China: Der Rechtsstaat und die Partei
Das jährliche Plenum des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Chinas ist nicht der Stoff, aus dem westliche Schlagzeilen gemacht werden. Zu langweilig. Und doch, für Chinesinnen und Chinesen hat das Plenum Konsequenzen. Einmal im Jahr geht es um Chinas Zukunft.
Das Macht-Powwow auf höchster Ebene in Peking tagt in der Regel einmal im Jahr. Hinter verschlossenen Türen brüten 205 Vollmitglieder des Zentralkomitees der KP und 171 Alternativ-Mitglieder ohne Stimmrecht über Lösungen für die wirtschaftliche, soziale und politische Zukunft des Reichs der Mitte. Das ZK wird jeweils am Parteitag von rund 2500 Delegierten für fünf Jahre gewählt. Der letzte Parteitag fand vor zwei Jahren statt, als – gut geplant und friedlich – nach zehn Jahren ein Machtwechsel an der Spitze stattfand und Partei-, Armee- und Staatschef Xi Jinping und Premier Li Kejiang die oberste Stufe der Macht erklommen.
Die allmächtige Partei
Nach dem Prinzip des «Demokratischen Zentralismus» werden in der 85 Millionen Mitglieder zählenden KP die Leitungsfunktionen theoretisch von unten nach oben gewählt: Der Parteitag wählt das ZK, das ZK wählt das 25-köpfige Politbüro, dieses wiederum wählt das aus sieben Männern bestehende Machtzentrum, den Ständigen Ausschuss des Politbüros. Die Weisungsbefugnis verläuft jedoch zwingend von Oben nach Unten. Alles wird vom Zentrum fein orchestriert und abgestimmt.
Innerhalb der Partei gibt es natürlich Meinungsverschiedenheiten und diverse Seilschaften. Genaues ist kaum zu erfahren, denn die Entscheidungen werden hinter dem Vorhang getroffen. Grüntee-Blätter lesen ist eine Analyse-Kunst, die nach meiner Erfahrung Laobaixing – ganz gewöhnliche, hart arbeitende Chinesinnen und Chinesen – sehr gut verstehen, bestimmt besser als die meisten Ausland-Korrespondenten und Experten. Kommt hinzu, dass im Zuge der Modernisierung in den vergangenen 35 Jahren die Partei und die Regierung sehr viel offener geworden sind in ihrer Informations- und Propagandapraxis. Im Zeitalter der Instant-News und des digitalen Gezwitschers ist es jedoch mühsam und zeitraubend, wenn auch oft erhellend, die langen, dröge geschriebenen offiziellen Verlautbarungen zu lesen und kritisch zu hinterfragen.
In welche Richtung es läuft, beschliessen in letzter Instanz die sieben Männer des Ständigen Politbüro-Ausschusses. Sie halten in der Partei und im Staat alle wichtigen Machthebel in der Hand. Xi Jinping zum Beispiel ist nicht nur Parteichef, sondern auch Vorsitzender der entscheidenden Militärkommission, er überwacht eng die Disziplinarkommission der Partei und fungiert als Staatspräsident. Dem Ständigen Ausschuss gehören beispielsweise auch Premierminister Li Kejiang oder der Vorsitzende des Nationalen Volkskongresses (Parlament) Zhang Dejang sowie die Verantwortlichen für die innere Sicherheit, Parteidisziplin und die Aussenpolitik an.
Xi macht Nägel mit Köpfen
Seit seinem Machtantritt vor zwei Jahren hat Xi Jinping zunehmend an Statur gewonnen. Er hat in mancherlei Hinsicht die Schraube angezogen, vom Kampf gegen die Korruption bis hin zur Internet-Zensur und zur Kontrolle der schönen Künste. Er lässt die «Massen» den «Chinesischen Traum» träumen und greift hin und wieder auf ideologische Floskeln des «Grossen Steuermanns» Mao zurück. Anders als Mao bemüht Xi sich aber auch um die Lehren der alten Philosophen, vor allem natürlich um Meister Kong (Konfuzius), aber auch um Mencius oder den Legalisten Han Fei. Der Schwerpunkt bei alledem liegt bei Hierarchie, Paternalismus, Gehorsam und absoluter Vormacht der Partei.
Im Volk ist Xi äusserst beliebt. Bereits werden Anhänger und Teller mit seinem Konterfei als Memorabilia in Touristenläden rund um den Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen angeboten. Xi, so wird es von den «Massen» interpretiert, macht Nägel mit Köpfen. Ein Beispiel dafür ist sein gnadenloser Kampf gegen Korruption, bei dem sowohl «Tiger», also hohe Tiere, wie auch «Fliegen», also kleine Beamte, buchstäblich über die Klinge springen müssen.
Xis Auftritte im Ausland, besonders aber im Inland, sind bis ins Detail inszeniert. Erstmals spielt auch Xis Ehefrau als First Lady ein Rolle. Sie ist elegant und war in China lange vor ihrem Ehemann ein Mega-Star. Dreissig Jahre lang war Peng Liyuan die berühmteste Sängerin des Landes. So macht denn unter dem Volk ein Witz über den Parteichef die Runde. Wer ist Xi Jinping schon wieder? Antwort: der Ehemann von Peng Liyuan.
Reformen im sozialen und wirtschaftlichen Bereich
Parteichef Xi Jingping, noch bis 2022 im Amt, hat zusammen mit dem ZK und dem Politbüro in relativ kurzer Zeit schon viele wichtige und richtige Entscheidungen getroffen. Jetzt aber, am vierten Plenum, geht es ums Eingemachte, ähnlich wie im Jahr 1978, als der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping ebenfalls an einem Plenum dem Klassenkampf abschwören liess und Wirtschaftsreformen zum Durchbruch verhalf.
Nach 36 beispiellos erfolgreichen Reformjahren steht China vor einer Wende. Das Wirtschaftsmodell, basierend auf Export, Investitionen und Schulden muss radikal verändert werden. Ziel ist mehr Binnennachfrage und Konsum sowie eine marktgerechtere Umschichtung von Finanzmitteln. Die Herausforderungen sind gross. Es geht um die Begrenzung der krassen Einkommensunterschiede, um die Einführung eines Sozialversicherungs-Systems, um die Klärung und Aufarbeitung der bäuerlichen Nutzungsrechte des Eigentums, um das Meldesystem (Hukou) der rund 250 Millionen Wanderarbeiter, die keinen Zugang zur städtischen sozialen Infrastruktur haben. Auch Korruption, Nepotismus, Pflichtverletzung von Beamten und Polizei, Cliquenbildung in Partei und Verwaltung sollen bekämpft und korrigiert werden.
Ökonomisch soll das Banken- und Finanzsystem von Grund auf überholt werden und, so Parteichef Xi, den Marktkräften in Zukunft grössere Entfaltungsmöglichkeiten eingeräumt werden. Das Wachstum der chinesischen Volkswirtschaft ist in den letzten Jahren markant gesunken. Von über 10 Prozent vor vier Jahren auf derzeit knapp über 7 Prozent. Das hat mit dem weltweiten konjunkturellen Umfeld zu tun. Aber nicht nur. Parteichef Xi sagt, dass China ohne Problem schneller hätte wachsen können, doch das wollte man nicht. Nachhaltigkeit und Qualität des Wachstums sind längerfristig betrachtet den ökonomischen Planern wichtiger als Quantität.
Zu einer harten Landung wird es wohl nicht kommen. Auch die Immobilien-Blase ist nach Meinung chinesischer Ökonomen unter Kontrolle. Denn anders als in den USA, wo man ohne Eigenkapital Wohneigentum erwerben konnte, braucht es dafür in China mindestens 30 Prozent Eigenkapital. Damit sind die Hürden recht hoch. Zudem ist die westliche Vorstellung falsch, dass im Reich der Mitte die Staatsbetriebe nach wie vor bestimmend seien. Zu Beginn der Reform 1979 waren Staatsbetriebe noch für 75 bis 80 Prozent der Produktion verantwortlich, heute sind es noch 25 Prozent. Staatsbetriebe bestritten vor zwanzig Jahren noch zwei Drittel aller Exporte, heute sind es nur noch 11 Prozent. Privatunternehmen beschäftigen heute die überwiegende Zahl von Arbeiterinnen und Arbeitern und schaffen mit Abstand am meisten neue Arbeitsplätze. Bei Staatsbetrieben sind gerade noch 13 Prozent der städtischen Angestellten in Lohn und Reis. Richtig dagegen ist, dass in strategischen Bereichen wie etwa Rüstung, Telecom, Eisenbahn oder Energie nach wie vor die Staatsunternehmen führend sind. Wie anderswo im Westen auch, notabene.
Mehr Rechtsstaatlichkeit und Transparenz
Um all die ehrgeizigen Ziele durchzusetzen, die bereits vor einem Jahr am dritten Plenum angedacht und zum Teil angegangen worden sind, hat sich das Vierte ZK-Plenum des 18. Parteitags – chinesischer Kürzel 4/18 – das Grundthema «Rechtsstaatlichkeit» gegeben. Bereits im Juli formulierte das die Parteiführung so: «Das Land durch Recht regieren». Der Hintergrund: Neben Korruption vor allem Arbeitskonflikte, Umweltverschmutzung, Streit um bäuerliche Landrechte oder Lebensmittelsicherheit. Die Partei nimmt diese Probleme sehr ernst, denn falls sie nicht gelöst werden, droht soziales Chaos (Luan). Das fürchteten schon die Kaiser, denn nicht selten verloren sie dadurch das Mandat des Himmels, das heisst ihre Macht. «Das Volk freut sich, dass Rechtsstaatlichkeit gestärkt wird», schreibt deshalb die «Global Times», ein Ableger des Parteiblattes «Renmin Ribao» (Volkszeitung). Sofort wird aber hinzugefügt, Rechtsstaatlichkeit könne ausschliesslich unter der Führung der Partei entwickelt werden. Warnend schreibt ein Kommentator im Partei-Magazin «Rote Flagge», es sei falsch, die «Demokratische Diktatur des Volkes» zu negieren oder zu ersetzen. In der Tat, diese Diktatur des Proletariats ist eine marxistische Kerntheorie und ein Grundsatzwert der KP Chinas.
Das Politbüro hat, wie immer, bereits die generelle Richtung vorgegeben: «Rechtsstaatlichkeit ist ein Muss.» Selbstverständlich unter Führung der Partei und unter «Berücksichtigung des Sozialismus chinesischer Prägung». Das Ziel jedoch ist klar: Es braucht mehr Transparenz. Die Partei kann heute nicht mehr diktatorisch wie zu Maos Zeiten ohne Volk regieren. Heute wird nicht ohne oder mit oder durch das Volk regiert, sondern autoritär für das Volk.
Konkrete Resultate des 4/18-Plenums werden, wenn der Propaganda-Pulverrauch sich aufgelöst hat, erst in den nächsten Wochen und Monaten fassbar. Denn gegen Xis Reformpaket gibt es innerhalb der Partei einige Widerstände, denn es stehen Interessen und Privilegien einer breiten Nomenklatura auf dem Spiel. Doch wie es aussieht, wird Parteichef Xi Jinping in seiner Autorität gestärkt aus dem Partei-Konklave hervorgehen. Gewiss wird auch die Rechtsstaatlichkeit, the Rule of Law, in China verbessert. Doch letztlich steht auch nach dem Plenum des Zentralkomitees die Partei über dem Gesetz.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Peter Achten arbeitet seit Jahrzehnten als Journalist in China.
Ganz herzlichen Dank aus Shanghai für diese Einsicht bietende Analyse und den Bericht zur zentralen Lage in diesem faszinierenden Land.
Auch in der Schweiz sehe ich die Tendenzen immer stärker Richtung «autoritär für das Volk"-regieren. Dank immer drohendem Referendum wird dies allerdings noch gut in Schach gehalten.
Ob aus den alten Gegensätzen Ost/West über die Jahrzehnte eine Synthese in der Art einer «autoritären Demokratie» entsteht?