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Kommen viel zu spät und sind sehr teuer: Die behindertengerechten Haltestellen in der Stadt Bern. © Stadt Bern

Über 700’000 Franken pro Haltestelle

Marco Diener /  Ende Jahr müssten alle Haltestellen behindertengängig sein. Die Umbauten kommen viel zu spät. Und sie sind sehr teuer.

Kaum zu glauben: Am 1. Januar 2004 trat das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft. Es schreibt vor: «Bestehende Bauten und Anlagen sowie Fahrzeuge für den öffentlichen Verkehr müssen spätestens nach 20 Jahren nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes behindertengerecht sein.» Das heisst: Behinderte sollen die öffentlichen Verkehrsmittel ohne fremde Hilfe benützen können.

Anfang 2024 laufen die 20 Jahre ab. Und was haben die Bahninfrastrukturunternehmen, die Transportunternehmen, die Kantone und die Gemeinden gemacht? Nicht sehr viel. Das ist wahrscheinlich auch den Verantwortlichen bewusst. Und trotzdem üben sie sich gegenwärtig im Schönreden.

60 Prozent der Bahnhöfe

In einer gemeinsamen Medienmitteilung schreiben der Verband des öffentlichen Verkehrs, die Konferenz der kantonalen Direktoren des öffentlichen Verkehrs, die Bau-, Planungs- und Umweltdirektoren-Konferenz sowie der Städteverband kürzlich: «Die ÖV-Branche sowie die Kantone, Städte und Gemeinden haben viel investiert und Massnahmen umgesetzt.» So seien rund 60 Prozent der Bahnhöfe umgestaltet.

Gleichzeitig mussten aber die Verantwortlichen einräumen: «Trotz grossem Engagement und vielen Fortschritten wird vor allem die Umsetzung im Bereich der Bus-Haltekanten nicht fristgerecht erreicht werden.»

20 Prozent der Bushaltestellen

Wie gross der Rückstand ist, zeigt das Beispiel der Stadt Bern. Von insgesamt 408 Bus- und Tramhaltestellen sind erst deren 89 so umgestaltet, dass sie behindertengerecht sind. Das sind kaum mehr als 20 Prozent der Haltestellen.

Den Verantwortlichen ist bewusst, dass sie das Gesetz missachten. Sie schreiben: «Die Stadt Bern wird die gesetzlich vorgegebene Frist nicht einhalten können.» Gleichzeitig reden sie sich heraus: «Dies gilt aber auch für zahlreiche andere Schweizer Städte.»

Schlechte Gesellschaft

Offenbar ist die Stadt Bern tatsächlich in ausgesprochen schlechter Gesellschaft. Sie schreibt nämlich: «Eine Umfrage des Tiefbauamts hat gezeigt, dass in den Schweizer Städten bis Ende 2023 durchschnittlich erst jede fünfte ÖV-Haltestelle hindernisfrei ausgestaltet sein wird. Dies entspricht ziemlich genau der Situation in der Stadt Bern.»

Immerhin: Jetzt soll es vorwärts gehen. Zumindest mit nochmals gut 20 Prozent der Haltestellen. Die Stadtbehörden werden dem Stimmvolk nämlich nächstes Jahr für weitere 94 Haltestellen einen Kredit vorlegen. Doch der hat es in sich.

720’000 Franken pro Haltestelle

67,5 Millionen Franken will die Stadt für die 94 Haltestellen. Die Rechnung ist schnell gemacht: Pro Haltestelle sind das fast 720’000 Franken. Zum Vergleich: Die Immobilienberatungsfirma Wüest und Partner hat letztes Jahr die Baukosten für ein Einfamilienhaus mit fünf Zimmern und 170 Quadratmetern Fläche ermittelt. Und zwar anhand von rund 100’000 Baubewilligungen. Das Ergebnis: Die durchschnittlichen Baukosten betrugen 740’000 Franken.

Anders ausgedrückt: Der Umbau einer einzigen Haltestelle mit ein paar Randsteinen, die etwas höher sind als die bisherigen und abgerundet, mit einer Bodenmarkierung für Sehbehinderte und einem Lautsprecher für Fahrplaninformationen kostet praktisch gleich viel wie der Bau eines Einfamilienhauses.

Weitere «bauliche Anpassungen»

Martin Lehmann vom Tiefbauamt der Stadt Bern räumt gegenüber Infosperber zwar ein: «Der Vergleich mit den Baukosten eines Einfamilienhauses mag auf den ersten Blick durchaus veranschaulichen, dass die Investitionskosten für die Anpassung einer Haltestelle sehr hoch sind.» Aber er sagt auch: «Es reicht nicht, einfach eine Haltekante zu erhöhen. Eine Erhöhung der Haltekanten bringt immer bauliche Anpassungen am gesamten Haltestellenbereich mit sich.» So müsse für die Menschen im Rollstuhl Platz zum Manövrieren geschaffen werden. Die Neigung dürfe nicht zu gross sein. Vielleicht brauche es eine Veloumfahrung. Manchmal werde auch gleich noch eine Betonplatte für den Bus eingebaut. Oder die Haltestelle müsse verlängert werden.

Bis die 94 Haltestellen behindertengerecht sind, wird es noch viele Jahre dauern. Die Stadtbehörden rechnen damit, dass sie 10 Haltestellen pro Jahr umbauen werden. Oder anders gesagt: Die Arbeiten an den 94 Haltestellen werden frühestens 2035 abgeschlossen sein. Also über zehn Jahre später, als das Behindertengleichstellungsgesetz verlangt.

Und die restlichen 225 Haltestellen?

Und dann sind da noch die restlichen 225 Haltestellen – also mehr als die Hälfte. 146 davon werden dann umgestaltet, wenn ohnehin Arbeiten am Strassenbelag, an Gleisen oder an Werkleitungen anstehen. Laut der Stadt Bern lässt sich für diese 146 Haltestellen «kein verlässlicher Zeitrahmen nennen». Sicher ist aber, dass es «über 2035 hinaus dauern wird».

Für die letzten 79 Haltestellen hat die Stadt keine Pläne. Sie «weisen eine tiefe Fahrgastfrequenz auf, stellen keine oder bloss eine untergeordnete Umsteigebeziehung sicher, liegen nicht in Nähe zu Alters- und Behinderteninstitutionen». Die Umgestaltung erfolge deshalb «zu einem späteren Zeitpunkt». Oder anders gesagt: Es dürfte noch Jahrzehnte dauern, bis die Stadt Bern das Behindertengleichstellungsgesetz befolgt.

«Die Frist war grosszügig»

Die Behindertenorganisation Inclusion Handicap ist empört über das liederliche Verhalten von Bahninfrastrukturunternehmen, Transportunternehmen, Kantonen und Gemeinden: «Die Frist des Gesetzgebers war grosszügig: In 20 Jahren hätten alle Anlagen, Bauten, und Fahrzeuge des öffentlichen Verkehrs von Menschen mit Behinderungen autonom und spontan nutzbar sein sollen. Die zuständigen Akteure haben die Frist weitgehend verschlafen.»

Deshalb fordert Inclusion Handicap:

  • Eine neue gesetzliche Frist zur Umsetzung bis spätestens 2030.
  • Eine Etappierung mit verbindlichen Zielen.
  • Eine griffige Kontrolle und damit verbundene Sanktionen.
  • Eine solide Finanzierung.

Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

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7 Meinungen

  • am 2.12.2023 um 14:30 Uhr
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    Diese seltsam abgestuften Haltekanten bringen höchstens für Rollstuhlfahrer etwas, falls sie den entstehenden mehr oder weniger breiten Spalt überwinden können. Kinderwagen und Einkaufswagen mit ihren kleineren Rädern bleiben aber darin stecken! Die Stufen sind unnötig!

  • am 2.12.2023 um 17:04 Uhr
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    Die Prioritäten sind klar ersichtlich.

  • am 3.12.2023 um 09:37 Uhr
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    Als Fussgänger, Velofahrer und Inlineskater habe ich mich schon xmal geärgert über die abgeschrägten Bordsteine, welche unten eine scharfe Kante belassen. Mir wurde gesagt, diese Kante wäre für Blinde. Während ich mich an gewissen Stellen schon xmal geärgert habe (und mit dem Velo schon gestürzt bin), ist wohl noch nie ein Blinder über diese Stelle gegangen.

  • am 3.12.2023 um 10:51 Uhr
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    An Geld und Willen für Prestigeobjekte mangelt es jedenfalls nicht.
    z.B. für den Valser Gneis auf dem Bundesplatz, insgesamt 12Mio, davon 8Mio von der Stadt (ist schon einige Jahre her). Oder für die im Bau befindlichen Fussgänger-Unterführungen am Bahnhof, für Schulhäuser und Hallenbäder, und notabene: alles auf Pump. Für Rollifahrer gibt’s die Pumpe am Strassenrand, zum Reifen aufpumpen. Wenn das wenigstens 4 bar Druckluft wäre die man anzapfen könnte; aber nein, es ist Muskelkraft gefragt: ein gefeiertes Prestigeprojekt.
    Wenn ich bei der Stadt reklamiere, die Haltestelle Monbijou sei eine der unfallträchtigsten Stellen der Schweiz (an 16. Stelle – dort geraten Radfahrer in die Tramschienen und überschlagen sich, Kieferbruch, Zähne ausgeschlagen – das ist in etwa der Standard dort – und das jedes Jahr 2-3 Mal), zudem die Haltestelle eine Buckelpiste ist (dass man ja ins Gleis geraten muss), dann werde ich vertröstet. Autofreie Sonntage sind wichtiger.

  • am 3.12.2023 um 18:47 Uhr
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    Der Umbau einer einzigen Haltestelle nach Massstäben Schweizer Bünzlibeamten kostet über 700’000 Franken. Wahrscheinlich könnte man dieses Geld mit grösserem Nutzen für Behinderte einsetzen.

  • am 4.12.2023 um 08:50 Uhr
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    Ein Beispiel für ein verabsolutiertes, einziges Ziel der Gleichstellung. Das abgeschwächte Ziel der Gleichberechtigung wäre sinnvoll, so aber ging jede Verhältnismässigkeit verloren. Kosten scheinen egal zu sein. Bereits die Postautos selber sind teilweise mit Absenkmechanismus ausgestattet. Auch das ist/war schon nicht gratis.

    Besser und v.a. viel günstiger wäre ein Abruftaxi für alle Rollstuhlfahrer. Das wäre für Rollstuhlfahrer im Vergeich mit ’normalen› ÖV-Nutzern zu jeder Zeit (und nicht nur im Fahrplan) möglich und auch bequemer (nicht von Haltestelle zu Haltestelle sondern von A nach B), einziger Nachteil wäre die Notwendigkeit eines Anrufs. Hauptvorteil im System aber: es wäre massiv günstiger.

    • am 5.12.2023 um 09:52 Uhr
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      Fragen betreffend der Haltestellen in Kurvenlage, kommende Tramkompositionen mit Schiebetritten, Velobypass etc, stellen sich immer wieder neu. Das Planungsamt in Basel-Stadt sieht sich für die kommenden Projekte gezwungen seinen Personalbestand aufzustocken. An den Mehraufwand beim Bauen nach dem Schwammstadt-Prinzip, die Haltestellendächer als Bienenstop ist dabei noch nicht gedacht. Ein Grund wohl, dass in Basel-Stadt die Städtklimainitiativen am Abstimmungswochenende im November 2023 an der Urne scheiterten. Es ist die Ironie des Schicksals, dass selbst eine GLP-Regierungsrätin im Bau- und Verkehrsdepartement die Ablehnung der Initiativen empfohlen hatte. Blind Asphaltieren ist State-of-the-Art. Warum beim Umbau von Tramhaltestellen gekleckert werden kann erstaunt darum sehr.

      Das ASTRA oder die ETH hat sich dem Thema leider nicht angenommen, obwohl alle Städte mit denselben Fragen konfrontiert sind.

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