China: Fairness als Lebensader des Rechtsstaats
Das vierte ZK-Plenum der KP Chinas hat getagt. Die Beschlüsse sind gefasst. Die Schlusserklärung ist reich an hehren Prinzipien und arm an Details. Wie immer wird es Wochen und Monate dauern, bis der Nebel sich lichtet und konkrete Massnahmen nach und nach sichtbar werden. Wenn überhaupt. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn China zu regieren, bedarf komplexer Mechanismen.
Rechtsstaat auf Chinesisch
Schon Deng Xiaoping und danach alle Parteichefs der letzten 25 Jahre haben sich aufgerieben an der entscheidenden Frage, wie sich das Zentrum gegen die Peripherie durchsetzen kann. Zwar wird China autoritär durch die KP regiert, doch Gesetze und Dekrete werden in der Provinz, im Kreis, in der Präfektur und im Dorf oft gar nicht oder nur schleppend und halbbatzig durchgesetzt. Auch jetzt, beim vierten Plenum, hat die Partei ihren Führungsanspruch erneut mit Nachdruck unterstrichen. Im konkreten Fall betrifft dies vor allem das Rechtswesen. Parteioffiziell liest sich das so: «Der sozialistische Rechtsstaat muss die Führung der Partei stärken und die Führung der Partei muss sich auf die sozialistische Rechtsstaatlichkeit verlassen können.»
Die Schlusserklärung der Plenarsitzung, die sich erstmals ausschliesslich dem Thema Rechtsstaat widmete, skizziert die generelle Linie. Die Pflicht zur Rechenschaft von Entscheidungsträgern, eine grössere Rolle der Verfassung im Justizsystem, eine Reduktion der administrativen Eingriffe ins Rechtssystem oder erstmals der Vorschlag von überregionalen Gerichten und Staatsanwaltschaften sind in den Beschlüssen enthalten. Das alles mündet auf Partei-Chinesisch in eine «Sozialistische Rechtsstaatlichkeit chinesischer Prägung». Im Schluss-Communiqué wird das schon fast poetisch umschrieben: Zu schaffen sei «eine soziale Atmosphäre, in der die Einhaltung der Gesetze heldenhaft und deren Missachtung schändlich ist».
Missstände im Gerichtswesen
Die Partei will damit dem breiten Unwillen im Volk über offensichtliche Missstände begegnen. Enteignete Bauern, unbezahlte Fabrikarbeiter, zu Unrecht vor Gericht Gezerrte und Verurteilte, Umweltverschmutzung, kaum vorhandene soziale Rettungsnetze (Krankenkassen oder Renten) und vieles mehr – sogar die staatlich kontrollierten Medien sind voller Geschichten, in denen solche Übel dargestellt und kritisch hinterfragt werden. Die amtliche Nachrichten-Agentur Xinhua (Neues China) kommentiert: «Fairness ist die Lebensader des Rechtsstaates.»
Doch wie soll das alles in der Praxis umgesetzt werden? Einige Hinweise sind bereits in der Schlusserklärung zu erkennen. So sollen zum Beispiel die Richter und Staatsanwälte besser geschult und auch besser bezahlt werden. Damit könnten Einmischungen in die Justiz auf lokaler Ebene, vor allem von Parteikader auf unterer und unterster Ebene – den «kleinen Kaisern» – unterbunden werden. Das jedoch ist eine Sisyphus-Arbeit. In China gibt es 3500 Gerichtshöfe, rund 25’000 Richter und nochmals so viele Staatsanwälte. Weit über 500 Fälle hat jeder pro Jahr zu bearbeiten. Und das bei Salären weit unter dem Niveau der Staats- und vor allem der Privatwirtschaft – bei gleicher Qualifikation. Richter und Staatsanwälte werden meist von den Lokalregierungen bezahlt. Die Klagen über Einmischung und fehlenden Respekt vor dem Gesetz sind deshalb nicht selten.
Erste Fortschritte
Doch vieles hat sich seit 1997 bereits verbessert. Damals wurde am 15. Parteitag «die Herrschaft des Rechtes» erstmals als Strategie-Ziel verabschiedet und zwei Jahre später in die Verfassung aufgenommen. Ausgediente Militärs und Polizisten ohne jede juristische Ausbildung arbeiten nicht mehr wie früher im Justizsystem. Im vergangenen Jahr wurde «Erziehung durch Arbeit» abgeschafft, das heisst Wegsperren ohne Gerichtsurteil. Und ein Todesurteil eines Lokal- oder Provinzgerichtes muss nun zwingend vom Obersten Gericht geprüft werden.
Die Chinesinnen und Chinesen haben dem Ausgang des Plenums mit einiger Spannung entgegengesehen. Es geht um viel. China steht nach 35 erfolgreichen Reformjahren an einer Wende. Das Wirtschaftsmodell, basierend auf Export, Investitionen und Schulden, muss radikal verändert werden. Ziel ist mehr Innovation, Produktivität, Binnennachfrage und Konsum. Die Lösungen sind umso schwieriger, als – parteioffiziell – die Wirtschaftsreformen «eine kritische Phase in einem auch international komplizierten und schwierigen Umfeld» erreicht haben. Noch nie seien die Risiken und Herausforderungen für die Parteiführung so gross gewesen.
Ohne faire Justiz keine soziale Harmonie
Natürlich ist «The Rule of Law» westlicher Prägung mit dem von China angestrebten «sozialistischen Rechtsstaat» nicht zu vergleichen. Gewaltenteilung zum Beispiel gibt es im chinesischen System nicht. Die Partei hat das letzte Wort. Dennoch: China bewegt sich in die richtige Richtung. «Renmin Ribao» (Volkszeitung), das Sprachrohr der Partei, schreibt: «Eine faire, transparente und unabhängige Justiz sind feste Bestandteile eines modernen Rechtsstaates. Das weiss auch Chinas Kommunistische Partei.» Ohne minimale Rechtssicherheit gibt es keine soziale Harmonie und wenig Aussicht auf erfolgreiche Wirtschaftsreformen.
Aus chinesischer Perspektive sind auch andere Rechtssysteme nicht ohne Mängel. Zum Beispiel lässt sich am US-amerikanischen Justizsystem einiges kritisieren. Jedes Land, so die chinesische Überzeugung, müsse aufgrund der eigenen Geschichte und der eigenen Gegebenheiten handeln.
Herrschaft durch das Recht
Auf der Hongkonger Website Oriental Daily News kritisierte der Menschenrechtsanwalt Tin Biao die chinesischen Bemühungen in unverkennbarer britischer Rechtstradition: «Das Geschwätz vom Rechtsstaat ist wie ein Hahn, der vom Eier legen träumt.» Doch die Fortschritte der letzten zwanzig Jahre im chinesischen Rechts- und Justizsystem sind keineswegs Geschwätz. Es sind Fakten, die oft aus westlicher, eurozentristischer Betriebsblindheit nicht wahrgenommen werden. Natürlich bleibt noch viel zu tun. Das weiss auch die Partei, wie das Vierte ZK-Plenum gezeigt hat.
Anders formuliert: Was in China durchaus mit einem gewissem Erfolg praktiziert wird, ist nicht Herrschaft des Rechts, sondern Herrschaft durch das Recht.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Peter Achten arbeitet seit Jahrzehnten als Journalist in China.