Chinas Volkskongress: Scharnier zwischen Staat und Partei
Einmal im Jahr tagt in Peking der Nationale Volkskongress. Rund 3000 Delegierte, von den Provinz-Kongressen gewählt, versammeln sich jeweils im März in der Grossen Halle des Volkes am Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen. Neben dem jährlichen Peking-Powwow erledigt ein Ständiger Ausschuss die legislativen Geschäfte der Volksrepublik.
Keine kontroversen Debatten
Die grösste Volksvertretung der Welt hört und genehmigt den Rechenschaftsbericht der Regierung, diesmal von Premier Li Kejiang vorgetragen. Wichtige Gesetzesvorlagen werden verabschiedet. Man diskutiert in Gruppen – hin und wieder auch heftig. Im Plenum jedoch herrscht Einigkeit, und es entstehen keine kontroversen Debatten.
Die hohen und höchsten Amtsträger, darunter nur wenige Frauen, sind in Diskussionsgruppen und Pressekonferenzen vertreten. Sie skizzieren die Wirtschafts- und Sozialpolitik der kommenden zwölf Monate. Diese Richtlinien verbreiten die Staatsmedien. Ob Gesetze oder Personalfragen der Regierung: Alles ist bis ins Detail choreografiert. Noch nie wurde in der 64-jährigen Geschichte des Volkskongresses ein Gesetz zu Fall gebracht, noch nie ein Rechenschaftsbericht zurückgewiesen.
Theoretische Trennung von Partei und Staat
Gemäss Verfassung ist der Nationale Volkskongress das höchste Staatsorgan, in diesem Jahr mit genau 2970 Abgeordneten. Der Volkskongress ist das Scharnier zwischen Staat und der allein regierenden, allmächtigen Kommunistischen Partei Chinas. Die theoretische Trennung von Partei und Staat, vom grossen Revolutionär und Reform-Übervater Deng Xiaoping Anfang der 1980er-Jahre eingeführt, wird jetzt wieder rückgängig gemacht. Zunächst in der Verfassung. Dort heisst es jetzt in Paragraph 2, Absatz 2: «Die Führung durch die Kommunistische Partei Chinas ist das grundlegende Merkmal des Sozialismus Chinesischer Prägung.» Seit längerem heisst es aber auch bereits in der Verfassung, dass der Nationale Volkskongress «den Willen der Partei in den Willen des Staats zu übersetzen» habe.
Nationale Überwachungskommission
Per Gesetz wurden nun auch andere Bereiche zwischen Partei und Staat zusammengelegt. Das gilt insbesondere für den beim Volk beliebten Kampf gegen die Korruption. Die neue Superbehörde trägt den Namen «Nationale Überwachungskommission», in welcher die gefürchtete «Disziplinar-Kontrollkommission» der KP eine tragende Rolle spielen wird. Nicht nur Parteimitglieder unterstehen nun dieser Disziplin, sondern vom Dorfschullehrer und anderen «Fliegen» bis hin zu den obersten Amtsträgern, im Anti-Korruptions-Jargon «Tiger» genannt. Was seit vergangenem Oktober bereits in der Parteiverfassung stand, wurde zudem nun auch in die Staatsverfassung übernommen, nämlich «die Xi-Jinping-Gedanken über den Sozialismus Chinesischer Prägung in einer neuen Ära». Nur Mao und Deng ist Gleiches zuteil geworden, nicht aber Xis Vorgänger Hu Jintao und Xis mächtigem Vor-Vorgänger Jiang Zemin.
«Wille von Partei und Volk»
Die im Ausland am meisten beobachtete Entscheidung, nämlich die Aufhebung der Amtszeitbeschränkung für den Staatspräsidenten, ging in der Grossen Halle des Volkes erwartungsgemäss glatt über die Bühne. 2958 Abgeordnete stimmten elektronisch mit Ja, wie auf der Anzeigetafel in der Grossen Halle des Volkes zu entnehmen war, zwei stimmten mit Nein und drei enthielten sich der Stimme. Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping kommentierte trocken, das Resultat widerspiegle «den Willen von Partei und Volk». Abgeordnete äusserten sich dahingehend, dass die Verfassungsänderung «der dringende Wunsch des Volkes» sei und die «uneingeschränkte Unterstützung der Massen» habe. Das Parteiblatt «Renmin Ribao» (Volkszeitung) schrieb kühl, die Aufhebung der Amtszeitbeschränkung bedeute «nicht automatisch lebenslänglich regieren». Widerspruch gab es in den sozialen Medien. Ein Bekannter von mir meinte leicht ironisch, Xi Jinping sei jetzt Vorsitzender von allem. Negative Meinungen auf WeChat oder Weibo, dem chinesischen Pendant von Twitter, verschwanden innert weniger Minuten vom Bildschirm. Auf der Suchmaschine Baidu wurden Suchanfragen zensiert.
«Stabilität» und «Harmonie»
Wie gross allerdings der Widerstand gegen die Aufhebung der Amtszeitbeschränkung tatsächlich ist, kann kaum verlässlich festgestellt werden. Zu vermuten ist, dass der Widerstand nicht allzu gross ist und sein wird, solange die KP Chinas das tut, was sie in den letzten vierzig Jahren stets vortrefflich getan hat, nämlich mehr Wohlstand zu generieren. Ob die mögliche Verlängerung der Amtszeit zur in China stets so geforderten «Stabilität» und «Harmonie» führen wird, ist schwer zu beantworten. Gleichfalls die Frage, ob durch die Amtszeitverlängerung die Machtnachfolge innerhalb der KP nach 35 Jahren reibungslosem Übergang nun erschwert wird. Sicher ist nur, das Reich der Mitte braucht für die kommenden Jahre oder gar Jahrzehnte dringend soziale und politische Stabilität. Denn China steht vor immensen wirtschaftlichen und sozialen Problemen sowie vor grossen geopolitischen Herausforderungen. Schon vor zwei Jahren sagte Parteichef Xi: «Wir stehen an einem Wendepunkt».
Checks and Balances
Der 65 Jahre alte Xi wird vermutlich in fünf Jahren nochmals eine fünfjährige Amtszeit anhängen und innerhalb der Partei mit den Checks and Balances der verschiedenen Fraktionen einen Nachfolger aufbauen. Xi selbst war übrigens kurz vor seinem Machtantritt 2012 noch keineswegs der eindeutige Führungskandidat. Für weitere Reformen und mithin Stabilität werden nun Xis langjährige Gefolgsleute sorgen. Zum Beispiel Wirtschaftsberater Liu He, Harvard-Absolvent, wird möglicherweise Vize-Premier, verantwortlich für das Wirtschafts- und Finanz-Portfolio. Xis engster Weggefährte, Wang Qishan, der im Anti-Korruptionskampf gegen «Fliegen» und «Tiger» gnadenlos vorging, hat sich am letzten Parteitag wegen der ungeschriebenen Altersgrenze von 68 Jahren zurückgezogen und soll nun als Vizepräsident wieder auftauchen, offenbar betraut mit der Übersicht über Aussenpolitik und geopolitische Fragen.
Die «Scheinparlament»-Keule
Bei der Volkskongress-Berichterstattung in westlichen Medien wird stets gleich zu Beginn die Schein-Keule ausgepackt. Mit dem abschätzigen Wort «Scheinparlament» soll klar gemacht werden, dass das, was in der Pekinger Grossen Halle des Volkes passiert, nichts als Augenwischerei und Austricksen des chinesischen Volkes sei. Neben Scheinparlament ist oft auch die Rede von einem Kopfnicker-Parlament, einem Ja-Sager-Parlament. Auch das Wort «Schwatzbude» taucht hin und wieder auf, ein Wort, das in der Schweiz schon SVP-Blocher gebraucht hat, um eine demokratische Institution – National- und Ständerat – madig zu machen, in der er selbst jahrelang das grosse Wort führte und eben geschwatzt hat…
Konvergenz-Theorie
Viele dieser Scheinparlament-Berichterstatter erliegen heute dem gleichen Irrtum wie nicht wenige China-Korrespondenten in den 1980er-Jahren. Damals galt die Konvergenz-Theorie, wonach bei steigendem Wohlstand fast automatisch Demokratie folgt. Als Beispiele gelten etwa Südkorea oder Taiwan. Allerdings gibt es zur gleichen Zeit auch die Gegenbeispiele Singapur und Hong Kong. Bei der Tragödie 1989 auf Tiananmen, als die Volksbefreiungsarmee den Arbeiter- und Studentenprotest blutig niederschlug, waren die Konvergenz-Korrespondenten masslos enttäuscht, obwohl sie doch längst hätten wissen müssen, dass Reformübervater Deng Xiaoping mit westlicher Demokratie nie etwas am Hut hatte. Die westliche, eurozentrische Betrachtungsweise verstellte und verstellt den Blick, interessanterweise selbst bei sinologisch gebildeten Korrespondenten.
Mehr Transparenz
Klar ist allerdings auch, dass bei steigendem Wohlstand mehr Transparenz gefordert ist. Das ist bis zu einem gewissen Grad auch in China eingetreten. Wie die allmächtige KP das in Zukunft handhaben wird, bleibt abzuwarten. Seit dem Beginn der Reform vor vierzig Jahren haben die Mächtigen der Volksrepublik China jedoch immer beteuert, eigene Antworten zu suchen und zu finden. Diese Einstellung lässt sich unschwer auch in der langen Geschichte des Reichs der Mitte zurückverfolgen.
Deshalb sollte der Nationale Volkskongress – auch von westlichen Journalisten – als das gesehen werden, was er tatsächlich ist: eine von der KP dirigierte, autoritäre Institution mit 3000 Abgeordneten für ein 1,4-Miliarden-Volk. Darüber kann auch ohne Scheinparlament-Keule sachlich berichtet werden. Zwar sind die chinesischen Medien auch nicht zimperlich, wenn sie über westliche Politik oder Parlamente berichten. Nie aber wurde beispielsweise der amerikanische Kongress mit der chinesischen Volkskongress-Latte gemessen und als Chaos-Parlament verunglimpft. Schon Konfuzius sagte, es sei «besser ein kleines Licht anzuzünden» – in unserem Fall unaufgeregt über den Volkskongress zu berichten – «als die Dunkelheit zu verfluchen».
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.