Das Assad-Regime verteilt Todesscheine für Hunderte Getötete
Die betroffenen Angehörigen konnten und können von ihren toten Söhnen weder Abschied nehmen noch deren Körper auf Folterspuren untersuchen. Erst vor wenigen Tagen haben Eltern und Ehefrauen erfahren, das ihre vor fast sieben Jahren verhafteten Söhne und Ehegatten bereits seit vielen Jahren tot sind. Als Todesursache gibt das Regime «Herzstillstand» oder «Gehirnschlag» an.
Beamte informierten entweder persönlich oder dann wurden Namen von Verstorbenen angeschlagen, um Todesscheine abzuholen. Das «Syrien Network for Human Rights», eine im Ausland tätige Oppositionsgruppe, gibt die Zahl der jetzt ausgestellten Todesscheine mit 312 an. Amnesty International kann 161 Fälle bestätigen. Manche betroffene Familien würden nicht darüber reden, weil sie Angst hätten. Deshalb sei mit einer Dunkelziffer zu rechnen.
Auffälligerweise stehen in den Todesscheinen des Studenten Islam Dabbas, des früheren Aktivisten Maan Shurbaji und etlicher anderer bisher Vermissten das gleiche Todesdatum: Der 15. Januar 2013. Das weckt den Verdacht einer gemeinsamen Hinrichtung.
Jedenfalls bedeutet das heutige Ausstellen von Todesscheinen, dass das Regime Assad zum ersten Mal öffentlich zugibt, dass Hunderte Gefangene in Staatsgefängnissen gestorben sind. Als berüchtigstes Gefängnis gilt Saydnaya, das 30 Kilometer nördlich der Hauptstadt Damaskus liegt. Nach Angaben von Amnesty International kommt es dort häufig zu Folterungen.
Im Land mit rund 18 Millionen Einwohner wurden nach Angaben von «Syrien Network for Human Rights» seit Anfang des Bürgerkriegs mindestens 82’000 Personen vom Regime verhaftet. Es sei deshalb zu erwarten, dass noch viel mehr Todesfälle ans Licht kämen.
Die «New York Times» vermutet, dass das Regime nach den militärischen Erfolgen gegen die weitgehend fundamentalistischen Aufständischen jetzt eine Art Normalisierung anstrebe. Familien mit jahrelang Vermissten haben neben Angst und bangender Hoffnung weitere Probleme: Witwen können nicht heiraten. Verwandte können Eigentum nicht verkaufen, an dem Vermisste beteiligt sind. Und das Erbe von Vermissten kann nicht verteilt werden.
Trotzdem wird es für die meisten Angehörigen schwierig sein, sich mit einem Todesschein zufrieden zu geben. «Es fällt schwer, ein normales Leben weiter zu führen, wenn man weiss, dass die, welche für die Verschwundenen verantwortlich sind, immer noch an ihren Plätzen sind», erkärte Sara Kayyali von «Human Rights Watch» gegenüber der New York Times.
—————————————————————————–
Dieser Artikel fasst Berichte der «New York Times» vom 28. Juli und anderer Quellen zusammen. Über das Verteilen von Todesscheinen hat bisher in der Schweiz als einzige Zeitung die NZZ berichtet.
—————————————————————————–
- Zum Infosperber-DOSSIER: «Der Krieg in Syrien»
—————————————————————————–
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine