Aus Angst vor Atomkrieg: Zehnjährige schrieb der Sowjetunion
Es klingt wie ein Märchen oder wie eine Story aus einem Kitschroman. Aber die unglaublichsten Geschichten schreibt bekanntlich immer noch das Leben selbst. Mitten im kältesten Krieg, im November 1982 verfasst Samanta Smith, ein zehnjähriges Mädchen aus Maine, USA einen Brief an den sowjetischen Parteichef Jurij Andropow. Beide Seiten sind zu diesem Zeitpunkt bis an die Zähne bewaffnet und in den Vereinigten Staaten existieren bereits Denkschulen, die einen möglichen Atomkrieg für führ- und gewinnbar halten. Ein knappes halbes Jahr später wird US-Präsident Reagan die Sowjetunion gar als das «Reich des Bösen» bezeichnen.
Aber das Mädchen will es genauer wissen. Es hält den Chef der anderen Seite offenkundig zumindest für dialogfähig. Sie schreibt ihm folgende Zeilen:
Sehr geehrter Herr Andropow,
Mein Name ist Samantha Smith. Ich bin 10 Jahre alt. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem neuen Job. Ich bin sehr besorgt, dass Russland und die Vereinigten Staaten in einen Atomkrieg hineingeraten könnten. Werden Sie sich für einen Krieg entscheiden oder nicht? Wenn Sie dagegen sind, dann sagen Sie mir bitte, wie Sie helfen werden, keinen Krieg zu führen. Sie müssen diese Frage nicht beantworten, aber ich würde mich freuen, wenn Sie es tun würden: Warum wollen Sie die Welt oder wenigstens unser Land erobern? Gott hat die Welt für uns erschaffen, damit wir zusammenleben und sie behüten. Nicht, um uns zu bekämpfen oder damit einer Gruppe von Menschen alles gehört. Bitte lassen Sie uns tun, was er wollte, damit alle glücklich sein können.
Samantha Smith
PS: Bitte schreiben Sie zurück.
Generalsekretär Andropow lässt Auszüge von Samanthas Brief in der Prawda veröffentlichen und schreibt – wenn auch erst mit fünf Monaten Verspätung – am 19. April 1983 zurück. Die wichtigsten Sätze aus seinem Antwortschreiben:
Ihre Frage ist die drängendste, die jeder denkende Mensch stellen kann. Ich werde Ihnen ernsthaft und ehrlich antworten. Die Sowjets wissen sehr gut, was für eine schreckliche zerstörerische Angelegenheit Krieg ist. Vor 42 Jahren griff Nazideutschland, das die ganze Welt beherrschen wollte, unser Land an, es verbrannte und vernichtete tausende unserer Städte und Dörfer und tötete Millionen sowjetischer Männer, Frauen und Kinder. In dem Krieg, der mit unserem Sieg endete, waren wir im Bündnis mit den Vereinigten Staaten und kämpften gemeinsam für die Befreiung vieler Nationen von den Nazi-Invasoren. Ich hoffe, Sie wissen das aus dem Geschichtsunterricht in der Schule!
Sowohl Amerika als auch wir haben Atomwaffen – fürchterliche Waffen, die sofort Millionen von Menschen töten können. Wir wollen aber nicht, dass sie jemals benutzt werden. Deshalb hat die Sowjetunion der Welt feierlich angekündigt, dass sie niemals – niemals! – zuerst Atomwaffen gegen ein Land einsetzen wird. Und ganz generell schlagen wir vor, die weitere Produktion einzustellen und weltweit mit der Zerstörung aller Sprengköpfe zu beginnen.
Der Brief des Parteichefs endet mit einer Einladung an Samantha für den kommenden Sommer in das bekannte Feriencamp für Kinder und Jugendliche Artek bei Jalta am Schwarzen Meer. Sie solle sich selbst ein Bild machen von dem Land und der Friedensliebe seiner Bewohner.
«Die sind ja wie wir!»
Samantha Smith nimmt die Einladung an. Schon im Vorfeld berichtet die internationale Presse. Der ungewöhnliche Briefwechsel einer Zehnjährigen mit dem Generalsekretär der KPdSU erregt grosse Aufmerksamkeit. Offenbar hat die Geschichte einen Nerv getroffen. Samantha wird von Journalisten aus Frankreich, England, Australien, Bulgarien und Deutschland interviewt und ist in diversen amerikanischen Talkshows zu Gast.
Am 7. Juli 1983 fliegt sie in Begleitung ihrer Eltern nach Moskau. Und wird von den Russen wie eine kleine Prinzessin empfangen, genauer: als Botschafterin in Friedensangelegenheiten. Insgesamt zwei Wochen bleibt Samantha in der UdSSR. In Moskau besichtigt sie den Kreml, legt Blumen auf den Gräbern des Unbekannten Soldaten und von Jurij Gagarin nieder, trifft Valentina Tereschkowa, die erste Frau im Weltraum und besucht das Bolschoi-Theater, den Moskauer Zirkus, das Olympiazentrum und andere Sehenswürdigkeiten. Nur mit einem persönlichen Treffen mit Jurij Andropow klappt es nicht, weil dessen Gesundheit zu diesem Zeitpunkt schon recht angeschlagen ist.
Im Pionierlager Artek auf der Krim angekommen, fragt man sie, wo sie leben will: mit ihren Eltern im Hotel oder zusammen mit den Mädchen im Lager. Natürlich entscheidet sich Samantha für die Gleichaltrigen aus der ganzen Sowjetunion und teilt mit ihnen den Ferienalltag: Morgengymnastik, Ausflüge zu den zahlreichen Sehnsuchtsorten an der Schwarzmeerküste und das traditionelle Versenken von Flaschenpost auf offenem Meer. Samanthas Botschaft ist wenig erstaunlich: «Ich wünsche uns allen Frieden für den Rest unseres Lebens!» Auf einer Pressekonferenz im Lager von einer sowjetischen Journalistin gefragt, was sie tun würde, wenn sie magische Kräfte hätte, antwortet sie: «Die Bombe abschaffen!»
Und natürlich unterhält sie sich abends mit ihren neuen sowjetischen Freundinnen und Freunden stundenlang über Amerika, Klamotten, Musik – und manchmal auch über Krieg und Frieden. Samantha in ihrem Buch, das sie später über diese Reise schreiben wird: «Alle wollten wissen, wie ich lebe, und manchmal sprachen wir abends über Krieg und Frieden. Aber das schien überflüssig, weil alle ein gutes Bild von Amerika hatten und natürlich keinen Krieg wollten.»
Ein Besuch in Leningrad, wo man ihr nicht nur die Eremitage, das Schloss Peterhof und das Mariinski-Theater zeigt, sondern ihr auch von der neunhunderttägigen Belagerung durch die Wehrmacht berichtet und das ergreifende Blockadetagebuch von Tanja Saitschewa zu lesen gibt, rundet den zweiwöchigen Besuch in der Sowjetunion ab.
Nach Hause zurückgekehrt, hat Samantha für ihr Land und den Rest der Welt zwei Botschaften parat: «Jetzt bin ich mir sicher, dass Russen wie Amerikaner keinen Krieg wollen!» und «Die Russen sind wie wir!»
Früher Tod einer Friedensbotschafterin
Samantha erhält Post aus aller Welt. Sie berichtet in den amerikanischen Fernsehkanälen von ihrer Reise, Ende 1983 wird sie nach Japan eingeladen, wo sie in Kobe auf einem Kindersymposion einen «International Granddaughter Exchange» anregt: Führende Staatsmänner aller Nationen sollen ihre Enkelinnen und Enkel in «normale» Familien anderer Länder schicken – um ihnen ähnliche Erfahrungen zu ermöglichen, wie sie sie in der Sowjetunion sammeln konnte.
Schnell kann Samantha die vielen Briefe nicht mehr beantworten. Ihr Vater gibt seinen Job als Dozent für englische Literatur an der University of Maine auf und übernimmt für sie die anfallende Korrespondenz. Eltern und Tochter verfassen das Buch «Eine Reise in die Sowjetunion», das Samantha allen Kindern auf der Erde widmet. Es erscheint u.a. auf Russisch, Deutsch, Litauisch und Spanisch. Samantha wird nicht nur zu Vorträgen und Talkshows eingeladen, das nun bekannte Mädchen spielt auch in einigen Fernsehserien mit.
Am 25. August 1985 kehren Samantha und ihr Vater von Dreharbeiten zur Serie «Lime Street» aus Grossbritannien zurück. In Boston besteigen sie die Maschine einer regionalen Fluggesellschaft. Da verfehlt das Flugzeug beim Landeanflug in Auburn-Lewiston, Maine die Landebahn und stürzt ab. Die beiden Piloten und alle sechs Passagiere kommen ums Leben. Samantha Smith wurde gerade mal 13 Jahre alt.
Um die tausend Menschen kommen zum Gedenkgottesdienst für Samantha und ihren Vater nach Auburn. Und der neue sowjetische Parteichef, Michail Gorbatschow – er ist seit fünf Monaten im Amt – schickt einen offiziellen Vertreter, der folgende Botschaft verliest: «Jeder, der Samantha Smith in der Sowjetunion kannte, wird sich für immer an das Bild eines amerikanischen Mädchens erinnern, das wie Millionen sowjetischer Jungen und Mädchen vom Frieden, von der Freundschaft zwischen den Völkern der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion träumte.»
Ein Vierteljahr später wird Gorbatschow sich in Genf erstmals mit US-Präsident Reagan treffen und zwei Jahre danach werden sie den bedeutendsten Abrüstungsvertrag der Weltgeschichte unterzeichnen. Insgesamt schaffen es die beiden, 80 Prozent aller Atomsprengköpfe weltweit zu verschrotten.
Im Oktober 1985 gründet Samanthas Mutter Jane die «Samantha Smith Foundation» für den Austausch von Schülern aus der Sowjetunion und den USA. Und noch im selben Jahr erscheint in der Sowjetunion eine Briefmarke mit dem Porträt des Mädchens als Sujet. Ein Jahr später kommen im Sommer erstmals 20 sowjetische Schulkinder nach Maine und verbringen zusammen mit 150 amerikanischen Altersgenossen drei Wochen in einem Kinderfriedenslager. Zeitgleich wird im Pionierlager Artek, in das 1986 nun 20 amerikanische Schulkinder kommen werden, eine Strasse nach Samantha benannt. Es sind nur die ersten von vielen noch kommenden Ehrungen.
In der älteren Generation des postsowjetischen Raums ist Samantha Smith bis heute unvergessen. In diesen Tagen, am 29. Juni 2022, wäre die Friedensaktivistin 50 Jahre alt geworden. Das Andenken an sie zu ehren und zu bewahren, bedeutet in allererster Linie, alles Menschenmögliche zu tun, dass solche Situationen niemals – niemals! – wieder eintreten können.
P.S.:
Was weder Samantha noch ihr mächtiger Briefpartner im Kreml ahnen konnten, als er ihr im April 1983 antwortete: Samanthas Ängste vor einem möglichen Atomkrieg waren nur zu berechtigt. Fünf Monate nach Andropows Antwort und zwei Monate nach Samanthas Reise in die Sowjetunion schrillten am 26. September kurz nach Mitternacht im sowjetischen Raketenabwehrzentrum Serpuchow 15 bei Moskau die Sirenen. Fünfmal hintereinander meldete das Frühwarnsystem den Start einer amerikanischen Interkontinentalrakete. Nur dem besonnenen Verhalten des diensthabenden Offiziers Stanislaw Petrow, der die Nerven behielt und – wie sich später herausstellte, richtigerweise – der Militärführung einen Fehlalarm aufgrund eines Computerirrtums meldete, ist es zu verdanken, dass der Welt mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Atomkrieg aus Versehen erspart blieb. Und vom 2. bis 12. November desselben Jahres simulierte die NATO im Rahmen des Manövers «Able Archer 83» den Atomkrieg gegen die Sowjetunion unter so realistischen Bedingungen, dass Staats- und Parteichef Jurij Andropow, von einem unmittelbar bevorstehenden amerikanischen Überraschungsangriff mittlerweile fest überzeugt, die sowjetischen Bomber in der DDR und Polen startklar machen und – einmalig in der Geschichte des Kalten Krieges – mit scharfen nuklearen Sprengköpfen bestücken liess. Auch hier hat die Welt grosses Glück gehabt, wie sich später herausstellte.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Kommt mir bei dem Thema immer in den Sinn, hat mich damals sehr bewegt:
Song «Russians» von Sting (Juni 1985)
https://youtu.be/wHylQRVN2Qs
Eine großartige Geschichte aus einer anderen Zeit. Danke für das Zurückrufen in unsere Erinnerung. Habe den Artikel gerade mit stockender Stimme meiner ähnlich alten Tochter vorgelesen. Andropow war letztlich zwar ein körperlich sehr kranker und dem alten Unterdrückungssystem verhafteter, aber auch sehr kluger Mann, der, wenn man seinen zahlreichen Aussagen und Schriften Glauben schenken mag, genau erkannte, woran die UdSSR krankte. Er war leider schon zu schwach und ist viel zu früh gestorben. Wahrscheinlich standen die Zeichen nie wieder besser für Abrüstung als in den 80igern, als eine waidwunde UdSSR jede Möglichkeit, die gewaltigen Rüstungsanstrengungen und außenpolitische Bedrohungen zu verringern, nutzen wollte. Gorbatschow und Reagan zeigten letztlich beide große politische Vernunft jenseits der üblichen Rhetorik des Kalten Krieges. Man muss dankbar sein, dass entscheidende Politiker ihre Handlungsspielräume damals richtig nutzten.
Samantha Smith war sehr besorgt, dass Russland und die Vereinigten Staaten in einen Atomkrieg hineingeraten könnten.
Heute ist die Angst vor einem Atomkrieg ein wenig vergessen gegangen. Schweizer Geldhäuser investieren profitbewusst in die Rüstungsindustrie und auch einige Milliarden in Firmen die Atombomben herstellen. Den Atomwaffenverbotsvertrag hat die Schweiz bisher nicht unterschrieben, obwohl das Parlament in Bern dafür war.
Der Krieg in der Ukraine könnte infolge eines Irrtums oder durch eine technische Panne in einen Atomkrieg münden. Es könnte aber auch vorkommen, dass eine fehlgeleitete Rakete oder ein Artilleriegeschoss Russlands oder der Ukraine einer der 15 Atomreaktoren in den vier Kraftwerken der Ukraine trifft. Schon nur durch den Ausfall der Kühlung könnte ein Reaktor hochgehen. Dadurch würde es zu einer Katastrophe kommen, wie 1986 im ukrainischen AKW in Tschernobyl. Im schlimmsten Fall würden dadurch grosse Teil der Ukraine und Russland unbewohnbar.