Clinton. Trump. Shoemaker. Die Geschlechterwahl.
11. September 2016
Anfang Sommer habe ich sie belächelt – die immer zahlreicher werdenden Stand-up-Paddler*innen, die sich in den Greifensee hinausstiessen und mir als Schwimmer zuweilen bedrohlich nahe kamen, weil sie, vermutlich, noch keine Kurven fahren konnten. Jetzt schwanke ich selbst, mit zittrigen Knien, auf so einem neumodischen Brett – lebender Beweis dafür, dass auch die vermeintlich Unabhängigen den Verführungen von Trends & Märkten nicht immer widerstehen.
Wenn es mir gelänge, rede ich mir ein, mich auf so einem Ding zu halten, würde ich in den Jahren, die bleiben, nicht so schnell aus dem Gleichgewicht geraten und mir bliebe, mit etwas Glück, erspart, was ich ein paar Tage später beim Besuch in einem Zürcher Pflegezentrum in einem dieser weiss gestrichenen Gänge beobachte, über die Besucher*innen mögliche Zukunftsräume betreten und ihnen, vorläufig, auf demselben Weg wieder entkommen. Eine alte Frau lässt die «Ballettstange» an der Wand los, rudert verzweifelt mit den Armen, während die Physiotherapeutin misst, wie viele Sekunden die Greisin sich auf eigenen Beinen halten kann, handgestoppt.
Vermutlich zieht mich eher Romantik als Mode aufs Board. Der Wunsch, die paar Stunden da draussen mit S. zu teilen. Die seit Jahren damit liebäugelt, den lauter werdenden Vorstädten in Kanu oder Paddelboot zu entkommen. Und mir jetzt, durchaus liebevoll, zuruft: «Nein! Nicht so! Schau, so!» Ich mutiere zum Schüler, fuchtle nervös mit dem Paddel herum und lande als pädagogischer Notfall im warmen Wasser.
«Warum eigentlich war ich so entschlossen, keine Stunden zu nehmen?», schreibt Hanna Johansen in ihrem Roman «Der Herbst, in dem ich Klavier spielen lernte». «Habe ich Angst, mich zu blamieren? Natürlich habe ich die. Und ebenso natürlich müsste sie sich überwinden lassen. Anfängern ist es erlaubt, nichts zu können. Und wenn man alt ist, ist es erst recht erlaubt, langsam zu lernen.» Irgendwie schaffe ich es, mich wieder aufs Brett zu hieven. Bleibe, trotz der Gnade des Alters, ein Autodidakt. «Will ich Kontrolle vermeiden? Wohl auch. Dabei wäre sie nützlich. Ich weiss ja, dass man sich sonst Fehler angewöhnt.» Notiert Johansen einsichtig.
Vielleicht hindert mich das SelbstistderMann daran, den eigennützigen Tipp des SUP-Unternehmers zu befolgen und doch noch einen Einführungskurs zu buchen. «Sagen wir Instruktion», korrigiert er sich geschäftstüchtig, als ich mich als «Kursmuffel» oute. Sie würden es allen gleich erklären, den Kindern & den Erwachsenen – in einfachen Worten. Wirbt er weiter. Ohne Erfolg. Er kann nicht wissen, dass ich Galileo Galilei – «Man kann niemanden etwas lehren, man kann ihm nur helfen, es in sich selbst zu finden.» – und den Mitbegründer der Humanistischen Psychologie Carl R. Rogers – «Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass das einzige das Verhalten signifikant beeinflussende Lernen das Lernen durch Selbst-Entdecken und Selbst-Aneignen ist.» – auf meiner Seite habe und in einem Buch, das diesen Herbst erscheint, auch ein Satz von mir steht, der die Schule vom Kopf auf die Füsse stellen könnte. «Lernen funktioniert nur, wenn die Schüler*innen das Subjekt des Lernens sind, das heisst, in erster Linie müssen die Lernenden Regie führen.»
Ob sein Kollege, den er mir, nach kurzem didaktischem Austausch, für eine Privatlektion – das einzige, was ich mir vorstellen könne, verrate ich ihm – empfiehlt, wirklich nicht versuchen würde, mir etwas beizubringen, und mir, dem Schüler, tatsächlich das Steuer überliesse, weiss ich nicht. Ich stehe in dieser, laut Meteorolog*innen, letzten Sommerwoche noch drei Mal auf so ein Brett, das jedes Mal schmaler wird. Übe, den Gratis-Hinweis des SUP-Profis befolgend, verbissen lautloses Paddeln. Ohne weitere Taucher. Am, gefühlt, letzten Abend des Sommers 2016 schiebe ich mich, mit S. plaudernd, durch kleine Wellen. Sogar bremsen & ausweichen könnte ich. Irgendwie.
13. September 2016
Nachdem Hillary Clinton eine Gedenkveranstaltung zu 9/11, wegen der Folgen einer Lungenentzündung, vorzeitig verlassen hat, wird, auch in Europa, wieder einmal über ihre Gesundheit beziehungsweise ihre Glaubwürdigkeit spekuliert und ihre Eignung als Präsidentin der Vereinigten Staaten in Frage gestellt.
Clinton ist, vermutlich, eine durchtriebene, sicher eine alte Frau, eine fanatische US-Amerikanerin – «the greatest country on earth», preist sie ihr Land vor Kriegsveteranen am 31. August in Cincinnati, betont, die Vereinigten Staaten müssten «die Welt führen» und «die militärische Vorherrschaft weltweit» erhalten – , sie ist, womöglich, eine «Kriegsbegeisterte» (Infosperber, 10.9.2016), und sie gehört zum reichen weissen Establishment. Ist Donald Trump weniger chauvinistisch, berechnend & machtgierig, ist er ärmer, friedfertiger, jünger, verlässlicher & kompetenter?
Das Geschlecht dürfe keine Rolle spielen, heisst es in Quotendiskussionen regelmässig & gerne. Und natürlich wäre, Geschlecht hin oder her, George Shoemaker, dieser im besten Sinne naive, vertrauenerweckende, aufrechte & friedfertige, an Macht nicht interessierte, knapp vierzig Jahre junge, bescheidene & einfache Mann von der Nebenstrasse einer amerikanischen Kleinstadt – der die USA als Land unter vielen sieht – der bessere Präsident als Hillary Clinton. Für die US-Amerikaner*innen und, vor allem, für den Rest der Welt.
Aber George Shoemaker kandidiert nicht. Die Wahl heisst: Clinton oder Trump. Wer jetzt nicht Hillary Clinton wählt, will keine Frau als Präsidentin der Vereinigten Staaten. Auch 2016 nicht.
14. September 2016
Eine demütigende Erfahrung, klagt der alte Freund – wegen eines Unfalls in einem Pflegezentrum gelandet –, sei das alles und meint, zum Beispiel, das Warten – wenn er aufstehen wolle oder zur Toilette müsse. Das Personal ist, offensichtlich, unter grossem zeitlichem Druck. Bisher habe ihm niemand den Screen für TelefonFernsehenRadio erklären können. Und einmal, als er sich auf die Terrasse setzen wollte, habe sich niemand gefunden, die oder der ihn an die Sonne begleitet hätte. Das würde weder Hillary Clinton noch Donald Trump passieren. Er sei, kleiner Aufstand eines kleinen Patienten, gegen ärztliche Anweisung, alleine ins Freie gegangen. Einerseits wird das Leben mit teuren Medikamenten, Apparaten & Behandlungen scheinbar entgrenzt, andrerseits fehlt die Zeit, dieses längere Leben mit kleinen Dienstleistungen lebenswerter & begeisternder zu machen.
16. September 2016
Gestern in der Wochenzeitung gelesen: «Roman Burger, eine gewerkschaftliche Lichtgestalt, ist plötzlich weg.» Heute gibt Unia-Chefin Vania Alleva an einer vom «Grüsel»-Blick übertragenen Pressekonferenz bekannt, der ehemalige & bereits zurückgetretene Regionalleiter der Unia Zürich-Schaffhausen «sei per sofort freigestellt und werde künftig nicht mehr für die Unia arbeiten» (Neue Zürcher Zeitung, 17.9.). Bereits am 8. September hatte Blick online gemeldet: «Unia-Grüsel stolpert über Sex-SMS … Ein roter Stern ist vom Himmel gefallen.» Sexuelle Belästigung in mindestens einem Fall beendet eine der steilsten Karrieren in der schweizerischen Arbeiterbewegung.
Ausgerechnet ein Gewerkschafter. Ausgerechnet ein Junger. Ausgerechnet ein Linker. Als wären Geschlechtersozialisation & das «Konzept Mann» immer noch prägender als soziale Herkunft & Bildung, politische Utopien & Bankkonto. Als könnte die Affäre Burger 2016 mit (fast) denselben Worten kommentiert werden wie der Phall Clinton 1998. «Und für einmal hält das Schweigen nicht», übertitelt die Wochenzeitung ihren Text zur «Krise bei der Unia». Damals stand über einem Tagesanzeiger-Essay von mir der Titel «Das Schweigen der Frauen». «Phällt oder phällt er nicht?» – das war die Frage. Clinton fiel, im Gegensatz zu Burger, nicht. Und ich schrieb: «Der Mann kümmert sich um die Welt. Die Frau sich um sein Privatleben. Diese Lektion inszeniert das amerikanische Präsidenten-Duo fürs patriarchale Lehrbuch. Bill Clintons Gemächte ist in (fast) aller Munde. Aber seine Frau und Mutter beteuert: ‹Alle Anschuldigungen sind unwahr. Absolut.› Der Mann an ihrer Seite beschwört die indiskrete ‹Pressemeute›: ‹Ich muss wieder zu meiner Arbeit für das amerikanische Volk zurückkehren.› Und sie doppelt nach: ‹Wir können uns nicht erlauben, einen Präsidenten abzulenken.› … Wie es wirklich war und ist – wir werden es nie erfahren … Bedeutungslos, welches der Märchen, die uns aufgetischt werden, stimmt. Wichtig ist die Moral von der Geschicht‘: Das Schlimmste, was dem Mann passieren kann, ist nicht, dass ‹es› ihm nachgewiesen wird, sondern dass ‹es› ihm, irgendwann, keine und keiner mehr zutraut.»
Burger kann offensichtlich – und das endet, auch für ihn, bitter – nachgewiesen werden, was bei Clinton nicht gelang. «Die jüngste, die ‹Lewinsky-Affäre› – die Clinton anfänglich ernsthaft zu gefährden schien – machte ihn, gekoppelt mit der männlichen Kriegsgebärde im Irak, ‹stärker› als je zuvor. Die ‹Lewinsky-Affäre› löschte, bis auf weiteres, den für das präsidiale Image weit bedrohlicheren ‹Fall Paula Jones› aus dem öffentlichen Gedächtnis. Den Fall jener Staatsangestellten, vor der er die Hosen heruntergelassen und verlangt haben soll: ‹Kiss it!› Eine Dienstleistung, die dem Präsidenten verweigert wurde. Worauf er gesagt haben soll: ‹Du bist ein kluges Mädchen, das bleibt unter uns› (Facts). Das Mädchen erwies sich – so schnell wird das Opfer zur Täterin – als böses. Und die kommen, bekanntlich, nur in Büchern überallhin … Das Bild des Präsidenten mit zusammengeorgelten Hosen auf den Schuhen und verlorenem Penis macht demonstrativ deutlich: Er kann nicht jede haben. Jede ‹Hausfrau›, jede ‹Schlampe› – beide Chiffren werden Paula Jones angehängt – kann den ‹mächtigsten Mann der Welt›, kann jeden Mann abweisen. Allmacht ade.»
Sie verbindet Burger mit Clinton – die Macht, die blind macht. «Ich denke», zitierte ich im März 1998 den Basler Psychologieprofessor Udo Rauchfleisch, «Clinton ist überzeugt, dass er so unwiderstehlich ist, dass die Frauen ihn nicht verraten» (Sonntagsblick). «Burger schien mehr und mehr in einen Machtrausch zu verfallen», interpretiert der Tagesanzeiger am 16.9.2016 das Verhalten des Gewerkschafters, «was ihn anscheinend in seinem Führungsverhalten und insbesondere auch im korrekten Umgang mit Frauen am Arbeitsplatz beeinträchtigte.» Damals schrieb ich: «Macht macht blind. Das gilt auch für den ganz gewöhnlichen Mann … Blind dafür, dass nicht mehr alle Frauen ‹hochkarätige› sein wollen, die ‹schweigen, wenn sie ein Verhältnis haben mit einem Star› (Eva Gesine Bauer, Sonntagszeitung).» Wobei es im Fall Burger (und vermutlich auch bei Clinton) nicht (nur) um ein «Verhältnis», sondern um sexuelle Belästigung ging. Die 1998 noch vertuscht wurde. 2016 «hält das Schweigen nicht». Was damals galt, ist, zum Glück & wenigstens teilweise, von der gesellschaftlichen Entwicklung überholt. «Männer ‹verrechnen›, Männer ‹verraten› sich. Ohne Absicht. Aber es hilft ihnen, als wär’s von langer Hand geplant. ‹Der Mann› ist sich seiner erotischen Ausstrahlung und sexuellen Potenz weniger sicher als ‹die Frau›. Zu ihrer Inszenierung braucht er immer eine Frau, eine reale oder eine angebliche. Da wird der öffentliche Klatsch zum hilfreichen Potenzbeweis.» Aber eben nur teilweise.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
The american way of life
http://www.konjunktion.info/2016/09/hillary-clinton-neuer-mailverkehr-mit-colin-powell-veroeffentlicht-wie-verwische-ich-meine-spuren/