Das geheime griechische Flüchtlingslager
Die griechische Regierung hält Flüchtlinge an einem bisher geheimen Ort in Isolationshaft fest, bevor sie sie ohne ordnungsgemässes Verfahren in die Türkei abschiebt. Mit derartigen Massnahmen will die griechische Regierung eine Wiederholung der Flüchtlingskrise von 2015 verhindern – und die Grenze zu Europa versiegeln.
Am 3. März hatte die griechische Regierung ein Gesetz verabschiedet, dass es Flüchtlingen während eines Monats verunmöglicht, in Griechenland Asylanträge zu stellen. Ausserdem erlaubt das Gesetz sofortige Abschiebungen. Gemäss der «New York Times» wird dafür auch ein geheimes Lager genutzt, das Rechercheure der Zeitung mithilfe von Satellitenbildern und Berichterstattungen von Lokalmedien nun im Nordosten Griechenlands lokalisiert haben.
«Beraubt, geschlagen, ausgewiesen»
Mehrere Flüchtlinge sagten in Interviews, sie seien in einem Lager inhaftiert, ihrer Habseligkeiten beraubt, geschlagen und aus Griechenland ausgewiesen worden – ohne die Möglichkeit gehabt zu haben, Asyl zu beantragen oder mit einem Rechtsbeistand zu sprechen. Ein Vorgehen, das von Expertinnen und Experten als Verletzung des internationalen Rechts bezeichnet wird.
François Crépeau, ehemaliger UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechte von Flüchtlingen, sprach von einer inländischen «Schwarzen Anlage» (Black Site) und verglich das griechische Lager damit mit geheimen Gefängnissen der USA, die ausserhalb des eigenen Staatsgebietes liegen und offiziell nicht existieren. Wie bei diesen US-Gefängnissen würden auch die Gefangenen des griechischen Lagers geheim gehalten und hätten keinen Zugang zu Rechtsmitteln. Die Anlage stelle eine Verletzung des Rechts auf Asyl dar, missachte das Verbot grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung und widerspreche damit EU-Recht.
«Für sie sind wir wie Tiere»
Die Existenz des geheimen Lagers belegt die «New York Times» auch mit Zeugenaussagen. So wie zum Beispiel diejenige von Somar al-Hussein, einem syrischen Kurden. Al-Hussein sass in einem der ersten Busse, mit denen türkische Beamte ab dem 28. Februar Flüchtlinge zur griechischen Grenze karrten. Der angehende Software-Ingenieur berichtet der «New York Times», wie er die erste Nacht im Regen unweit des Ufers des Grenzflusses Evros verbracht hat. Am frühen Morgen bestieg er ein Gummiboot und erreichte zusammen mit anderen Flüchtlingen griechisches Festland.
Seine Reise endete allerdings nur eine Stunde später. Al-Hussein und seine Gruppe seien von griechischen Grenzsoldaten gefangen genommen worden und dann in einem Gefangenenlager unweit des Grenzdorfes Poros inhaftiert worden – was er mithilfe der Standortbestimmung seines Mobilfunktelefons festgestellt habe. Der Ort habe im Wesentlichen aus drei rot überdachten Lagerhäusern bestanden. Die Gebäude seien U-förmig angeordnet, Hunderte gefangene Flüchtlinge hätten davor gewartet.
Al-Hussein wurde ins Haus gebracht und musste sich mit zahlreichen anderen Flüchtlingen in einen Raum zwängen. Sein Telefon wurde beschlagnahmt, damit er niemanden kontaktieren konnte. Seine Bitten, Asyl beantragen und Kontakt zu Beamten der Vereinten Nationen aufnehmen zu wollen, seien ignoriert worden. Den Umgang, den die griechischen Wachen mit den Insassen des Lagers pflegten, beschrieb Al-Hussein mit den Worten: «Für sie sind wir wie Tiere».
Nach einer Nacht ohne Essen und Trinken wurden al-Hussein und zahlreiche andere Flüchtlinge am 1. März zum Evros-Fluss zurückgefahren, wo griechische Polizeibeamte sie in einem kleinen Schnellboot auf die türkische Seite zurückgebracht hätten.
Lager ist nicht neu
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der «New York Times» ist es durch die Analyse von Zeichnungen, Beschreibungen und mit zur Verfügung gestellten Satellitenkoordinaten gelungen, das Gefangenenlager, in dem auch Al-Hussein inhaftiert wurde, zu lokalisieren. Es liegt auf dem Ackerland zwischen Poros und dem Grenzfluss Evros.
Ein ehemaliger griechischer Beamter, der auch mit Polizeiarbeit zu tun hatte, hat die Existenz des Geländes gegenüber der «New York Times» bestätigt. Die Anlage sei nicht als Haftanstalt klassifiziert und werde in Zeiten von hohen «Flüchtlingsströmen» genutzt. Die Existenz der Anlage wurde zudem vom schwedischen Recherchezentrum «Respond» bestätigt. Und am 6. März haben Journalisten der «New York Times» versucht, sich der Anlage zu nähern. Sie seien allerdings von Polizisten und maskierten Sondereinsatzkräften angehalten worden.
Menschenrechtsverletzungen zu Wasser…
Inzwischen sind an der griechisch-türkischen Grenze und auf dem offenen Meer zwischen griechischen Inseln und dem türkischen Festland mehrere Menschenrechtsverletzungen dokumentiert. Am 2. März wehrte zum Beispiel ein Schiff der griechischen Küstenwache ein Schlauchboot voller Flüchtlinge gewaltsam ab. Auf dem Filmmaterial, das von der «New York Times» geprüft und für echt befunden wurde, sind das Schiff der Küstenwache und ein unmarkiertes Schnellbot dabei, das Flüchtlingsboot zu umkreisen. Es fallen zwei Schüsse, die Projektile landen unweit des voll besetzten Flüchtlingsbootes im Wasser. Wie der griechische Regierungssprecher Stelios Petsas sagte, soll es sich dabei aber nicht um scharfe Munition gehandelt haben.
Das Video zeigt aber auch, dass die Männer auf dem Schiff der Küstenwache und im unmarkierten Beiboot mit langen Stöcken auf das Flüchtlingsboot einschlagen und es damit zur Seite schieben. Das grössere der Schiffe versuchte zudem, das Flüchtlingsboot zum Kentern zu bringen, indem es mit hoher Geschwindigkeit nah am kleinen Gummiboot vorbeifuhr.
… und zu Land
Und auch auf dem Land kommt es immer wieder zu Gewaltszenen. Als bisheriger «Höhepunkt» gilt die Erschiessung des 22-jährigen Syrers Mohammed Yaarub aus Aleppo, dessen Tod von der griechischen Regierung als Falschnachricht abgetan wurde. Gemäss der «New York Times» belegen eine Videoanalyse und Zeugenaussagen allerdings das Gegenteil: Mohammed Yaarub wurde am Morgen des 2. März am Westufer des Evros erschossen. Die Flüchtlinge, die zum Zeitpunkt seines Todes bei Yaarub waren, sagten gemäss «New York Times», ein griechischer Sicherheitsoffizier habe ihn erschossen.
Eine Analyse von weiterem Filmmaterial, das am selben Tag an anderen Stellen der Grenze aufgenommen wurde, zeige, «dass die griechischen Sicherheitskräfte bei anderen Vorfällen an diesem Tag tödliche und nicht tödliche Munition verwendeten, die wahrscheinlich aus einer Mischung aus halbautomatischen und Sturmgewehren abgefeuert wurde.»
Noch bevor diese Beweise der Gewalt und Geheimhaltung an die Öffentlichkeit drangen, besuchten führende EU-Politiker am 3. März die griechische Grenze – und waren voll des Lobes für Griechenland. «Wir möchten unsere Unterstützung für alles ausdrücken, was Sie in den letzten Tagen mit Ihren Sicherheitsdiensten getan haben», sagte Charles Michel, der Präsident des Europäischen Rates.
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Nicht mehr zuschauen! Grenzen öffnen!
Augen vor Flüchtlings-Elend nicht verschliessen
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Das schreckliche Schicksal der beraubten und erniedrigten Menschen, welche ins tiefste Elend gestürzt werden, ist die eine Seite der Tragödie. Fast ebenso schrecklich sind auch die Folgen für die griechische Gesellschaft, weil – wieder – Häscher und Lageraufseher mit sadistischen Neigungen gezüchtet werden. Diese haben Familien und «Freunde», welche wiederum ihre menschlichen Regungen unterdrücken müssen. Wird durch eine solche Mentalität bewusst oder unbewusst der Boden für einen diktatorischen Überwachungsstaat präpariert?
Wie steht es im übrigen Europa und bei uns? Was ist die vorhersehbare nächste Eskalationsstufe?
Jacques Schiltknecht