Chinas Zukunft: «Mit klarem Kopf»
Seit Beginn der Wirtschaftsreform und der Öffnung nach Aussen vor bald vier Jahrzehnten hat sich der Begriff der Führungsgenerationen durchgesetzt. Die erste Generation wird von den «grossen Fünf» bestimmt, nämlich Mao Zedong, dem langjährigen Premier und Aussenminister Zhou Enlai, dem Armeeführer Zhu De, dem Wirtschaftszaren Chen Yun und dem während der Kulturrevolution misshandelten Staatspräsidenten Liu Shaoqi. Auch Deng Xiaoping gehörte dieser Generation an. Die zweite Generation (1976-92) wird von Deng angeführt. Dazu gehörten die Parteichefs Hua Guofeng Hu Yaobang und Zhao Ziyang.
Friedliche Machtübergabe
Mit der dritten Generation hat sich dann die noch heute geltende friedliche Machtübergabe herausgebildet. Alle zehn Jahre wird danach eine neue Führung am Parteitag gewählt, wobei der Parteichef in Personalunion Staatspräsident und Vorsitzender der mächtigen Militärkommission ist. Dieser dritten Führungsgeneration (1992-2003) gehörten unter anderen Parteichef Jiang Zemin und die Premiers Li Peng und Zhu Rongji an. Die am XVI. Parteitag 2002 gewählte vierte Generation wurde durch Parteichef Hu Jintao und Premier Wen Jiabao repräsentiert. Geboren wurde diese Führungsriege in den 1940er-Jahren. Die derzeitige fünfte Generation ist um ein Jahrzehnt jünger und wurde am XVIII. Parteitag 2012 auserkoren mit Parteichef Xi Jinping an der Spitze sowie Premierminister Li Kejiang. Zur engeren Führungselite gehören im weitesten Sinne mehrere Hundert Personen auf nationaler und mehrere Tausend auf Provinz-Ebene.
Um die 60 Jahre alt
Die nächste Führungsgeneration wird am XIX. Parteitag im Herbst selektioniert und wird am XX. Parteitag 2022 die Macht übernehmen. Diese Generation wurde in den 1960er-Jahren geboren und wird bei Amtsantritt wie drei Führungsgenerationen zuvor um die sechzig Jahre alt sein. Die junge und jüngste Generation, zumal die nach 1980 Geborenen, finden sich jedoch in einer radikal veränderten Welt wieder, Lichtjahre entfernt von Mao Dsedong, aber auch von den ersten Wirtschaftsreformern der 80er- und 90er-Jahre.
Auch die allmächtige Kommunistische Partei musste sich nach den Mao-Jahren mit dem «Grossen Sprung nach vorne» und der katastrophalen Hungersnot (1958-61) sowie der Grossen Proletarischen Kulturrevolution (1966-76) neu erfinden. Deng Xiaopings Wirtschaftsreformen und die Öffnung nach Aussen setzten ungeahnte Kräfte frei und veränderten China von Grund auf im Positiven, aber auch in Negativen. So war etwa neulich im sozialen Medium WeChat gar von einem «moralischen Kollaps in einer Gesellschaft» die Rede, «die das Materielle und Geld als absolute Werte» betrachte. Neue Werte waren also gefragt. So wurde Konfuzius – während der Kulturrevolution auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt – wieder hervorgeholt. Am XVII. Parteitag 2007 verkündete der damalige Parteichef Hu Jintao denn auch das konfuzianische Ziel einer «harmonischen Gesellschaft». Auch Religion, vor allem Buddhismus, wurde wieder zum Thema.
Konfuzianische Werte
Trotz Maos Utopien und Radikalismus blieben konfuzianische Werte in der weiteren Gesellschaft jedoch immer präsent. Dazu gehört die traditionelle konfuzianische Pietätspflicht, d.h. die Ehrerbietung der Jungen gegenüber den Alten und vor allem die Pietät gegenüber den Eltern. Diese Pflichten, befand Konfuzius vor zweieinhalbtausend Jahren, sei die «Wurzel der Menschlichkeit». Konfuzius fügte, heute durchaus auch im Sinne der Kommunistischen Partei, hinzu: «Unter denen, welche die Alten achten, gibt es selten Menschen, die gegen die Obrigkeit rebellieren».
Für viele der jüngsten Generation jedoch sind die konfuzianischen Werte zunehmend unzeitgemäss. Die Regierung erliess sogar ein Gesetz, wonach die Kinder verpflichtet werden, ihre Eltern mindestens einmal pro Jahr zu sehen und zu pflegen. Verschiedentlich ist es auch in öffentlichen Verkehrsmitteln wegen Sitzplätzen zu teilweise tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Alt und Jung gekommen. Ihrem Korrespondenten freilich wird in der U-Bahn von Peking jeweils von Jungen und ganz Jungen fast immer ein Sitzplatz angeboten, was in Schweizer Trämlis noch nie der Fall war.
Generationenvertrag
Der ungeschriebene Generationenvertrag ist jedenfalls langsam am Bröckeln. Dies umso mehr, als die bis letztes Jahr gültige Ein-Kind-Familienpolitik den Nachwuchs arg in Bedrängnis bringt. Das einzige Kind muss für vier Grosseltern und zwei Eltern sorgen. Doch schon vor dem jüngsten Generationenkonflikt, gab es Zerwürfnisse zwischen Jung und Alt. In den 1980er- und 1990er-Jahren gab es eine verlorene Generation, die die Schrecken der grossen Hungersnot und der Kulturrevolution erlebt hatte, bei Beginn der Wirtschaftsreform nach 1978 aber schlechte Karten hatte und zu den Verlierern gehörte. Der jungen und jüngsten Generation dagegen geht es ökonomisch vergleichsweise gut, sie hat aber von der jüngsten Geschichte trotz parteilichem Geschichtsunterricht nur noch wenig bis nichts mitbekommen. Für die nach 1980 Geborenen ist sogar der Tiananmen-Zwischenfall von 1989 nur ein kaum wahrnehmbarer Schatten.
Generation Internet
Über den neuesten Generationenkonflikt ist bislang wenig Erhellendes publiziert worden. Diese Lücke hat nun der englische Journalist Alec Ash ausgefüllt mit seinem wundervollen Buch «Wish Lanterns – Young Lives in New China». Ash lebt seit zehn Jahren in China und gehört – dies vor allem – der gleichen 1980er-Generation an wie die von ihm beschriebenen Chinesinnen und Chinesen, alle geboren zwischen 1985 und 1990. Am Beispiel dieser sechs Lebensläufe wird das moderne Leben der Generation Internet abgebildet: Stadt und Land, Verkehr, Korruption, Eltern, patriotische Erziehung, Konfuzius, grosse Innen- und Aussenpolitik, Nahrungsmittelsicherheit, Musik, Literatur, Rebellion, der Westen, Demokratie und vieles mehr. «Wish Lanterns» bringt mehr Durch- und Klarsicht als manches gelehrte Buch. Beispielhaft sei die 1990 geborene Kong Xiaorui, genannt Mia, zitiert. Alles was sie anstrebe, schreibt Autor Ash, sei ihre Zukunft selbst und unabhängig zu bestimmen. «Es war nicht leicht», meint Mia, «aber es war wert, dafür zu rebellieren». Viele dieser Generation, fasst Ash zusammen, «suchen Zweck, Bedeutung und Sinn im Leben jenseits dem Nachhecheln nach materiellem Erfolg». Immerhin zählt die jüngste chinesische Generation 350 Millionen Männer und Frauen.
Baden in Beidaihe
Ob sich die derzeit herrschende fünfte Führungsgeneration der über Sechzigjährigen den Träumen und Wünschen der jüngsten Generation der Zwanzig- und Dreissigjährigen annehmen wird? Das weiss wohl nur Konfuzius und der siebenköpfige Ständige Ausschuss des Politbüros mit Parteichef Xijinping «im Kern». Der entscheidende Parteitag naht im Herbst. Wie jeden Sommer werden fünfzig bis hundert Männer der obersten Parteiführung an der Bohaibucht in den Villen am Lianfeng-Berg inmitten von Pinien- und Zedernwäldern eine Vorauswahl der Sechsten Generation treffen, die im Zentralkomitee, im Politbüro oder gar im Ständigen Ausschuss des Politbüros Einsitz nehmen und dann 2022 das Szepter übernehmen wird.
Die KP-Führer werden in der Sommerfrische am Meer laut der Tageszeitung Global Times, dem Ableger des Parteiblattes Renmin Ribao, «mit klarem Kopf über die Aufgaben der Zukunft entscheiden». Werden die in den 1950er- und 1960er-Jahren geborenen neuen Führer «mit klarem Kopf» die Befindlichkeit und Aspirationen der 1980er-, 1990er- und 2000er-Jahrgänge verstehen und mitberücksichtigen? Die 2010er- und 2020er-Jahrgänge werden es in der Mitte dieses Jahrhunderts erfahren.
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Alec Ash: Wish Lanterns – Young Lives in New China. Picador, London 2017.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.