Maduro

Die Wahlbehörde hat Amtsinhaber Nicolás Maduro zum Sieger der Präsidentschaftswahl in Venezuela erklärt, doch am Resultat bestehen Zweifel. © cc-by-sa-3 Fabio Rodrigues Pozzebom/ABr/Wikimedia Commons

Venezuela: Eine Feuerprobe für Lateinamerikas Linke

Romeo Rey /  Venezuelas autoritärer Staatschef bleibt nach der Wahl im Amt. Die Menschen im Land protestieren.

Romeo Rey
Romeo Rey, früher Lateinamerika-Korrespondent von «Tages-Anzeiger» und «Frankfurter Rundschau», fasst die jüngste Entwicklung zusammen 

Der Kampf um die Macht ist in Venezuela erst richtig entbrannt, als das Resultat der Präsidentenwahl feststand. Und er wird jetzt auf der Strasse ausgetragen.

Laut offizieller Darstellung hat der seit elf Jahren regierende Staatschef Nicolás Maduro mit knapp über 50 Prozent Stimmenanteil die Wahl gewonnen. Doch die Opposition wirft der Maduro-Regierung massiven Wahlbetrug vor. Viel wichtiger als das arithmetische Ergebnis ist jedoch die Vorgeschichte dieser Präsidentschaftswahl. Darüber gehen die Meinungen auch innerhalb der Linken Lateinamerikas weit auseinander. Die Frage, ob die Herrschaft im Erdölstaat noch als glaubwürdige Demokratie anzusehen sei, droht den ganzen Subkontinent zu zerreissen.

Schon vor dem Wahltag hatte die spanische Nachrichtenagentur EFE unter mehr oder weniger deutlich linksgerichteten Präsidenten der Region sondiert, was sie von dem staatsbürgerlichen Akt vom 28. Juli in Venezuela hielten. Vorbehaltlose Unterstützung äusserten die Regierenden in Kuba und Nicaragua. Die Präsidentin von Honduras, Xiomara Castro, delegierte die Verantwortung – wie diverse andere Länder – an eine Gruppe von Beobachtern, die den Wahlgang aus der Nähe verfolgen und beurteilen sollten. Boliviens Luis Arce verbat sich mit ähnlicher Begründung jegliche Einmischung des Auslands und gab Maduro damit sozusagen a priori grünes Licht.

Grössere Bedenken äusserten hingegen der chilenische Staatschef Gabriel Boric und sein kolumbianischer Amtskollege Gustavo Petro, die auf den Ausschluss von Kandidatinnen und Kandidaten hinwiesen, die Maduro «gefährlich» werden konnten. Allgemein erwartete man ein klares Wort vom Brasilianer Lula da Silva. Dieser dozierte, dass «bei demokratischen Prozessen die Wahlresultate von den Verlierern friedlich akzeptiert werden sollten». Doch damit wird man der Situation im Hinblick auf die rigorose «Vorselektion», die in Venezuela unzweifelhaft stattgefunden hat, nicht gerecht. Einen Überblick über den Ablauf der Präsidentenwahl und die Kandidaten hat das Onlineportal amerika21 zusammengestellt.

Hinzu kommt: Laut Daten der Vereinten Nationen haben 7 bis 8 Millionen Venezolaner in den letzten Jahren den einst reichen, inzwischen aber wirtschaftlich durch Fehler der Regierung und US-Sanktionen schwer angeschlagenen Erdölstaat verlassen. Auch das kann man als Stimme gegen die Regierung in Caracas werten. Das Traurige dabei ist: Exil-Venezolaner, die mittlerweile über den ganzen amerikanischen Kontinent und Teile Europas zerstreut sind, können ihren politischen Willen an der Urne kaum mehr artikulieren.

Schon am Tag nach der Präsidentenwahl griff das Feuer – zumindest in der Hauptstadt Caracas – auf die Strasse über. Im Moment sieht es danach aus, dass sich Maduro nach wie vor auf die Loyalität der Streit- und Sicherheitskräfte verlassen kann, die mit diversen Privilegien bei der Stange gehalten werden. Nach 25 Jahren «Sozialismus des 21. Jahrhunderts» unter der Führung des 2013 verstorbenen Hugo Chávez und mehr als einem Jahrzehnt unter dem martialischen Nicolás Maduro wird es jedoch zusehends schwieriger, das Schiff auf Kurs zu halten. Wie schon mehrmals in der Vergangenheit kommt der Unmut der Bevölkerung im Konzert des «cacerolazo» (leere Pfannen schlagen) in Teilen der 5-Millionen-Metropole lautstark zum Ausdruck.

Mit ähnlichen Indizien von Dekadenz, allerdings unter umgekehrten politischen Vorzeichen, schlägt sich der ultraliberale Javier Milei in Argentinien herum. Er peitscht sein radikales Sparprogramm zur Bekämpfung der hohen Inflation ohne Rücksicht auf die ärmere (und immer öfter bettelarme) Mehrheit im zweitgrössten Land Lateinamerikas mit aller Härte durch, berichtet die deutsche «taz». Nach Umfragen einer privaten Universität in Gross Buenos Aires gilt die Teuerung inzwischen aber nicht mehr als grösstes Problem. Noch viel mehr Sorgen bereitet den Befragten die Arbeitslosigkeit. Nach vorsichtigen Schätzungen kommt gegenwärtig kaum noch die Hälfte der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in den Genuss eines Arbeitsvertrags mit halbwegs geregelten sozialen Rechten.

In einer skurrilen Mischung von vorolympischer Euphorie und wirtschaftspolitischen Randnotizen unternimmt der argentinische Sportjournalist Sebastián Fest den Versuch, die persönlichen und familiären Hintergründe des seit Ende 2023 regierenden Staatsoberhaupts von Argentinien zu ergründen. Daraus ist eine lange Story von einem enorm aufgeblasenen Ego und einer erbärmlich verwirrenden Staats- und Gesellschaftskrise entstanden, die uns der «Tages-Anzeiger» in seinem samstags erscheinenden «Magazin» vorlegt.

Zu der ebenfalls komplizierten Lage in Bolivien äussert sich der erfahrene lokale Politologe Carlos Toranzo in einem Gespräch mit BBC Mundo. Er sieht in Präsident Arce den Gewinner des jüngsten Umsturzversuchs, bei dem kein Blut vergossen wurde und die rebellierenden Militärs nach kurzer Belagerung des Palacio Quemado (des Regierungssitzes in La Paz) zum Rückzug bliesen (Infosperber berichtete). Dank der Bevölkerung, die in Scharen aufmarschierte, sei die demokratische Ordnung wirksam verteidigt worden. Für erleichtertes Schulterklopfen besteht aber kein Anlass. Die Devisenknappheit hat mittlerweile ein derartiges Ausmass erreicht, dass nach jahrelanger Stabilität die Inflation im Land plötzlich wieder anziehen könnte.

Das Thema Machtmissbrauch ist in Lateinamerika allgegenwärtig – so auch im Chile der nachdiktatorischen Zeit. Ein in den USA aufgewachsener Mann hat Strafanzeige gegen den chilenischen Staat erhoben. Er behauptet in einem Artikel der NZZ, unter der Fuchtel von General Augusto Pinochet seien Tausende Babys, unter ihnen auch er selber, den legitimen Eltern weggenommen und zur Adoption durch Ausländer freigegeben worden. Mit seiner Strafanzeige will der US-Bürger die Untersuchungen über solche Fälle anstossen. Er prangert eine seiner Überzeugung nach systematische Praxis an, die sich «über Jahrzehnte erstreckt» habe und folglich auch unter demokratisch gewählten Regierungen fortgesetzt worden sei.

Im benachbarten Peru ist ein Fall von massenhaften Vergewaltigungen von Kindern publik geworden. Über 500 Knaben und Mädchen verschiedener indigener Gemeinschaften seien im Departamento Amazonas von Lehrern, unter denen sich einige als HIV-positiv herausgestellt hätten, massiv missbraucht worden, berichtet amerika21. Auch hier sollen sich die Missstände über Jahre und sogar Jahrzehnte hingezogen haben, ohne dass die zuständigen Instanzen reagiert hätten.

Swissinfo berichtet über den Fall des Schweizer Unternehmers Ulrich Gurtner, der auch mit Organisationen für technische Zusammenarbeit kooperiert und dabei in die Mühlen der Justiz in Guatemala geraten ist. Ihm werden Steuerhinterziehung und Geldwäsche vorgeworfen. Solche Vorwürfe werden in diesem zentralamerikanischen Land oft gegen Personen erhoben, die man aus politischen Gründen schikanieren oder aus sonstigen Gründen loswerden will. Im vorliegenden Fall passen die Vorwürfe allerdings nicht zur Laufbahn des Opfers: Gurtner engagiert sich seit langem für Tausende genossenschaftlich organisierter Kaffeebauern. Dies scheint keiner Geringeren als der Obersten Staatsanwältin Guatemalas zu missfallen. Dieselbe Funktionärin hat mit allerlei Machenschaften versucht, die verfassungsmässige Übernahme der Macht durch den gewählten Präsidenten Bernardo Arévalo zu hintertreiben. Ohne Erfolg.

«No hay derecho!» («Es gibt kein Recht!») ist ein immer wieder gehörter Ausruf im fernen Süden. In vielen Ländern Lateinamerikas gibt es keine Justiz, die diesen Titel wirklich verdient. Allzu oft haben Rechtsprechung und Gerichtsbarkeit eher den Zweck, etablierte Machtverhältnisse zu zementieren, als für Wahrheit und Gerechtigkeit zu sorgen. Doch das trifft nicht nur auf den Subkontinent zu. Seit über 60 Jahren hält Washington seine totale Blockade gegen den Inselstaat Kuba aufrecht, obwohl jedes Jahr eine erdrückend grosse Mehrzahl von Nationen in der UNO-Vollversammlung die USA auffordern, von dieser Schikane endlich abzulassen. Was diese Blockade für Kuba bedeutet, darüber tauscht sich der kubanische Präsident Miguel Díaz-Canel mit dem linken Journalisten Ignacio Ramonet in einem langen Interview aus, das auf amerika21 zu lesen ist.

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Cover_Rey_Lateinamerika
Romeo Rey, Die Geschichte Lateinamerikas vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 284 Seiten, 3. Auflage, C.H.Beck 2015, CHF 22.30

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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Politik in Süd- und Mittelamerika: Was in vielen Medien untergeht

Der frühere Lateinamerika-Korrespondent Romeo Rey fasst die Entwicklung regelmässig zusammen und verlinkt zu Quellen. Zudem Beiträge von anderen Autorinnen und Autoren.

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Eine Meinung zu

  • am 1.08.2024 um 13:13 Uhr
    Permalink

    Mit keinem Wort wird in dem Artikel auf die lebensfeindlichen Sanktionen der US-Regierung eingegangen, die hauptsächlich für den Rückgang des Lebensstandards unter Maduro verantwortlich ist.
    Ebenso fehlt jeder Hinweis auf die massive Wahlbeeinflussung seitens der USA, die schon einmal eine Regime-Change-Operation mit einem Guaido versucht haben durchzuführen.
    Man kann nachlesen, wie so etwas inszeniert wird, unter Beifall der gleichgeschalteten deutschen Leim-Medien. So brachte der BR schon zu Zeiten des Putschversuches von Guaido in den Radionachrichten eine Erfolgsmeldung desselben, bevor der Putsch überhaupt stattgefunden hatte. Seit dieser Zeit bin ich misstrauisch geworden.
    Die venezuelanische Zivilbevölkerung braucht nur mal nach anderen südamerikanischen Ländern zu schauen, wo die Ausbeutung und Verelendung set Jahrzehnten floriert, um so etwas für ihr eigenes Land abzulehnen.

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