israel für Menschen verantwortlich ist, die ihre Wut gegen Israel an Juden auslassen. Denn Israel ist verantwortlich für die Palästinenser, die es tötet, aber nicht für Menschen, die ihre Wut auf Israel an Juden auslassen. Genauso ist die Hamas verantwortlich für die Israelis, die sie am 7. Oktober getötet hat. Aber die Hamas ist nicht verantwortlich für die Gewalt gegen Palästinenser von Menschen, die durch die Taten der Hamas aufgehetzt sein könnten. 

Aber man kann trotzdem darauf hinweisen, dass die Zahl der gemeldeten antisemitischen Vorfälle wahrscheinlich zurückginge, wenn der Krieg beendet und das israelische Militär aufhören würde, so viele Palästinenser zu töten. 

Wut gegen Israel darf sich nicht gegen Juden richten

Zweitens: Es ist unakzeptabel, seine Wut gegen Israel an Juden auszulassen. Man muss klar unterscheiden zwischen dem Handeln der israelischen Regierung und dem Handeln von Juden. Ebenso wenig sind Muslime für die Handlungen des Irans oder Saudi-Arabiens oder der Hamas verantwortlich. 

Diese Unterscheidung ist äussert wichtig, um gegen israelbezogenen Antisemitismus zu kämpfen. Viele etablierte amerikanisch-jüdische Organisationen wollen diese Unterscheidung nicht machen. Sie wollen nicht unterscheiden zwischen Jüdischsein oder dem Judentum einerseits und Israel und dem Zionismus andererseits. Denn sie möchten den Eindruck erwecken, dass es zum Jüdischsein dazugehöre, ein Zionist zu sein oder Israel zu unterstützen. 
Es stimmt zwar, dass die Mehrheit der amerikanischen Juden – und ich denke, die Mehrheit der Juden auf der ganzen Welt – sich als Unterstützer Israels, als Zionisten bezeichnen würden, auch wenn sie damit vielleicht etwas anderes meinen. Wenn man jedoch sagt, dass die Unterstützung Israels ein inhärenter Teil dessen sei, was es bedeutet, ein Jude zu sein, trägt man meiner Meinung nach genau zu der Vermischung bei, die Juden in den USA und in anderen Teilen der Welt weniger sicher macht. Denn es wird dadurch schwieriger, zwischen Israel und Juden zu unterscheiden. Das macht es schwieriger, den Menschen zu sagen, dass es inakzeptabel ist, wenn sie ihre Wut gegen Israel – seine Handlungen, sogar seine Staatsideologie – an Juden auslassen.

Redeverbote gegen pro-israelische Redner müssen nicht antisemitisch sein

Drittens: Nicht alles Schlechte, das Juden widerfährt, ist Antisemitismus. Es gibt auch schlechtes Verhalten, das sich gegen Juden richtet, das aber nicht antisemitisch ist. Ein Beispiel: Vor einiger Zeit gab es in Berkeley einen Pro-Israel-Redner, der nicht sprechen durfte. Und es gab eine ganze Reihe von Vorfällen in diesem Zusammenhang. Die Demonstranten hinderten diese Person am Sprechen. Das ist in meinen Augen ein Problem.

Ich denke, die Leute haben das Recht zu protestieren, aber sie haben nicht das Recht, die Reden von Leuten zu stören, mit denen sie nicht einverstanden sind. Diese Tendenz, manchmal Redner zu stören, mit denen man nicht einverstanden ist, ist ein Problem an amerikanischen Universitäten.

Aber waren diese Störungen antisemitisch? Wäre das Gleiche passiert, wenn der israelfreundliche Redner ein Christ oder sogar ein Muslim und kein Jude gewesen wäre? Ich glaube, ja. Es wäre sehr wahrscheinlich dasselbe passiert. Wenn ein christlich-evangelikaler Redner Israels Krieg in Gaza verteidigt hätte, wäre er sehr wahrscheinlich ebenfalls gestört worden. 

Die Unterbrechung dieser Rede, das Hindern dieser Person am Sprechen, war falsch. Es war ein Angriff auf die Redefreiheit. Ich denke, dass die Leute, die so etwas tun, bestraft werden sollten. Aber es war kein Antisemitismus. 

An den Universitäten beobachten wir neben echtem Antisemitismus auch eine Art sozialer Ausgrenzung von zionistischen Studenten. Diese soziale Ausgrenzung zionistischer Studenten unterscheidet sich nicht grundlegend von der sozialen Ausgrenzung von Studenten, die gegen Abtreibung reden, oder von republikanischen Studenten, die politische Ansichten ausserhalb des Mainstreams vertreten. Es werden nicht nur pro-israelische Redner gestört. 

Wir wissen, dass der konservative Politologe Charles Murray gestört wurde, als er versuchte, in Middlebury zu sprechen. Auch der rechtskonservative frühere Redaktor der Breitbart -News, Milo Yiannopoulos, wurde vor einiger Zeit gestört. Beide Störungen ihrer Auftritte habe ich kritisiert. Es gibt eine Art von Intoleranz an linken Universitäten, die sich hässlich äussern kann. 

Aber das bedeutet nicht, dass es sich um Antisemitismus handelt. Es gibt Antisemitismus, aber ich denke, es ist wichtig, diese beiden Dinge voneinander zu trennen.

Die Gleichberechtigung der Juden stellt niemand in Frage

Viertens: Der zunehmende Antisemitismus bedeutet nicht, dass die Juden in den USA unterdrückt werden. Diese Zunahme des Antisemitismus muss öffentlich diskutiert werden. Es gibt jedoch keine staatlich geförderte Unterdrückung von Juden. Donald Trump machte einige antisemitische Äusserungen, aber es gibt in beiden Parteien keine Politiker, die vorschlagen, dass Juden nicht gleich behandelt werden sollten wie andere Menschen. 

Damit befinden sich Juden in einer anderen Situation als Palästinenser oder Muslime. Es gibt beides: einen zunehmenden Antisemitismus und eine zunehmende Islamophobie und einen zunehmenden antipalästinensischen Rassismus. Doch nur die Islamophobie und der antipalästinensische Rassismus werden von einigen Politikern benutzt, um zu fordern, dass diese Menschen nicht die gleichen Rechte haben sollten.

So sagte beispielsweise Donald Trump, dass Muslime in den USA nicht zugelassen werden sollten. Es gibt keine vergleichbare Äusserung eines Politikers, der so etwas über Juden sagt. Ron DeSantis, der Gouverneur von Florida, hat alle Sektionen der Studentenorganisation «Students for Justice in Palestine» an seinen staatlichen Universitäten verboten. In den USA gibt es keinen Gouverneur, der jüdische oder pro-israelische Organisationen verbietet. 

Deshalb ist es meiner Meinung nach wichtig, konzeptionell zwischen dem zunehmenden Antisemitismus, der ein Grund zur Sorge ist, und der staatlich geförderten Unterdrückung zu unterscheiden. Wenn wir Juden über Antisemitismus nachdenken, erinnern wir uns freilich daran, dass der Antisemitismus von einem Zwangsstaat missbraucht wurde, um den Juden die gleichen Rechte zu verweigern.

Antizionismus ist nicht antisemitisch

Fünftens: Die Antisemitismusdebatte ist nicht mit der Debatte über, sagen wir, antischwarzen Rassismus zu vergleichen. Man hört von jüdischen Organisationen oft die Aussage: «So wie Schwarze definieren dürfen, was antischwarzer Rassismus ist, sollten Juden definieren dürfen, was Antisemitismus ist.» Das ist ein Irrtum, denn die beiden Debatten sind sehr unterschiedlich.

Zunächst einmal gibt es unter den amerikanischen Juden keinen Konsens darüber, wie Antisemitismus zu definieren ist. Wenn also die Anti-Defamation-League oder eine andere Organisation sagt, wir sollten für die Juden sprechen und auch Antizionismus als Antisemitismus definieren, dann ist das nicht dasselbe wie die NAACP, die im Namen der schwarzen Amerikaner spricht. Denn unter den schwarzen Amerikanern gibt es einen viel grösseren Konsens darüber, was Rassismus ist, als unter den Juden, was Antisemitismus ist. 

Juden sind in der Frage, ob Antizionismus mit Antisemitismus gleichzusetzen sei, sehr geteilter Meinung. Sei es nur deshalb, weil eine beträchtliche Zahl von Juden selbst unter diese Definition von Antisemitismus fiele, wenn er mit Antizionismus gleichzusetzen wäre. 

Auch in der Umfrage des Jewish Electoral Institute aus dem Jahr 2021 gaben fast 40 Prozent der jungen amerikanischen Juden an, dass sie Israel für einen Apartheidstaat halten. Diese Aussagen wird von den jüdischen Organisationen der USA im Wesentlichen als antisemitische Haltung definiert. 

Tatsächlich neigen die jüdischen Wissenschaftler, die sich mit Antisemitismus beschäftigen, dazu, Antisemitismus nicht gleich zu definieren wie die jüdischen Organisationen des Establishments. Wenn sie also sagen: «Ihr müsst auf die Juden hören», dann sagen diese Organisationen damit: «Hört auf uns.» Und oft sagen sie: «Hört nicht auf die tatsächlichen jüdischen Experten, die sich mit der Erforschung des Antisemitismus befasst haben.»

Schliesslich wird der antischwarze Rassismus nicht zum Schutz einer bestimmten Regierung benutzt. Regierungen von Nigeria oder Senegal oder Kenia definieren Kritik an diesen Regierungen nicht als antischwarzen Rassismus. In der Debatte über Antisemitismus ist dies jedoch der Fall. Die israelische Regierung ist stark in diese Debatte involviert. Und das ist ein grundlegender Unterschied.

Eine andere Art, darüber nachzudenken, wäre, wenn Sie sagen, dass Juden Antizionismus und Antisemitismus selber definieren dürfen. Aber warum dürfen dann Palästinenser nicht Zionismus als antipalästinensische Bigotterie definieren? 

Der Punkt ist, dass man nicht zulassen kann, dass eine Gruppe von Menschen definiert, was diese Bigotterie bedeutet, ohne Rücksicht auf die Belange der anderen Gruppe von Menschen, die tatsächlich Teil dieses Konflikts in Israel und Palästina sind.

Antisemitismus ist am sinkenden Einfluss der Juden nicht schuld

Sechstens: Es gibt die Vorstellung, dass wir aufgrund des zunehmenden Antisemitismus am Ende eines jüdischen goldenen Zeitalters in den Vereinigten Staaten stehen. Dieser Gedanke trifft etwas Wahres. Der Höhepunkt des jüdischen kulturellen Einflusses – wenn man ihn messen könnte – ist vorbei. Es stimmt, dass der Antisemitismus zunimmt. Aber der zunehmende Antisemitismus ist kaum der Hauptgrund dafür, dass der Höhepunkt des jüdischen kulturellen Einflusses in Amerika vorbei ist.

Dies hat wohl eher mit der Tatsache zu tun, dass die Juden, seit sie in den Vereinigten Staaten leben, in gewisser Weise kulturell nicht mehr so produktiv sind, wie sie es früher waren. Je weiter sich die Juden von den Erfahrungen der Einwanderer entfernten, desto mehr fehlt ihnen der berufliche und akademische Hunger, der sie dazu veranlasst, sich so hervorzutun, wie sie es früher getan haben. Und die USA sind heute ein Land mit vielen, vielen Menschen, deren Eltern nach 1965 einwanderten. Die Zahl von deren Nachkommen an den Eliteuniversitäten steigt und die Zahl der Juden sinkt ein wenig. Deshalb werden wir in eine Ära eintreten, in der Juden nicht mehr den gleichen kulturellen Einfluss haben wie vielleicht noch vor ein paar Jahren. 

Den Rückgang des jüdischen Einflusses in den USA in erster Linie auf einen Anstieg des Antisemitismus zurückzuführen, verkennt meiner Meinung nach die tatsächliche Situation.


Ich habe diese sechs Punkte angesprochen, weil die Diskussion über Antisemitismus und die Angst vor Antisemitismus – eine echte Angst, aber ich denke, eine Angst, die manchmal geschürt wird – sonst dazu führen kann, ein ehrliches Gespräch über Amerikas Rolle beim Horror in Gaza und über die Komplizenschaft der organisierten amerikanisch-jüdischen Gemeinschaft zu vermeiden.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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3 Meinungen

  • Portrait_Urs_Schnell
    am 1.04.2024 um 14:55 Uhr
    Permalink

    Guter Artikel.
    Etwas fehlt mir in der Gesamtschau allerdings fast immer. Ist die Wurzel von Unversöhnlichkeit, Intoleranz, Rache und Gewalt, die ich sowohl bei jüdischen, muslimischen wie christlichen Führern feststelle, nicht in den abrahamitischen Religionen per se angelegt? In monotheistischem Gedankengut, das von einer allmächtigen und strafenden Vaterfigur ausgeht? Im Verbund mit dem Anspruch von Stämmen und «Völkern» auf je eigenes (nationales) Land? Mann ist ja schliesslich von Gott/Allah auserkoren. Kurz: eine giftige und höchst unmenschliche Mixtur. Das Resultat ist seit Jahrhunderten sichtbar.

  • am 1.04.2024 um 17:54 Uhr
    Permalink

    Vielen Dank für die klaren Worte. Ich hoffe, dass diese Punkte im öffentlichen/breiten Diskurs baldigst eine zuverlässige Basis bilden wird, denn nur so kann man auf Lösungen hoffen. Ich denke gefährlichen Extremismus hat zu lange zu viel Gehör bekommen; es ist allerhöchste Zeit, sich auf universelle Gemeinsamkeiten zu konzentrieren.

  • am 2.04.2024 um 16:38 Uhr
    Permalink

    Wozu brauchen wir einen «Antizionismus», wenn mensch auch direkt den Rassismus, Nationalismus, Rechtsextrememismus und religiösen Fanatismus ansprechen kann? Dann könnte mensch auch die «Freunde Israels» fragen, warum sie sich bedingungslos an die Seite derartiger Ideologien stellen? Für mich ist es überhaupt kein Problem, von der Regierung in meinem Land abzugrenzen. Mit Spezialbegriffen laufe ich selbst wieder Gefahr, verschiedene Maßstäbe anzulegen. Auch im «kritischen Rationalismus» a la Karl Popper werden möglichst einfache, grundlegende Erklärungen /Maßstäbe bevorzugt.

    Ob «die Juden» (wieso schon wieder diese Verallgemeinerungen, es machen bei weitem nicht alle Juden bei den politischen Machtkämpfen mit) viel Einfluss haben oder nicht, ist doch zweitrangig dagegen, dass DIESES hierarchische Macht- und Herrschaftssystem an sich infrage zu stellen ist. Daher sollten viele «Linke» wohl eher in Fragezeichen angeführt werden …

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