1968, als katholische Geistliche eine Revolution ansagten
Christian Müller / Warum erinnert niemand an «Medellin 1968», wo die lateinamerikanische Bischofskonferenz der Kirche einen Wandel verordnete?
Das Jahr 1968 war für die Journalisten ein besonders ereignisreiches und ist heute für die Historiker ein besonders interessantes. Die Studentenunruhen in Berlin, in Paris, ein wenig auch in Zürich. Der Prager Frühling. In den USA die Erfolge des Civil Rights Movement gegen die Rassentrennung und 1968 die Ermordung des Vorkämpfers Martin Luther King. Es war tatsächlich, als ginge ein Geist des Aufbruchs durch die westliche Welt – begleitet von zahlreichen Demos und vielerorts auch gewalttätigen Auseinandersetzungen und nicht selten auch mit tragischem Ausgang. Rückblickend läuft die ganze Thematik unter dem Begriff «68er Bewegung». Und so wurden in den letzten Monaten aus Anlass des 50-Jahr-Jubiläums dieses ausserordentlichen Jahres 1968 auch zahlreiche Rückblicke publiziert – in den meisten Medien mit eher negativer Beurteilung und mit Genugtuung oder gar Freude darüber, dass diese Bewegungen und Ereignisse heute nur noch «Geschichte» sind.
Lateinamerika blieb wenig beachtet – kein Zufall!
Ein aktueller Blick in die Medien-Archive dieses Jahres zeigt: Rückblicke auf jene Zeit in Lateinamerika fehlen weitgehend. Aber gerade in Lateinamerika war jene Zeit eine höchst bemerkenswerte. Im Anschluss an das von Papst Johannes XXIII. initiierte Zweite Vatikanische Konzil 1962 bis 1965, das auf Öffnung und Modernisierung der Katholischen Kirche ausgerichtet war, zeichnete sich in Lateinamerika innerhalb der Katholischen Kirche ein spürbarer Sinneswandel ab: Mehr und mehr Vertreter des Klerus – von einfachen Priestern bis hinauf zu den einflussreichsten Kardinälen – suchten den persönlichen Kontakt zu den Armen in den Elendsvierteln, zu den brotlosen Landarbeitern, ja ganz generell zu den Unterprivilegierten, und sie forderten lauthals ein Umdenken: Die Katholische Kirche müsse sich (endlich) auf die Seite der Armen stellen und die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich bekämpfen – auch politisch. Rückblickend heisst diese Bewegung die «Theologie der Befreiung» – in Anlehnung an das 1973 erschienene Buch «Teología de la Liberación» des peruanischen Geistlichen und Hochschul-Professors Gustavo Gutiérrez.
Im Jahr 1968 kam es zum unerwarteten – aber geradezu spektakulären – Aufruf. In Medellin in Kolumbien fand die Generalversammlung des Lateinamerikanischen Episkopats statt. Die weit über hundert Bischöfe und Kardinäle aus über zwanzig Ländern fassten gemeinsame Beschlüsse und publizierten Empfehlungen an die ganze lateinamerikanische katholische Geistlichkeit: Es ist Zeit für einen umfassenden Wandel! Die Kirche muss sich, dem Wort Christi folgend, auf die Seite der Armen stellen und für deren Besserstellung eintreten – gegen die kapitalistischen Interessen der Reichen und der Mächtigen.
Wer heute dieses Dokument liest, traut seinen Augen kaum. Hier einige Auszüge aus dem 108-seitigen Dokument:
«Lateinamerika ist ausser einer geographischen Realität eine Gemeinschaft von Völkern mit eigener Geschichte, mit spezifischen Werten und ähnlich gelagerten Problemen. Die Auseinandersetzung damit und die Lösungen müssen dieser Geschichte, diesen Werten und diesen Problemen entsprechen. Der Kontinent birgt sehr verschiedene Situationen in sich, die jedoch Solidarität erfordern. Lateinamerika muss eins sein und vielfältig, reich in seiner Vielfalt und stark in seiner Einheit. [ ] Trotz der gegenwärtigen Bemühungen gibt es immer noch Hunger und Elend, Massenerkrankungen und Kindersterblichkeit, Analphabetismus und Marginalität, enorme Lohnunterschiede und Spannungen zwischen den sozialen Klassen, Anfänge der Gewalt und geringe Teilnahme des Volkes in Fragen des Gemeinwohls. [ ] Wir glauben, dass wir uns in einem neuen historischen Abschnitt befinden. Er erfordert Klarheit zum Sehen, Deutlichkeit zum Beurteilen und Solidarität zum Handeln.»
«Wir wollen die Probleme spüren, ihre Anforderungen wahrnehmen, die Ängste teilen, Wege entdecken und an den Lösungen mitarbeiten. [ ] Dieser Prozess verlangt von allen unseren Nationen, ihr Misstrauen zu überwinden, ihren übertriebenen Nationalismus zu läutern und ihre Konfliktsituationen zu lösen.»
«Wir halten ferner sowohl die Geldanlage im Rüstungswettlauf, die übertriebene Bürokratie, die Ausgaben für Luxus und Prunk, als auch die mangelhafte Verwaltung der Gemeinschaft für unvereinbar mit unserer Situation auf dem Weg der Entwicklung.»
«Unsere Überlegungen haben das Ausmass anderer Verpflichtungen verdeutlicht, die, wenn auch in verschiedenen Formen, vom gesamten Gottesvolk angenommen werden:
eine neue Ordnung der Gerechtigkeit anzuregen, zu ermutigen und voranzutreiben, die alle Menschen in die Verwaltung der eigenen Gemeinschaften eingliedert;
die Gründung und die ethischen Haltungen der Familie zu fördern, nicht nur als menschlich-sakramentale Gemeinschaft, sondern auch als Zwischenstruktur in Funktion des sozialen Wandels;
die Erziehung dynamischer zu machen, um die Befähigung der Erwachsenen in ihren Verantwortungen der jetzigen Stunde zu beschleunigen;
die Berufsorganisationen der Arbeiter, entscheidende Elemente des sozioökonomischen Wandels, zu unterstützen [ ].
die Strukturen in der Kirche, die den ständigen Dialog ermöglichen und Wege für die Zusammenarbeit der Bischöfe, Priester, Ordensleute und Laien weisen, zu erneuern und neue zu schaffen; mit anderen christlichen Konfessionen und mit allen Menschen guten Willens, die einem wirklichen Frieden verpflichtet sind, der in der Gerechtigkeit und der Liebe wurzelt, zusammenzuarbeiten.»
«Weniger menschlich ist die materielle Not derer, denen das Existenzminimum fehlt; die sittliche Not derer, die vom Egoismus verstümmelt sind, weniger menschlich sind Zwangsstrukturen, die im Missbrauch des Besitzes oder der Macht, in der Ausbeutung der Arbeiter, in der Ungerechtigkeit im Geschäftsverkehr ihren Grund haben. Menschlicher ist der Aufstieg aus dem Elend zum Besitz des Notwendigen, der Sieg über die sozialen Missstände, die Erweiterung des Wissens, der Erwerb von Bildung. Menschlicher ist das deutlichere Wissen um die Würde des Menschen, die Ausrichtung auf den Geist der Armut, die Zusammenarbeit zum Gemeinwohl, der Wille zum Frieden.»
«In unseren Überlegungen machten wir uns auf den Weg zur Suche nach einer neuen und intensiveren Präsenz der Kirche in der gegenwärtigen Umwandlung Lateinamerikas im Lichte des II. Vatikanischen Konzils, in Übereinstimmung mit dem für diese Konferenz genannten Thema.»
«Die Familien finden oftmals keine konkreten Erziehungsmöglichkeiten für ihre Kinder. Die Jugend verlangt ihr Recht auf Zugang zu Universitäten oder höheren Bildungseinrichtungen der intellektuellen oder berufsfachlichen Weiterbildung. Die Frau verlangt ihre rechtliche und tatsächliche Gleichstellung mit dem Mann. Die Landarbeiter verlangen bessere Lebensbedingungen oder, soweit sie Erzeuger sind, bessere Preise und Absatzsicherung. Die wachsende Mittelschicht fühlt sich durch das Fehlen von Zukunftschancen betroffen. Eine Abwanderung von Fachleuten und Technikern in entwickeltere Länder hat eingesetzt. Die kleinen Handwerks- und Industriebetriebe stehen unter dem Druck grösserer Interessen, und nicht wenige grosse Industriebetriebe Lateinamerikas geraten mehr und mehr in die Abhängigkeit von Weltunternehmen. Wir können das Phänomen dieser fast allgemeinen Frustration gerechtfertigter Bestrebungen, die das Klima der Kollektivangst schafft, in dem wir bereits leben, nicht übersehen.»
Zum Bild: Zwei Mädchen in einem Landlosen-Camp in Südbrasilien. In einer Welt nach den Ideen der Befreiungstheologen hätten sie wohl eine Chance gehabt, eine ordentliche Ausbildung zu erhalten. Aber die Realität war eine andere: Unter Papst Johannes Paul II. wurde die Befreiungstheologie in die Defensive gedrängt, die katholische Kirche ist wieder auf der Seite der Reichen und Mächtigen (Foto: Christian Müller).
«Wir denken ganz besonders an die Millionen lateinamerikanischer Männer und Frauen der Landarbeiter- und Arbeiterschicht. In ihrer Mehrheit leiden sie, ersehnen und bemühen sie sich um einen Wandel, der ihre Arbeit menschlicher und würdiger macht.»
«Das lateinamerikanische Unternehmenssystem und somit die derzeitige Wirtschaft entsprechen einer irrigen Auffassung vom Eigentumsrecht an den Produktionsmitteln und von der eigentlichen Zielsetzung der Wirtschaft. In einer wirklich humanen Wirtschaft identifiziert sich das Unternehmen nicht mit den Kapitaleigentümern, weil es fundamental Gemeinschaft von Personen und Arbeit ist, die Kapital zur Güterproduktion braucht.»
«An die Unternehmer, ihre Organisationen und an die politischen Autoritäten richten wir aus diesem Grund einen dringenden Appell, die Wertung, Haltungen und Mittel im Hinblick auf Zielsetzung, Organisation und Führung der Betriebe radikal zu ändern. All jene Unternehmer, die als einzelne oder durch ihre Organisationen Anstrengungen unternehmen, die Betriebe nach den Richtlinien der Soziallehre der Kirche zu orientieren, verdienen Ermutigung. Von all dem wird wesentlich abhängen, ob der soziale und wirtschaftliche Wandel in Lateinamerika seinen Weg zu einer wirklich humanen Wirtschaft nehmen wird.»
«Mit der Klarheit, die aus dem Wissen um den Menschen und um seine Erwartungen kommt, müssen wir erneut betonen, dass weder Kapitalanhäufungen noch die Einführung moderner Produktionstechniken, noch wirtschaftliche Planungen wirksam im Dienst des Menschen stehen werden, wenn nicht die Arbeiter, unbeschadet der ‹erforderlichen einheitlichen Werkleitung›, mit der ganzen Darstellung ihres menschlichen Seins durch die ‹aktive Beteiligung aller an der Unternehmensgestaltung› einbezogen sind.»
«Darum muss die gewerkschaftliche Organisation der Landarbeiter und Arbeiter, auf die diese ein Anrecht haben, genügend Kraft und Präsenz in der beruflichen Zwischenstruktur erwerben. Ihre Zusammenschlüsse werden eine solidarische und verantwortliche Kraft haben, um das Recht der Vertretung und Teilnahme auf den Gebieten der Produktion und des nationalen, kontinentalen und internationalen Handels wahrzunehmen. Genauso müssen die Arbeiter ihr Recht ausüben, auch auf den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ebenen vertreten zu sein, wo die das Gemeinwohl betreffenden Entscheidungen gefällt werden.»
«Wenn man auch die unterschiedlichen Situationen und Mittel der verschiedenen Nationen beachten muss, besteht doch kein Zweifel, dass es einen gemeinsamen Nenner für alle gibt: die Notwendigkeit einer menschlichen Entwicklung (Promocion humana) der Land- und Eingeborenenbevölkerung. Diese Entwicklung wird unmöglich sein, wenn man nicht eine echte und dringende Reform der Agrarstruktur und Agrarpolitik durchführt. Dieser Strukturwandel und seine entsprechende Politik beschränken sich nicht auf eine blosse Landverteilung. Es ist unerlässlich, diese Landzuteilung unter bestimmten Bedingungen zu betreiben, die ihre Inbesitznahme legitimieren und ihren Ertrag sichern, sowohl zum Nutzen der Landarbeiterfamilien als auch der Wirtschaft des Landes. Das wird, abgesehen von juristischen und technischen Aspekten, deren Festsetzung nicht in unserer Kompetenz liegt, die Organisation der Landarbeiter in wirksamen Zwischenstrukturen, hauptsächlich in Formen von Genossenschaften erfordern.»
«Angesichts der Notwendigkeit einer umfassenden Wandlung der lateinamerikanischen Strukturen halten wir in diesem Wandel die politische Reform für erforderlich. Die Ausübung der politischen Autorität und deren Entscheidungen haben als einzige Zielsetzung das Gemeinwohl. In Lateinamerika stützen diese Ausübung und diese Entscheidungen offensichtlich häufig Systeme, die dem Gemeinwohl entgegenwirken oder privilegierte Gruppen begünstigen. Die Autorität sollte durch juristische Normen die Rechte und unveräusserlichen Freiheiten der Bürger und das freie Zusammenspiel der Zwischenstrukturen wirksam und fortlaufend sichern. Die öffentliche Autorität hat die Aufgabe, Beteiligungsmöglichkeiten und legitime Volksvertretungen zu schaffen und zu unterstützen oder, falls es nötig sein sollte, die Schaffung neuer Formen zu begünstigen und zu stärken. Wir möchten die Notwendigkeit betonen, die städtische und kommunale Organisation als Ausgangspunkt für das Leben im Bezirk, in der Provinz, in der Region und auf nationaler Ebene zu beleben und zu stärken. Der Mangel an politischem Bewusstsein in unseren Ländern macht die erzieherische Aktion der Kirche unentbehrlich. Ihr Ziel ist es, dass die Christen ihre Beteiligung am politischen Leben der Nation als Gewissenspflicht und als Akt der Nächstenliebe in ihrem edelsten und wirksamsten Sinn für das Leben der Gemeinschaft ansehen.»
«Es ist notwendig, dass sich die kleinen soziologischen Basisgemeinschaften weiterentwickeln, um ein Gleichgewicht gegenüber den Minderheitsgruppen, die die Macht haben, herzustellen.»
«Die ‹Caritas›, als eine in die Gesamtpastorale der Kirche eingegliederte Organisation, soll nicht nur eine Wohlfahrtseinrichtung sein, sondern sie muss sich in wirksamerer Weise in den Entwicklungsprozess Lateinamerikas als eine wirklich entwicklungsfördernde Institution eingliedern.»
«Wachsende Verzerrung des internationalen Handels. Infolge des relativen Absinkens der Preise im Warenaustausch sind die Rohstoffe im Vergleich zu den Kosten der Industrieprodukte immer weniger wert. Das bedeutet, dass die Rohstoffe erzeugenden Länder – vor allem, wenn sie vornehmlich ein Produkt erzeugen – immer arm bleiben, während sich die industrialisierten Länder immer mehr bereichern. Diese Ungerechtigkeit, durch ‹Populorum progressio› eindeutig verurteilt, vereitelt den möglichen positiven Effekt der Auslandshilfen; sie stellt ausserdem eine permanente Bedrohung für den Frieden dar, weil unsere Länder wahrnehmen, wie ‹eine Hand nimmt, was die andere ihnen gibt›.»
Enzyklika Populorum progressio>
Die Enzyklika Populorum progressio von Papst Paul VI. aus dem Jahr 1967 ist die erste Sozialenzyklika, die sich ganz der internationalen Entwicklung zuwendet. Weltwirtschaftliche Gerechtigkeit und die Überwindung der Spannung zwischen den reichen und armen Ländern – so die Hauptaussage der Enzyklika – sind Voraussetzung und Grundlage des Friedens. Dem ist das Recht auf Privateigentum unterzuordnen, denn das Privateigentum sei für niemanden ein unbedingtes und unumschränktes Recht. Niemand sei befugt, seinen Überfluss ausschliesslich sich selbst vorzubehalten, wo anderen das Notwendige fehle. – Der vollständige Text dieser gerade auch heute wieder hochaktuellen Enzyklika kann in deutscher, englischer, französischer, italienischer, spanischer und portugiesischer Sprache nachgelesen werden: hier anklicken
«Steuerflucht und Entziehung der Gewinne und Dividenden. Verschiedene ausländische Gesellschaften, die in unseren Ländern arbeiten (auch einige nationale), pflegen sich mit spitzfindigen Ausflüchten den bestehenden Steuersystemen zu entziehen. Wir stellen auch fest, dass sie manchmal die Gewinne und Dividenden ins Ausland abführen, ohne mit angemessenen Neuinvestitionen die fortschreitende Entwicklung unserer Länder zu unterstützen.»
«Internationale Monopole und internationaler Geldimperialismus. Wir möchten unterstreichen, dass die Hauptschuldigen der wirtschaftlichen Abhängigkeit unserer Länder jene Kräfte sind, die, angetrieben von einem hemmungslosen Gewinnstreben, zu einer wirtschaftlichen Diktatur und zum ‹internationalen Geldimperialismus› führen, den Pius XI. in ‹Quadragesimo anno› und Paul VI. in ‹Populorum progressio› verurteilten.»
(Ende der Zitate; Kursiv-Auszeichnungen von cm)
Grosse Hoffnungen – und Illusionen
Die Hoffnung auf eine sozialere, auf eine bessere Welt mit deutlich weniger Armut blieb allerdings weitestgehend eine Illusion. Elf Jahre später, 1979, wurden die Ziele der Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopates von 1968 an einer neuen Generalversammlung in Puebla in Mexiko zwar noch weitestgehend bestätigt, die Unterstützung der Arbeiterbewegung war aber schon jetzt kein Thema mehr (siehe dazu den Aufruf von 1979) und bereits wurde vor einer «übertriebenen Politisierung der Gewerkschaften» gewarnt. Nur vier Monate zuvor, im Oktober 1978, war nämlich in Rom der Krakauer Kardinal Karol Wojtyla zum neuen Papst gewählt worden – gegen die beiden italienischen Kandidaten, die immer ein Patt-Resultat erbrachten, und dank Unterstützung der neun US-amerikanischen Kardinäle im Wahlgremium, die in dem polnischen Geistlichen einen Garanten gegen alle linken Tendenzen in der katholischen Kirche erkannten. Der neue Papst Johannes Paul II., wie er sich dann nannte, gab der Generalversammlung von Puebla vier Monate später, im Februar 1979, zwar noch seinen Segen, begann aber ohne Verzug mit einer konsequenten Personalpolitik zugunsten konservativer Kirchenfürsten die geplante Wandlung in der lateinamerikanischen Kirche zu behindern und letztlich zu verhindern. Das bekannteste Beispiel dafür ist der Ersatz des Erzbischofs von Olinda und Recife Dom Hélder Câmara 1985 durch den Konservativen José Cardoso Sobrinho. Andere prominente Vertreter der Befreiungstheologie wurden unter massiven Druck gesetzt. Leonardo Boff zum Beispiel, einem der bekanntesten Kritiker des hierarchischen Systems der Katholischen Kirche, wurde zeitweise die Lehrerlaubnis entzogen. Um einer Exkommunikation zuvorzukommen, legte Boff sein Priesteramt 1991 freiwillig nieder und arbeitete fortan im Laienstand als Professor für Ethik an der Staatlichen Universität Rio de Janeiro. Andere einflussreiche Vertreter der Befreiungstheologie, zum Beispiel Kardinal Aloisio Lorscheider in Fortaleza, von 1973 bis 1979 Präsident der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz, wurde von Johannes Paul II. in ein belangloses Bistum versetzt, um seine Stimme zum Schweigen zu bringen.
Zum Bild: Kardinal Aloisio Lorscheider, ein Vertreter der Befreiungstheologie, war bis 1979 Präsident der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz, wurde später aber von Papst Johannes Paul II. vom Erzbistum Fortaleza mit fast vier Millionen Einwohnern ins Erzbistum Aparecida versetzt mit noch 190’000 Einwohnern. Zu seinem Nachfolger in Fortaleza wurde Kardinal Dom Claudio Hummes ernannt, der seinerseits im Jahr 2002 mithalf, den Befreiungstheologen Paolo Suess aus der Theologischen Fakultät der Universität Sao Paulo auszuschliessen (Foto Christian Müller).
Dass Papst Benedikt XVI., der ehemalige deutsche Theologe Joseph Aloisius Ratzinger, ebenfalls keine Neigung zeigte, die lateinamerikanische Befreiungstheologie zu dulden oder gar zu fördern, muss kaum erwähnt werden. Aber auch Papst Franziskus, mit bürgerlichem Namen Jorge Mario Bergoglio, ehemaliger Kardinal von Buenos Aires, dem bei seiner Wahl 2013 noch zu grosse Nähe zu den Befreiungstheologen vorgeworfen wurde, ist sehr zurückhaltend. Denkbar ist, dass er die sozialen Bewegungen in Lateinamerika zwar fördern möchte, dass ihm aber die dazu notwendige Hausmacht im Vatikan fehlt.
Mehr und mehr Evangelikale in Brasilien
Aber nicht nur hat sich die katholische Kirche in Brasilien – mit 210 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land in Lateinamerika – von einer sozialen Fürsorge für die Armen und Ärmsten programmatisch entfernt, es wächst in Brasilien auch bereits der Anteil jener Leute, die sich vom Katholizismus abgewandt und sich einer
angeschlossen haben. Die evangelikalen Kirchen der USA betreiben in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern eine intensive Mission und sind dabei – nicht zuletzt, weil sie auch über sehr viel Geld aus den USA verfügen – recht erfolgreich. Man schätzt, dass bereits etwa 30 Prozent der Brasilianer einer evangelikalen Kirche angehören. Und diese Leute sind es, die bei den Wahlen am 28. Oktober 2018 den Ausschlag zugunsten von Jair Bolsonaro gegeben haben.
Brasilien hat mit seinen 210 Millionen Einwohnern gleich viele Einwohner wie die anderen acht südamerikanischen Länder zusammen. Innerhalb Lateinamerika ist nur Mexiko mit 125 Millionen Einwohnern noch ein gewisses Gegengewicht zu Brasilien. Was in Brasilien abläuft, ist für Lateinamerika alleweil massgebend.
Und jetzt also Jair Bolsonaro
1968 eine in Lateinamerika starke, omnipräsente katholische Kirche, die sich im Geiste des Zweiten Vatikanischen Konzils dazu durchgerungen hat, sich nicht mehr für die Reichen und Mächtigen einzusetzen, sondern für die Unterprivilegierten und Ausgegrenzten, für mehr Gerechtigkeit und mehr Solidarität, für das Gemeinwohl aller Menschen – mit dem Hinweis auf die Enzyklika Populorum progressio und damit implizit auf die Aussage, dass auch privater Besitz kein unantastbarer Wert ist, wenn daneben Menschen verhungern.
2018, 50 Jahre später, im grössten und mächtigsten Land Lateinamerikas, in Brasilien, ein rechtsextremer Präsident, ein Parteigänger der Reichen und Mächtigen, ein Neoliberaler, ein Linken-Hasser, ein Ex-Militär, der nicht davor zurückschrecken wird, zur Durchsetzung seiner Machtansprüche auch das Militär einzusetzen. Von seiner widerlichen Kampagne gegen die Homosexuellen – ein Lieblingsthema der Evangelikalen in Südamerika und Afrika – und anderen unmenschlichen Sprüchen aus seinem Mund schon gar nicht zu reden. Eine echte Tragödie!
(Wer mehr über den neuen Präsidenten erfahren möchte, dem seien die Artikel von Federico Füllgraf auf den deutschen NachDenkSeiten empfohlen, hier und hier anklicken.)
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Zum Autor. Christian Müller weilte als Journalist etliche Male in Brasilien und hatte dabei auch Gelegenheit, Kardinal Aloisio Lorscheider, damals noch in Fortaleza, persönlich kennenzulernen und mit ihm zu reden.