Velosicherheit: Die Schweiz schläft
In Österreich wird Velo fahren sicherer. «Beim Überholen von Radfahrern hat der Seitenabstand im Ortsgebiet mindestens 1,5 m und ausserhalb des Ortsgebiets mindestens 2 m zu betragen.» So steht es seit Anfang Oktober in der Strassenverkehrsordnung. Nur eine Einschränkung gibts: «Bei einer gefahrenen Geschwindigkeit des überholenden Kraftfahrzeugs von höchstens 30 km/h kann der Seitenabstand der Verkehrssicherheit entsprechend reduziert werden.» Oder anders gesagt: Nur wer sehr langsam fährt, darf mit geringerem Abstand überholen.
In Europa gang und gäbe
Was neuerdings in Österreich gilt, ist keineswegs revolutionär. In Deutschland gelten die gleichen Mindestabstände. In Frankreich sind es ausserorts anderthalb Meter, innerorts ein Meter. Und zwar schon seit 1958. Verkehrsschilder erinnern die Autofahrer in Frankreich immer wieder an den Mindestabstand. Ebenso in Spanien und in Portugal. In Grossbritannien müssen Autofahrer, die Velos überholen, «plenty of room» gewähren – also jede Menge Platz. Konkret: Bis zu einer Geschwindigkeit von 48 Kilometern mindestens anderthalb Meter; bei höherer Geschwindigkeit und bei schlechtem Wetter mehr. Auch in Spanien beträgt der Mindestabstand anderthalb Meter. Gibt es mehr als eine Fahrspur pro Richtung, muss der Autofahrer die Spur komplett wechseln, um einen Velofahrer zu überholen.
Genügend Abstand ist in vielen Lebenslagen wichtig, wie dieser Film zeigt.
Hierzulande «Ausreichender Abstand»
Und in der Schweiz? Im Strassenverkehrsgesetz steht nur, dass beim Überholen ein «ausreichender Abstand» zu waren sei und «besonders Rücksicht» genommen werden müsse. Was das bedeutet, kann niemand sagen. Deshalb haben der Berner SP-Nationalrat Matthias Aebischer und der Tessiner FDP-Nationalrat Rocco Cattaneo im Parlament in den letzten Jahren wiederholt Anläufe genommen, verbindliche Regeln ins Gesetz zu schreiben zu lassen. Doch der Bundesrat lehnte die Vorstösse ab. Mit der Begründung, ein Mindestabstand sei «kaum kontrollier- und durchsetzbar».
Ähnlich sah es der Nationalrat kürzlich bei der Revision des Strassenverkehrsgesetzes. Mit deutlicher Mehrheit lehnte er einen gesetzlich vorgeschriebenen Mindestabstand ab. Sogar ein Überholverbot im Kreisel wollte der Nationalrat nicht. Die zuständige Bundesrätin Simonetta Sommaruga hatte in der Debatte entsprechend auf den Nationalrat eingewirkt. Auch sie hatte behauptet, ein Mindestabstand sei «kaum kontrollier- und durchsetzbar».
Messungen sind möglich
Doch die Bundesrätin liegt falsch. In den USA und in Grossbritannien misst die Polizei die Abstände schon lange. Und sie ahndet auch Verstösse. In Spanien gibt es für zu geringe Abstände hohe Bussen. Entsprechend anständig sind die Autofahrer unterwegs.
Anders in der Schweiz: Vor drei Jahren mass die Konsumentenzeitschrift Saldo mit einem Ultraschallgerät insgesamt 1100 Überholvorgänge in Basel und Zürich. In 340 Fällen betrug der Abstand weniger als einen Meter. In 20 Fällen weniger als einen halben Meter. Die kleinsten gemessenen Abstände betrugen 41 Zentimeter in Zürich und gerade mal 26 Zentimeter in Basel.
Hohe Dunkelziffer
Die Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU) hält zwar in ihrem Verkehrsdossier Fahrradverkehr fest, dass nur rund 5 Prozent der Unfälle mit schwerverletzten Velofahrern auf zu geringen Abstand beim Überholen zurückzuführen sei. Allerdings dürfte der tatsächliche Anteil deutlich höher sein.
Auch der Allgemeine deutsche Fahrrad-Club (ADFC) schreibt nämlich, dass Berührungen am Ellenbogen, am Lenker oder am Pedal und daraus resultierende Stürze relativ selten seien. Aber: «Kritische Situationen werden meist rechtzeitig durch ein Ausweichen des Radfahrers entschärft.» Das Ausweichen könne aber auch zu Unfällen führen, die fälschlicherweise als Selbstunfälle in die Statistiken eingingen, schreibt der ADFC. Er nennt Beispiele: «Radfahrer stürzen, weil sie Druckschwankungen von überholenden Lastwagen nicht genügend ausgleichen können; sie machen Fahrfehler, weil sie erschrecken; sie verlassen während des Ausweichens den befestigten Bereich der Fahrbahn; sie stürzen, weil sie Randsteine touchieren.» Auffallend: Solche Selbstunfälle machen in der BfU-Statistik 31 Prozent der Unfälle mit schwerverletzten Velofahrern aus. Ein schöner Teil davon dürfte auf zu geringe Abstände zurückzuführen sein.
Doch weder die BfU noch das Bundesamt für Strassen (Astra) sehen Handlungsbedarf. Das Astra schreibt: «Wir können den Ausführungen des Bundesrats nichts anfügen.» Und die BfU findet: «Ein Fokus muss auf einer sicheren Infrastruktur liegen. Dazu gehören zum Beispiel ausreichend breite Velowege und -streifen.» Innerorts sei, wo der Platz fehle, Tempo 30 sinnvoll. Ausserorts soll «der Veloverkehr abseits der Fahrbahn geführt werden».
Die wichtigsten Tipps für Velofahrer
- Fahren Sie mit dem Velo nicht ganz am Strassenrand. Halten Sie einen Abstand von 70 bis 100 Zentimetern. So werden Sie besser gesehen, eher respektiert und können, wenn Sie zu knapp überholt werden, auch noch nach rechts ausweichen.
- Halten Sie diesen Abstand insbesondere an engen Stellen ein. So können Sie verhindern, dass Autos überhaupt überholen.
- Durchfahren Sie Kreisel in der Mitte der Spur, sofern Sie nicht die erste Ausfahrt nehmen wollen. Das ist erlaubt und sogar offiziell empfohlen. Diese Fahrweise verhindert, dass jemand Sie im Kreisel überholt.
Die wichtigsten Tipps für Autofahrer
- Halten Sie besonders bei Kindern einen grossen Abstand. Kinder und ungeübte Velofahrer haben häufig Mühe, die Spur zu halten.
- Rechnen Sie auch bei erwachsenen Velofahrern mit einem plötzlichen Schlenker. Zum Beispiel wenn diese im letzten Moment einem Stein, einem Schachtdeckel oder einem Schlagloch ausweichen müssen.
- Überholen Sie nicht vor unübersichtlichen Kurven, auf Kreuzungen und bei Gegenverkehr.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Sehr nötiger Beitrag. Gerade gestern hatte ich wieder einmal den Eindruck, ein Lieferwagenfahrer hätte fast meinen Rückspiegel touchiert. Die Folge davon: meine Aufmerksamkeit wird massiv beeinträchtigt, was einen Unfall wahrscheinlicher macht. Während ich in Kreiseln kaum mehr in Schwierigkeiten gerate, weil ich «frech» in die Mitte fahre, ertappe ich mich immer wieder dabei, zu nah am rechten Rand zu fahren, was für viele Autofahrer erst recht als Einladung verstanden wird, besonders knapp zu überholen. – Und zur Kontrollierbarkeit: wenn unser Rechtssystem nur das regeln würde, was problemlos zu kontrollieren ist, dann könnte man beispielsweise Steuerhinterziehung gleich zulassen.
In der Schweiz ist man sehr wohl tätig, so werden vielerorts die Strassen künstlich verengt mit hunderten von Strasseninseln, dem Verschieben von Bushaltestellen vom Strassenrand in die Fahrbahn und auch sehr beliebt, dass seitliche verengen mittels Strassenpfähle. Natürlich ist die eigentliche Absicht, den motorisierten Verkehr zu behindern, aber die Strassen werden für alle Verkehrsteilnehmer gefährlicher und die Zweiräder, ob mit oder ohne Motor, riskieren am meisten.
Die einzige vernünftige Lösung wären Fahrradwege, welche von der Fahrspur für den motorisierten Verkehr klar getrennt sind. Dies würde die Verkehrsicherheit aller Beteiligten erhöhen und auch die Umwelt schonen, da es zu weniger Kolonnen und Stau kommen würde. Es stellt sich letzendlich die Frage der Finanzierung, Motorfahrzeuge werden besteuert, Velos nicht, obwohl sie auch (zu Recht) hohe Ansprüche stellen. Eine angemessene Strassensteuer für den Veloverkehr sollte in Betracht gezogen werden.
Damit die Autofahrer schön Abstand halten gibt’s einen einfachen Trick: leicht Schlangenlinien fahren (Betrunkener simulieren) das funktioniert zu 100%.
Ein Rechtsüberholverbot für Velofahrer wäre auch schon lange nötig und sollte mit drakonischen Strafen durchgesetzt werden. Meistens sind es Velofahrer selber die sich in Gefahr bringen.
Liebe Neinstimmende
Meinen Sie es wirklich ernst damit. dass Velos am besten aus dem Verkehr gehören??
Es dürfte ja allgemein bekannt sein, dass die Schweiz in solchen Dingen meistens ein paar Jahre hinter her reagiert. Es sei denn, es erwischt jemand mit prominenten Namen. Dann geht es plötzlich viel schneller. Beispiele gäbe es genug. Das lässt tief blicken.
Wieso ist die Abstandsregel zwischen den einzelnen Ländern eigentlich verschieden und wieso dann auch unterscheidliche Meterzahlen zwischen Stadt & Land oder bei der Geschwindigkeit (doch wohl NICHT des Autos!)
Es ist so schizophren wie die regional verschiednen Abstandsregeln bei Covid-19
als ob der deutsche Radfahrer anders geartet ist als der Mensch aus der Schweiz
Wenn ich das oben gezeigte Foto sehe, bekomme ich eine Gänsehaut: Auch mich hat man im Ort bei 20 kmh über die Bordsteinkante geschmissen – ohne das Stadtpolizei oder Kommalverwaltung davon Kenntnis nahmen
By the Way: In der Großstadt Köln und Umgebung kommt man seit Jahren & Jahrzehnten nicht aus dem Quark; Aber man fantasiert über Radfahrer-‹Autobahnen› während ich als Spaziergänger vor ‹hochmotiviert›, sportlichen Rennradfahrern in den Graben springen muss!
Rainer Schulze, Efferen
Rentner, Radfahrer und Wanderer
Mir kommt die ganze Diskussion wieder sehr verbissen und ideologisch vor. Unkooperatives, provokatives und rechthaberisches Verhalten ist selten zielführend. Respektvolles Miteinander sollte die Devise sein. Ich fahre jedes Jahr viele tausend Kilometer mit dem Fahrrad. Meine Erfahrungen decken sich mit den hier geschilderten Wildwestgeschichten nicht. Und, alle bisherigen Stürze muss ich auf meine eigene Kappe nehmen!
Nun denn, sei Sie froh – ich habe anderes erlebt. Wünsche ihnen weiterhin viel Glück.
Ja – GEGENSEITIGE Rücksichtnahme wäre wichtig und zwar zwischen Velo- und Autofahrerinnen wie auch zwischen Fussgängern. Da bewährt sich die goldene Regel: Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem andern zu».
Selbst bei uns auf abgelegenen Strassen hat seit Corona der Autoverkehr allgemein und der Veloverkehr an schönen Wochenenden spürbar zugenommen.
Für RadlerInnen, lohnt es sich – im eigenen Interesse – zu Auto- oder Velo-Stosszeiten eher daheim zu bleiben oder verkehrsärmere Zeiten oder noch weniger befahrene Wege auszusuchen. Das funktioniert meistens – und sonst muss man doppelt aufpassen.
Übrigens «Schlangenfahren» praktiziere ich seit über 30 Jahren. Auch das hat sich bewährt.
Es empfiehlt sich immer, schon VOR einem Kreisel mit dem Fahrrad in die Mitte der zuführenden Fahrbahn zu wechseln. Auch wenn man bei der ersten Ausfahrt den Kreisel gleich wieder verlässt, hindert man so insbesondere Lastwagen am Überholen bereits im Einfahrtsbereich. Sonst gerät man leicht in den toten Winkel des LKW-Rückspiegels und wird allenfalls gar noch von der ausschwenkenden Ladefläche weggewischt.
Es gibt Abstandshalter, die man am Gepäckträger klemmen kann. Ich habe keinen, aber sind vielleicht nützlich. Ich habe auch schon gesehen, dass Leute sie selber verlängert haben, da sie original recht kurz sind.
Ich wäre froh um eine verbindliche Regel in der Schweiz wie bei unseren Nachbarn. Deutsche Velofahrer haben mir gesagt, dass die Wandlung der früheren Empfehlung (wie heute in der Schweiz) in ein verbindliches Gesetz viel gebracht hat. Aber die schweizerischen Räte und Behörden inkl. BFU werten die freie Fahrt für Autofahrer höher als die Sicherheit der Velofahrer, was man auch bei Tempodiskussionen immer wieder erlebt, wo auch die Gesundheit der ganzen Bevölkerung als zweitrangig gilt.