China: Mehr Kinder fürs Wachstum
Mao Zedong verhöhnte einst die USA als «Papiertiger». Ein von den USA angezettelter Atomkrieg, so der «Grosse Steuermann», könne China nichts anhaben, denn auf hundert Millionen Menschen mehr oder weniger komme es in China nicht an. Kurz, Maos Bevölkerungs-Credo bestand in der Überzeugung, dass der Nation am besten mit einem möglichst hohen Bevölkerungswachstum gedient sei. Diese Position war zwar nicht unbestritten, doch Mao setzte sich durch. Während seines Regnums von 1949 bis 1976 vermehrte sich Chinas Bevölkerung von knapp über 500 auf etwas über 900 Millionen Einwohner.
Mit Beginn der Reform 1979 änderte sich alles. Der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping setzte Wachstum der Wirtschaft als oberste Priorität. Eine weitere ungebremste Bevölkerungsexplosion, davon war Deng überzeugt, gefährde dieses Ziel und mithin das Wohlergehen des Volkes. So wurde 1980 die Ein-Kind-Familienpolitik eingeführt. Seitdem hat Chinas Führung diese Politik immer wieder den sozialen und demografischen Verhältnissen angepasst. Den Nationalen Minderheiten standen schon immer mehrere Kinder zu. Bauern durften ein zweites Kind haben, falls das erste Kind ein Mädchen war. Denn im ländlichen China muss der Sohn für die betagten Eltern sorgen. Männliche Nachkommen sind gewissermassen die Altersvorsorge der Familie. Als die Geburtenraten sanken, wurde auch in einigen Städten die Familienpolitik geändert. Wenn beide Ehepartner aus einer Ein-Kind-Familie stammten, durften sie zwei Kinder haben.
Gesamtheitlich betrachtet ist die staatlich verordnete Familienplanung in China ein grosser Erfolg. Ohne die Ein-Kind-Familienpolitik wäre die Bevölkerungszahl um 400 Millionen höher. Das heisst, es lebten heute anstatt 1,34 über 1,7 Milliarden Chinesinnen und Chinesen. Mit unübersehbaren sozialen, wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen.
Gravierende Auswirkungen auf die Gesellschaft
Die negativen Seiten der chinesischen Ein-Kind-Politik wurden über die Jahre immer wieder diskutiert und keineswegs – wie westliche Medien oft glauben machen – unter den Tisch gekehrt und übergangen. Anfangs waren es Zwangsabtreibungen, die viel zu Reden gaben. Hinzu kam das Problem mit den verwöhnten, aber auch extrem geforderten Einzelkindern, den «kleinen Prinzen und Prinzessinnen». In den letzten zehn Jahren wurde vor allem die rasche Überalterung der Gesellschaft und ein drohender Arbeitskräftemangel diskutiert. Die Finanz- und Wirtschaftsmetropole Shanghai hat deshalb schon vor Jahren die Ein-Kind-Familienpolitik gelockert.
Für Diskussionen sorgt auch das ungleiche Verhältnis der Geschlechter. In China werden viel mehr Jungen geboren als Mädchen. Viele Männer haben es deshalb schwer, eine Ehefrau zu finden. Derzeit kommen auf 118 Männer nur 100 Frauen, während es im internationalen Durchschnitt 104 bis 106 Männer auf 100 Frauen sind. Ob das allerdings in direktem Zusammenhang mit der Ein-Kind-Familienpolitik steht, bezweifeln – im Gegensatz zu westlichen Medien und Experten – viele chinesische Fachleute. Denn ein ähnliches Missverhältnis der Geschlechter gibt es beispielsweise auch im wirtschaftlich hochentwickelten Südkorea oder im Schwellenland Indien, wo jedes Ehepaar so viele Kinder haben kann, wie es will.
Geburtenkontrolle bleibt Staatsangelegenheit
Auf die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Ein-Kind-Politik hat Chinas Führung mit Augenmass und Flexibilität reagiert. Neuestes Beispiel: Das Plenum des Zentralkomitees und danach der Ständige Ausschuss der Volkskongresses haben zum Jahresanfang eine weitere Lockerung verfügt. Jetzt muss nur noch ein Ehepartner aus einer Einkind-Familie stammen, um eine Familie mit zwei Kindern zu gründen. In den Gremien von Partei und Volkskongress sowie in den Medien wurde in den letzten Wochen immer wieder darauf hingewiesen, dass die Situation auch in Zukunft kritisch hinterfragt und korrigiert werden müsse, denn ein für alle Zeiten gültiges Allheilmittel gebe es nicht.
Die chinesische Familienpolitik ist mit andern Worten ein gutes und anschauliches Beispiel dafür, wie im Reich der Mitte seit über dreissig Jahren Wirtschafts- und Sozialreformen in die Wirklichkeit umgesetzt werden. Reform-Übervater Deng Xiaoping formulierte es so: «Den Fluss überqueren und dabei immer die Steine an den Fusssohlen spüren». Heute freilich ist alles etwas komplizierter geworden und Kommentatoren verwenden nun nicht mehr die Fluss-Metapher, sondern zitieren Premier Li Keqiang mit den Worten, Chinas Reformen seien jetzt in der «Tiefwasserzone» angelangt.
Viele Paare können sich ein zweites Kind nicht leisten
In den Städten des reichen chinesischen Küstengürtels ist die Ein-Kind-Familienpolitik mehr oder weniger akzeptiert. Nur wenige Ehepaare wünschen sich ein zweites Kind. Erziehung, Schule, Wohnverhältnisse – all dies sind kostspielige Hinderungsgründe. Mit der raschen Urbanisierung wird sich wohl diese Einstellung im kommenden Jahrzehnt auch auf das restliche Land im Zentrum und im Westen ausdehnen.
Eine Ungerechtigkeit verzeihen jedoch weder ländliche noch urbane Chinesinnen und Chinesen, wie heftige Debatten im chinesischen Twitter-Ersatz Sina Weibo vor Augen führen. Schon immer konnten nämlich die Reichen, Schönen, Berühmten und Parteibonzen ungestraft mehrere Kinder in die Welt setzen. Das Beispiel des Film-Regisseurs Zhang Yimou diente der Propaganda und den Medien als warnendes Beispiel. Zhang – Regisseur international preisgekrönter Filme wie der «Roter Sorghum» und Schöpfer des olympischen Eröffnungs- und Schlussspektakels in Peking 2008 – soll Vater von insgesamt sieben Kindern sein. Es waren dann «nur» vier, wie sich herausstellte. Zhang entschuldigte sich in aller Form und muss nun eine Busse in zweistelliger Millionenhöhe gewärtigen. Denn in China, so die Moral der Propaganda-Geschichte, sind alle vor dem Gesetze gleich.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Peter Achten arbeitet seit Jahrzehnten als Journalist in China.