Afghanistan: Jeder Schritt kann tödlich sein
Die seit 2001 an der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (Isaf) beteiligten Nato-Staaten sollen «umgehend sämtliche Gebiete in Afghanistan, die sie mit explosiven Kriegsresten verseucht haben, markieren und räumen». Dies fordert «Handicap International» in einem Appell an den Nato-Gipfel in Wales, auf dessen Tagesordnung vor der Eskalation des Ukraine-Konflikts ursprünglich eine Bilanz des Afghanistan-Einsatzes und der bis Ende 2014 geplante Rückzug aller Isaf-Kampftruppen stand.
Gefährliche Anlagen
Militärstützpunkte und Schiessstände der Isaf-Truppen werden derzeit in hohem Tempo geschlossen. Explosives Kriegsmaterial, welches das Militär dort gelagert, zurückgelassen oder gebraucht hat, wird dabei nicht systematisch geräumt. Ausserdem hat bislang keiner der an der Isaf beteiligten Staaten Karten verfügbar gemacht, auf denen die von den jeweiligen nationalen Truppenverbänden verseuchten Gebiete verzeichnet sind. Weitere Tausende Quadratkilometer des afghanischen Territoriums, das bereits während der sowjetischen Besatzung von 1979 bis 1988 sowie im nachfolgenden Bürgerkrieg stark vermint wurde, sind jetzt zusätzlich mit explosiven Kriegsresten der Isaf-Operationen verseucht.
Hilfe für Opfer ist Pflicht
Das stellt nach Einschätzung von «Handicap International» eine lebensbedrohliche Gefahr für die Menschen in diesen Regionen dar, denen diese Risiken bisher kaum bewusst sind. Laut der UNO-Unterstützungsmission für Afghanistan (Unama) ist die Zahl der gemeldeten zivilen Opfer von explosiven Kriegsresten 2013 und 2014 deutlich gewachsen. Im ersten Halbjahr 2014 registrierte die Unama einen 14prozentigen Anstieg ziviler Opfer durch explosive Kriegsreste, verglichen mit dem gleichen Zeitraum 2013. Von 206 Opfern waren drei Viertel Kinder. Schon von 2012 auf 2013 waren die Opferzahlen um 63 Prozent gestiegen (343 Opfer insgesamt, 83 Prozent Kinder). «Handicap International» fordert deshalb auch, allen Opfern des Konflikts vorbehaltlos Hilfe zu gewähren, finanziert aus Mitteln, welche die Isaf-Staaten der Unama zur Verfügung stellen, deren Mission über 2014 hinaus fortgesetzt wird. Doch bislang haben erst die USA Geld zugesagt.
Zum Markieren, Sichern, Entfernen und Zerstören explosiver Kriegsreste sowie zur Unterstützung der Opfer verpflichtet Protokoll V der «UNO-Konvention über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes bestimmter konventioneller Waffen», die von den meisten Isaf-Staaten ratifiziert wurde. Doch dem ist bisher kaum nachgekommen worden.
Organisationen helfen
«Eine der zentralen Herausforderungen ist es, genaue Daten zu erhalten. Die Regierungen der Isaf-Mitglieder, darunter die Nato-Staaten USA, Kanada, Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, die Niederlande und Italien, müssen ein Budget zur Räumung von explosiven Kriegsresten bereitstellen und eine Dekontaminierungsstrategie festlegen.» Dies fordert Anna Nijsters, Direktorin von Enna, einem in Brüssel basierten europäischen Netzwerk von in Afghanistan tätigen Nichtregierungsorganisationen, zu dem auch «Handicap International» gehört. Die Organisation ist seit 1996 in Afghanistan tätig. In ihrem Auftrag arbeiten dort über 180 Personen, unter ihnen auch mehrere Opfer von Minen und explosiven Kriegsresten. Sie wirken mit bei Räumungsarbeiten und bei der Aufklärung der Bevölkerung über Gefahren, die von explosiven Kriegsresten ausgehen. Sie unterstützen aber auch Opfer, etwa bei der physischen Rehabilitation.
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Dieser Artikel erschien zuerst im St.Galler Tagblatt.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine. Andreas Zumach ist spezialisiert auf Völkerrecht, Menschenrechtspolitik, Sicherheitspolitik, Rüstungskontrolle und internationale Organisationen. Er arbeitet am europäischen Hauptsitz der Uno in Genf als Korrespondent für Printmedien, wie beispielsweise die tageszeitung (taz) Die Presse (Wien), die WoZ und das St. Galler Volksblatt, sowie für deutschsprachige Radiostationen und das Schweizer Fernsehen SRF. Bekannt wurde Zumach 2003 als Kritiker des dritten Golfkrieges. Im Jahr 2009 wurde ihm der Göttinger Friedenspreis verliehen.