2200 Kilometer mit dem Velo durch die Türkei
Im Sommer beim Abendessen mit Freunden, im Garten einer ökologisch durchdachten Siedlung ausserhalb von Zürich. «Ich habe gehört, dass du in die Türkei reisen willst. Getraust du dich wirklich?», fragte meine Tischnachbarin. Mit «getrauen» meinte sie zweierlei. 1. Die Überwindung der Angst vor Attentaten. 2. Die Missachtung einer hierzulande mehrheitsfähigen Position, die Türkei aus politischen Gründen zu boykottieren.
Ich bin überzeugt, dass man die Türkei besuchen kann und darf. Mehr noch: man soll.
Die Erde bebt in der Toskana, Attentate geschehen in Paris, London, Nizza und Barcelona. Die Menschen reisen trotzdem hin. Zittert die Erde hingegen in der Türkei oder gehen in Istanbul und Ankara Bomben hoch, bekommen es die Hoteliers dramatisch und sofort zu spüren. Das Reiseverhalten der meisten Menschen hat wenig mit klarer Logik, sondern vielmehr mit diffuser Furcht zu tun. Dagegen anzudiskutieren ist deshalb schwierig.
Tourismus und Politik
Aus Angst die Türkei zu meiden, ist ein Argument. Es wird meist von jenen eingeführt, die in Istanbul, an der türkischen Riviera oder Ägäisküste in abgeschirmten Resorts «all inclusive» buchen; wo sie sicherer aufgehoben sind, als zu Hause. Für den politisch argumentierenden Menschen hingegen ist derzeit Recep Tayyip Erdogan der Stimulus, dem Land fernzubleiben. Der Staatspräsident ist zweifellos ein Autokrat, der demokratische Rechte durch Ausnahmezustand und Willkür ersetzt, der Menschenrechte missachtet und tausende von Andersdenkenden entlässt, verhaftet und in Gefängnissen foltern lässt.
Soll ein Land gemieden werden, weil die Herrschenden abscheulich sind? Akzeptiert man mit der Reise in die Türkei gar das politische System? Beides ist Unsinn. Das Verfassungsreferendum in der Türkei am 16. April 2017 unterstützten 51,41 Prozent der Stimmenden. Es wird dem Präsidenten voraussichtlich ab 2019, sollte er abermals gewählt werden, fast unbeschränkte Macht auf Politik und Judikative geben. Aber fast die Hälfte der Bevölkerung war gegen Erdogan und das Referendum. Soll auch sie gemieden werden?
Wer den Boykott propagiert, müsste auch etliche andere Ziele von der Reiseliste streichen. Prayut Chan-o-cha ist ein Putschist, der seit drei Jahren Thailand regiert, aber kaum ein Phuket-Urlauber dürfte ihn kennen. In Ägypten hat das Militär 2013 geputscht. Der Tourismus hat seither eher zugenommen. In Zeiten von Berlusconi hätte man auch nicht mehr nach Italien reisen dürfen. Die Provence und Korsika sind Le-Pen-Gebiet und eigentlich tabu für jene, die eine rechts-nationale Gesinnung eklig finden. Und die USA zu reisen geht derzeit schon gar nicht. Aber wer verzichtet deswegen auf diese Reiseziele?
Das Interesse gilt den Menschen
«Politische Bildungsreise mit Adrenalingarantie» sei bei einer Türkeireise garantiert, spottete die «Süddeutsche Zeitung» diesen Sommer. Das mag in die Richtung jener zielen, die ihre Reiseabenteuer mit politischem Aktivismus verzieren. So, wie es vor allem früher Mode war. Viele meiner Bekannten pilgerten in den 1970er-Jahren nach Israel, um in den ländlichen Kollektivsiedlungen mit gemeinsamem Eigentum und basisdemokratischen Strukturen den jungen Staat zu unterstützen. In den 1980er-Jahren rannten sie zu den Sandinisten nach Nicaragua, um die Bevölkerung des Landes, ja von ganz Zentral- und Südamerika, zu retten. Heute mögen sie kaum noch darüber reden.
Der Revolutionstourismus – obwohl ideell mitgetragen – hat mich nie sonderlich angezogen. Mich haben die so genannt einfachen Menschen weit mehr interessiert. Andererseits würde mich die Türkei heutzutage schon weniger bewegen, wenn alles bestens wäre. Die Neugier ist deshalb da, weil das Land innerlich zerrissen und in einem fatalen gesellschaftspolitischen Zustand ist. Mich interessiert es zu erfahren, wie die Menschen ihre Heimat und deren Entwicklung sehen. Wie sie in diesen Zeiten leben und was sie denken. Ob sie sich über den Besucher freuen und mit ihm sprechen mögen. Der Mann am Hafenkiosk, die Frau an der Hotel-Reception, die Gastgeber der Pension, die Leute in der Bar, im Laden um die Ecke oder auf dem Markt. Menschen, mit denen der Reisende im Normalfall als erstes zusammentrifft. Vielleicht ergeben sich auch längere Gespräche oder ich werde spontan eingeladen.
Kein Reiseführer, kein GPS
Wie auf früheren Unternehmen in Südamerika, durch den Westbalkan oder in die Ukraine bin ich auf dem Fahrrad unterwegs. Ich plane von Tag zu Tag, ohne Reiseführer und GPS. Als Vorbereitung habe ich «Cevdet und seine Söhne» von Orhan Pamuk gelesen. Über so genannt touristische Attraktionen werde ich nicht berichten. Ich reise auf dem Landweg mit dem Zug, Schiff und Bus von Zürich ins griechische Alexandroupoli. Dort beginnt die Veloreise. 55 Kilometer später passiere ich die Grenze nach Ipsala, um in mehreren Wochen die Türkei von West nach Ost zu durchqueren. Rund 2200 Kilometer im Landesinneren auf Haupt- und Nebenstrassen, über Pässe und durch abgelegene Dörfer und kleine Städte. Das Ziel ist die Stadt Iğdır, an der Grenze zu Armenien, dem Iran und in unmittelbarer Nähe zum höchsten Berg der Türkei, dem Ararat (5137 m.ü.M), gelegen.
Ich reise zum ersten Mal in die Türkei. Meine Vorstellung über das politische Geschehen ist von deutschsprachigen Medien geprägt. Deshalb bin ich im Selbsturteil über das Land auch leicht gehemmt. Ich sprach mit Ayshe, bevor ich auf die Reise ging. Sie kommt aus Ankara und arbeitet in einem Café in Zürich. Ihre Familie und Verwandtschaft, die sie regelmässig besucht, ist in der ganzen Türkei beheimatet. «Es ist unendlich traurig, was in der Türkei passiert», sagte sie. «Aber die Menschen, die dort leben, müssen ihren Alltag trotzdem bewältigen». Sie war eine der wenigen, die mich im Vorfeld nicht ermahnte. Sie wünschte mir einfach eine schöne Reise.
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Ab Anfang September berichtet Walter Aeschimann auf Infosperber in unregelmässigen Abständen von seiner Reise.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Walter Aeschimann ist Historiker und lebt als freier Publizist in Zürich. Er arbeitete als Redaktor für das Nachrichtenmagazin «Facts», die «Sonntags-Zeitung», den «Tages-Anzeiger» und das Schweizer Fernsehen. Seit vielen Jahren unternimmt er Veloreisen in ferne Länder und hat zahlreiche (Multimedia-) Berichte in der NZZ und Velomagazinen veröffentlicht.
Eine spannende Auseinandersetzung. Ich frage mich, wie offen sich die Menschen äussern können. Ganz abgesehen von den Sprachproblemen.