Bolivien: Machtkampf unter Genossen
Ein Putschversuch hat die politische Stabilität in Bolivien erneut erschüttert. Soldaten stürmten am vergangenen Mittwoch den zentralen Platz von La Paz und wollten gewaltsam mit gepanzerten Fahrzeugen in den Regierungspalast eindringen. Doch der Staatsstreich misslang. Präsident Luis Arce stellte sich dem Militär mit seiner Leibwache entgegen, ernannte umgehend ein neues Oberkommando der Streitkräfte und liess die Putschisten verhaften.
Die Hintergründe und Motive des von General Juan José Zúñiga angeführten Putschversuchs sind immer noch unklar. War es das Werk eines Einzelnen oder stecken grössere Kreise dahinter? Oder war der versuchte Staatsstreich eine mit Präsident Luis Arce abgesprochene Inszenierung, wie Ex-Armeechef Zúñiga behauptete? – So oder so gibt es immer mehr Zweifel an der Stabilität und Sicherheit der konstitutionellen Herrschaft in Bolivien. Insgesamt 18 Jahre ist die gemässigt linksgerichtete Regierung des Movimiento al Socialismo (MAS) an der Macht. Der derzeitige Staatschef Arce war unter Ex-Präsident Evo Morales Wirtschaftsminister. In dieser Zeit erlebte das Land einen wirtschaftlichen Aufschwung. Doch ab etwa 2015 ging es wieder bergab. Unter den sozialistischen Genossen und innerhalb der MAS-Partei kam es zu Bruchstellen und Zerwürfnissen. Die einstigen Verbündeten, Evo Morales und Luis Arce, haben sich inzwischen überworfen und kämpfen um die Führungsrolle in der MAS-Partei.
Verantwortlich für dieses Zerwürfnis ist in erster Linie der Parteigründer und wiederholte Wahlsieger Evo Morales. Morales war 2019 nach wochenlangen Protesten aus dem Amt gezwungen worden. Er wollte 2020 um jeden Preis ein weiteres Mal wiedergewählt werden – obwohl eine weitere Amtszeit gegen die Bestimmungen der neuen Staatsverfassung verstiess, die unter seiner Führung in Kraft getreten war.
Nach dem erzwungenen Rücktritt ging Morales ins Exil nach Mexiko und musste seinem langjährigen Wirtschaftsminister Luis Arce bei der Präsidentschaftswahl den Vortritt lassen. Arce muss sich nun den Vorwurf gefallen lassen, dass er und seine Regierung es versäumt haben, die Politik rechtzeitig an ein härteres wirtschaftliches Umfeld anzupassen. Allzu lange sah man in La Paz untätig zu, wie die einst stattlichen Währungsreserven von rund 15 Milliarden Dollar auf einen Fünftel schrumpften.
Einige benachbarte Regierungen – Brasilien, Kolumbien, Venezuela, aber auch das geografisch fernere Mexiko – beobachten die politische Entwicklung in Bolivien mit Sorge. Ein Krisenherd im Herzen Südamerikas könnte in der Region die Angst entfachen, dass eine über mehrere Jahrzehnte mühsam eroberte Stabilität zwischen reformistischer und liberaler Politik ins Wanken gerät. Die Sozialisten haben in Bolivien immerhin lange ein gesundes Mass an Realismus walten lassen (Infosperber berichtete) und dabei zum Beispiel grosse Teile der lokalen Industrie nicht – wie in der NZZ behauptet wird – einfach verstaatlicht. Auch Fremdkapital war unter Morales und Arce willkommen, sofern es sich den neuen steuerlichen Normen unterwarf, die den Bedürfnissen weniger entwickelter Volkswirtschaften durchaus angepasst sind.
Dass bei Rückfällen in frühere Zustände auf dem Halbkontinent die Gefahr eines demokratischen Substanzverlustes besteht, liegt auf der Hand. Ein schlagendes Beispiel dafür ist Ecuador. Dieses bis vor einem Jahrzehnt friedliche Land nimmt heute hinsichtlich Unsicherheit, Gewalttätigkeit und Instabilität eine betrübliche Spitzenposition in Lateinamerika ein. Selbst eine Regierung wie die des jungen Milliardärssohns Daniel Noboa, die alle Register von Notstandsmassnahmen zieht, kann die De-facto-Herrschaft der Rauschgiftbarone nicht mehr brechen. Das erhoffte Heilmittel einer zunehmenden Militarisierung der Politik schafft kaum noch Remedur. Vieles deutet darauf hin, dass im Machtkampf zwischen Staat und Mafia die pure Repression keine dauerhafte Lösung schafft.
Bis vor einigen Jahren war Kolumbien die wichtigste Drehscheibe des illegalen Drogenhandels in Lateinamerika. Diese gewaltige Bürde haben jetzt die Mexikaner zu tragen – nicht zuletzt dank der ersten linken Regierung in der Geschichte Kolumbiens. Das neue Staatsoberhaupt Gustavo Petro, Ex-Guerillachef einer populistisch orientierten Aufstandsbewegung, setzt im Kampf gegen den Drogenhandel auf neue Strategien. Anstelle des früheren Nachrichtenflusses über jährlich Zehntausende Opfer bürgerkriegsartiger Wirren, die das übrige politische Geschehen überschatteten, vernimmt man neuerdings von sozialpolitischen Reformen, namentlich einer Modernisierung des Rentenwesens. Die Online-Zeitung amerika21 nennt schockierende Zahlen, die jene Teile der Bevölkerung betreffen, die bisher keine oder nur minimale Renten erhielten.
Bei den allgemeinen Wahlen für die Präsidentschaft und das Parlament in Mexiko war in Übereinstimmung mit allen seriösen Umfragen das Wichtigste eigentlich schon vor dem Urnengang entschieden. Schon vor jenem 2. Juni stand der Sieg von Claudia Sheinbaum, der amtierenden Bürgermeisterin von Ciudad de México, fest. Alle Fragen und Zweifel drehten sich darum, wie es um das politische Erbe ihres Vorgängers und Vorbilds Andrés Manuel López Obrador (AMLO) bestellt sei.
Dessen Wahlslogan «Primero los pobres» («Die Armen zuerst») versprach bei den damaligen Wahlen neues Glück für die Mehrheit. Doch nach Einschätzung des IPG-Journals spricht jetzt nach getaner Arbeit vieles dafür, dass Praxis und Gesetzmässigkeiten des Kapitalismus wieder einmal stärker waren als die vielen Versprechen von damals. Zwei Drittel der Bevölkerung blieben während des sechsjährigen Mandats von AMLO «abgehängt». Erreicht worden sei hingegen das viel gelobte Gleichgewicht in der Staatsrechnung mittels neoliberaler Sparpolitik. Der einst hoch und heilig versprochene Kampf gegen die Korruption sei andererseits ebenso Stückwerk geblieben wie die Kriegserklärung der Regierung an die Adresse der allmächtigen Drogenkartelle.
Ein anderer Mitarbeiter des IPG-Journals, der über einen jahrzehntelangen Erfahrungsschatz in der Beurteilung der komplexen mexikanischen Politik verfügt, befasst sich ebenfalls mit den Schwachstellen der AMLO-Regentschaft, unter anderem mit den Änderungen im Wahlsystem und bei der Wahl von Richtern. Bemerkenswert ist nicht nur, dass im Kampf um die Präsidentschaft zum ersten Mal eine Frau triumphiert hat, sondern dass auch das Bürgermeisteramt der Bundeshauptstadt in weiblichen Händen bleibt. Neben der weit verbreiteten Bestechlichkeit im Staatsapparat ist die persönliche Sicherheit der Menschen ein weiteres grosses Anliegen der beiden obersten Amtsträgerinnen. Laut amtlichen Schätzungen sind in den vergangenen sechs Jahren in Mexiko rund 180’000 Personen aus politischen Gründen ermordet worden.
Der Zugang zum Internet wird für ein indigenes Volk, das in den Tiefen von Brasiliens Amazonasgebiet lebt, zu einer Existenzfrage. Die jüngere Generation dieser Gemeinschaft feiert den Anschluss ans Netz zum Teil begeistert, die Älteren hingegen stellen die Errungenschaft radikal in Frage. Der Augenschein einer Korrespondentin der New York Times bringt die positiven und negativen Aspekte der Ankunft moderner Technologie in der Wildnis zur Sprache. Die Deutsche Welle vermittelt uns einige Erkenntnisse dieses Besuchs im Dschungel.
Daniel Ortega, Präsident von Nicaragua, war schon zu Zeiten der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) zuerst in einer mehrköpfigen Junta, dann ab 1985 als vom Volk gewähltes Staatsoberhaupt der starke Mann der linksrevolutionären Herrschaft. Fünf Jahre danach musste er die Macht, demokratischen Regeln folgend, an die Bürgerliche Violeta Barrios de Chamorro abgeben. 2007, ein Jahr nach dem ersten Triumph von Evo Morales in Bolivien, konnte Ortega das oberste Amt wiederum mittels Urnengang zurückerobern. Seitdem gibt er zu verstehen, dass er niemals aus freien Stücken auf seine absolute Machtposition verzichten werde, berichtet die Deutsche Welle.
Es sei denn, seine Ehefrau Rosario Murillo könne sein politisches Erbe antreten, falls ihn gesundheitliche Probleme dazu zwängen. Auch mit einem seiner Söhne könnte er sich auf die Nachfolge einigen. In dieser zentralen Frage hat sich Ortega indessen mit seinem Bruder Humberto überworfen, der einst oberster Chef der FSLN-Streitkräfte gewesen war, jetzt aber ob der autokratischen Absichten von Bruder Daniel besorgt ist. Diese gingen so weit, dass der Staatschef ein Sonderkommando des Geheimdienstes in Humbertos Residenz schickte und allerlei verdächtiges Instrumentarium beschlagnahmen liess. Nachdem Ortega schon vor einigen Monaten über 200 Oppositionelle in einen Charterflug hatte verfrachten und in die USA abtransportieren lassen, scheint sich Nicaragua – wie einst unter der langlebigen Diktatur von Anastasio Somoza, der 1979 von der FSLN gestürzt wurde – in ein landesweites Gefängnis zu verwandeln.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Der Autor war 33 Jahre lang Korrespondent in Südamerika, unter anderem für den «Tages-Anzeiger».
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Bei allem Respekt vor den früheren journalistschen Leistungen von Romeo Rey denke ich dass er bezüglich den Ereignissen in Bolivien viel zu kurz greift. Die Hintergründe zum jüngsten Putschversuch sind alles andere als «unklar». Es geht um eine zweite Generalmobilmachung gegen Evo Morales, den zwar im Volk total populären Leader, der jedoch bei der weissen Elite verhasst ist als Indio, und erst recht gegen dessen Absichten, die nationaen Resourcen zugunsten einer sozialeren Entwicklung im Land einzusetzen. Somit geht es auch um den Zugriff auf die grossen Lithium-Vorkommen Boliviens. Elon Musk u. A. stehen in den Startlöchern.
Deswegen wurde Evo 2019 um seinen Wahlsieg betrogen (er erreichte 47 % der Zustimmung), ein blutiger Putsch, den man nicht als «erzwungenen Rücktritt» beschönigen kann. Am Vortag des jetzigen Putschversuch erklärte General Zúñiga, dass er eine erneute Kanidatur von Evo Morales (Wahlen sind erst in einem Jahr) nötigenfalls mit Waffengewalt verhindern werde…
Tagesanzeiger ist auch keine Referenz mehr, aber der Beitrag würde da gut reinpassen. Für unseren Infosperber ist jedoch ein wenig dünn.