Turkmenistan ohne Virus aber mit goldenem Hund
Kennen Sie ein Land, das nicht einen einzigen Covid-19-Fall hat? Ich meine nicht irgendeine Mini-Insel weit draussen in einem grossen Ozean, sondern einen Staat von einiger Grösse? Ich kenne einen: Turkmenistan in Zentralasien. Fläche: rund elf Mal so gross wie die Schweiz. Einwohner: etwa sechs Millionen. Staatsform: auf dem Papier Republik, in Wahrheit aber eine Einmann-Show. Präsident: Gurbanguly Berdimuhamedow.
Klar, dass böse Menschen, insbesondere Journalisten, immer wieder fragen, ob es denn wirklich wahr sei, dass Turkmenistan Corona-frei sei. Ebenso klar aber auch, dass Sprecher des Präsidenten/der Regierung antworten: Ja, so ist es. Alles Corona-frei.
Es ist nicht einfach, Informationen aus dem Reich des früheren Arztes Berdimuhamedow zu erhalten. Wer sich kundig machen möchte, schaue am besten nach auf der Webseite eurasianet.org – da gibt es oft sehr Lesenswertes. Kürzlich dies: Der Präsident hat an zentralen Stellen in der Hauptstadt Ashghabad vergoldete Statuen eines Alabai-Hundes aufstellen lassen. Dazu muss man wissen: Der Alabai ist ein zentralasiatischer Herdenschutzhund, sehr wichtig für die Hirten in Turkmenistan. Somit hat er die Ehrung wohl verdient.
Prunk und Präsidentenkult
Ich war 2005 zum ersten Mal in Turkmenistan. Saparmyrat Nyasow, genannt Türkmenbashi (Vater der Turkmenen), war damals noch Präsident. Er hatte das Land in vielfältiger Weise gesegnet: Niemand musste für das im Haushalt verbrauchte Gas bezahlen, auch nicht für Strom und Wasser. Niemand musste oder durfte sich mehr in eine Bibliothek in seiner Provinzstadt bemühen – Türkmenbashi liess sie alle schliessen und verfügte, dass es nur noch eine Bibliothek gab: in der Hauptstadt Ashghabad. Wer Bücher ausleihen wollte, musste oft sehr weit reisen – von irgendwoher im weiten Land. Immerhin: Ein Flugticket kostete nicht mehr als das Trambillet in einer Schweizer Stadt. Mit der Eisenbahn war es noch etwas günstiger.
In der Hauptstadt erwartete ihn/sie ein riesiger Stadtgarten mit Springbrunnen und vergoldeten Denkmälern. Das Wasser sprudelte fast überall, auch wenn in den Weiten Turkmenistans Wasserknappheit, ja Dürre herrschte. Die Denkmäler waren natürlich alle Türkmenbashi gewidmet. Das «schönste» stellte den Präsidenten dar, vergoldet, auf einer etwa zwanzig Meter hohen Marmorsäule thronend. Die Statue drehte sich in 24 Stunden einmal um sich selbst. Sie symbolisierte, dass der «Vater der Turkmenen» ständig rundum sein Land überschaute und die Bürgerinnen und Bürger beschützte. Wie? Indem er ihnen die Qual der Wahl ersparte.
Es gab – gibt weiterhin – keine andere Partei als jene des Präsidenten. Bei Wahlen (die finden wirklich statt) treten zwar jeweils einige Persönlichkeiten an, aber die sind nur Staffage. Selbst diese Kandidaten denken nicht im (Alb-)Traum daran, gewählt zu werden. Unter anderem wegen dieser Wahl-Eigentümlichkeiten gelangte Turkmenistan im Ranking von «Foreign Policy» auf Platz fünf der 23 schlimmsten Diktaturen der Welt (und in Sachen Medienfreiheit bei Reporter ohne Grenzen auf den weltweit zweitletzten Platz).
Die gesammelten Weisheiten des Herrschers
Auch einige andere Aspekte des Regimes waren und sind etwas problematisch. Türkmenbashi, immer tituliert als «der geliebte Präsident», schloss nicht nur die Bibliotheken ausserhalb der Hauptstadt, sondern auch die geisteswissenschaftlichen Fakultäten in den Universitäten. Überflüssig seien sie, befand er, und veröffentlichte ein Buch, das alles Übrige an Wissen ersetzen sollte: das «Ruhname» (das Wort kommt aus dem Persischen: Ruh bedeutet Geist, Name Brief oder Buch). Gründliche Kenntnisse des Ruhname wurden bald vorausgesetzt für einen Job in der Verwaltung, auch in der Industrie. Und in der Universität von Ashghabad richtete der Präsident eine Ruhname-Fakultät ein. Ja, man konnte in Ruhname doktorieren. Und selbst auf der Primarschulstufe musste Ruhname gebüffelt werden.
Und was steht drin in diesem Ruhname? Viel Wissenswertes – etwa, dass die Turkmenen viel erfunden haben, etwa das Rad (sonst liest man, das Rad sei in Mesopotamien erfunden worden). Auch, dass alle Bürgerinnen und Bürger ihren Eltern und dem Staatspräsidenten Gehorsam schulden – und Ähnliches. Manches ist historisch etwas problematisch, anderes selbstverständlich. Westliche Autoren könnten ähnliche Weisheiten auf vielleicht hundert Seiten niederschreiben, aber Türkmenbashi schrieb dazu insgesamt sechs dicke Bände. In der Hauptstadt Ashghabad kann man das «Ruhname» übrigens auch in deutscher Sprache kaufen. Auflage? Unbekannt. Finanzierung? Dazu gibt es keine offiziellen Auskünfte, wohl aber inoffizielle/geheime: Ein deutscher Autokonzern, dessen Manager sich über Verkäufe in Turkmenistan freuten, übernahm die Kosten.
«Das geliebte Pferd des geliebten Präsidenten»
Als ich zum ersten Mal nach Turkmenistan reiste, überquerte ich die Grenze von Uzbekistan in der Nähe von Chiva, unfern der Stadt Dashghawuz. Eine Studentin, nennen wir sie Dunya, empfing mich und zeigte mir eine Banknote Turkmenistans. Abgebildet waren ein Pferd und der Staatspräsident. «Sehen Sie dieses Pferd?» – Ja, sehe ich. Was ist damit? – «Das ist das geliebte Pferd des geliebten Präsidenten», sagte Dunya. – Klar, sagte ich, verstanden. Fragte aber nach: «Was, wenn das geliebte Pferd stirbt?» Antwort: «Dann wird der geliebte Präsident ein neues geliebtes Pferd haben.»
Bei Ashghabad besuchten wir die Ruinen des antiken Nisa. In der Nähe ein mittelhoher Bergrücken, über den sich im Zickzack ein Pfad schlängelte. «Das ist ein Jogging-Pfad des geliebten Präsidenten – den hat er dem Volk geschenkt», sagte Dunya. Auf den unzähligen, oft riesigen Konterfeis sah der Präsident allerdings nicht so aus, als hätte er sich jemals mit Jogging beschäftigt.
Dunya sprach ausgezeichnet Deutsch. Sie stand kurz davor, ihr Studium mit einer Arbeit über Präfixe und Suffixe im Turkmenischen und im Deutschen abzuschliessen. Als ich sie im folgenden Jahr wieder traf, sprach sie nicht mehr vom «geliebten Präsidenten». Sie war, allerdings auf sehr diskrete Art, verärgert, denn Türkmenbashi hatte in der Zwischenzeit, wie bereits erwähnt, die sprachwissenschaftlichen Fakultäten schliessen lassen. Ende des Traums vom Abschluss mit einer Dissertation über die Präfixe und Suffixe.
Ein Schweizer Sackmesser sorgt für frische Luft
Nyasov, genannt Türkmenbashi, starb 2006, danach übernahm Berdimuhamedow die Regierungsgeschäfte. Ich fuhr mit der Eisenbahn durch das grosse, weite Land. Es war September und brütend heiss. Aber das hinderte die Beamten bei der staatlichen Bahn nicht daran, am einen Ende des Waggons eine befeuerte Heizecke für Reisende, die allenfalls ihren Teekessel erhitzen wollten, in Betrieb zu halten. Nicht so schlimm, dachte ich, man kann ja die Fenster öffnen. Aber nichts da – alles fest verschraubt.
Nun hatte ich, als guter Schweizer, ein Sackmesser mit Schraubenzieher dabei und konnte zur Tat schreiten. Ein kleiner Knall, das Fenster im Gang stand nun schräg, die etwas kühlere Zugluft wehte durch den Waggon. Gut so. Warum nicht das gleiche Prozedere auch im überhitzen Abteil nochmals versuchen? Gesagt, getan – allerdings reagierte das Fensterglas jetzt anders. Es zersprang in tausend Partikel. Der Zug fuhr schnell und schneller, die kühlende Luft war angenehm – mein Gewissen dagegen etwas angekratzt.
Es dauerte nicht lange, bis der erste Zugbeamte auftauchte – in einer Uniform vergleichbar einem Brigadier der Schweizer Armee (ein Stern). Was ist da passiert? Die Unschuldsmienen (meine und die meiner Mitreisenden) konnten den «Brigadier» nicht überzeugen – er holte den Höheren, Uniform mit zwei Sternen (Divisionär). Vielleicht habe ein Junge von aussen einen Stein auf den Zug geworfen, sagten wir offenkundig mit wenig Überzeugungskraft. Zz, zz, zz, hörten wir als Antwort, und: «Wird ein Stein geworfen, sieht das anders aus – das habt ihr getan!»
Es gab keinen Ausweg, nur noch eine scheue Frage: Was tun? Wir müssten vor einem Gericht in Ashghabad erscheinen, lautete die Antwort, was mich zur Nachfrage führte, ob wir das nicht «anders» regeln könnten. Ich dachte, zwar sehr schlechten Gewissens, an eine kleine Bestechungssumme. Nun ja, anders regeln könnten wir das schon, sagte der «Divisionär», und begann auf einem Zettel zu rechnen. 40’000 Manat, sagte er dann vielsagend, als ob es sich da um eine immense Summe handeln würde. 40’000 Manat – das entsprach gemäss dem damaligen Umrechnungskurs vier Franken zwanzig. Klar, dass ich mit Freuden zahlte. Und dabei erkannte: Zumindest in diesem Fall war der verlängerte Arm des Regimes nicht korrupt. Das muss allerdings eine Ausnahme gewesen sein – bei Transparency International rangiert Turkmenistan auf Platz 167 von 180 Ländern.
Mehr Schein als Sein im «Paradies»
Das Land ist und bleibt wohl weiterhin voller Geheimnisse, weil die Beamten und Beamtinnen des Berdimuhamedow-Regimes keine Visa für Journalisten erteilen. Also: Woher stammen dann die Informationen über Turkmenistan? Da gibt es die bereits erwähnte Seite eurasianet.org. Ausserdem haben Exil-Turkmenen in Wien und in Amsterdam je ein Informationszentrum gegründet. Beide Teams, dies mein Eindruck, arbeiten gründlich und seriös.
Ergänzend gelangen bisweilen Informationen auf merkwürdigen Umwegen aus dem zentralasiatischen «Paradies». Einige französische Geografinnen wollten beispielsweise die Entwicklung der Hauptstadt Ashghabad dokumentieren. Das war (ist es übrigens weiterhin) ein echt kriminalistisches Polit-Thema. Weshalb? Weil die Stadtplanung geheim ist. Das ist sie, weil gemäss den Visionen des früheren und auch des jetzigen Staatspräsidenten die architektonischen Spuren der alten Sowjet-Zeit allmählich ausgemerzt werden sollen. Konkret: Die Plattenbauten aus den Jahren Chruschtschews oder Breschnews müssen verschwinden. An ihrer Stelle zog und zieht man weiterhin glänzende, marmorähnliche Bauten hoch. Jenen Menschen, die in den alten Plattenbauten gelebt hatten, wurden Behausungen am Stadtrand mit bestenfalls schlechter Verkehrsanbindung zugewiesen. Nur Bürgerinnen und Bürger, die sehr gute Kontakte zur neuen Nomenklatura hatten, erhielten die Chance, in einen zentral gelegenen Neubau umzuziehen.
Diesen Prozess dokumentierten die Französinnen in ihrer Publikation «Achgabat: une capitale ostentatoire». Sie erhielten einmalige Einblicke ins Innenleben der Marmorbauten: Viele Wohnungen hatten nur an einer Stelle einen Wasseranschluss, was die Bewohnerinnen/Bewohner zum Beispiel nötigte, von diesem einen Anschluss aus mit Schläuchen Wasser zur Küche und zum Badezimmer zu leiten. Die Autorinnen bekamen auch dank ihrer «unpolitischen» und «neutralen» Mission Informationen über den Alltag der Menschen in Ashghabad. So erfuhren sie zum Beispiel, dass viele beim Verlassen ihrer Wohnung ein Flämmchen des Gasherds brennen liessen. Denn das Gas kostete nichts, Streichhölzer zum Entzünden einer neuen Gasflamme musste man hingegen kaufen. Also insgesamt: Diese glänzenden, zentrumsnahen Häuser waren mehr Schein als Sein und sind es wohl immer noch.
Turkmenistan Corona-frei? Berechtigte Zweifel an offizieller Version
Damit zurück zur Aktualität. Das Land hat, wie erwähnt, offiziell keinen Corona-Fall. Nun fielen aber im November dem erwähnten News-Portal in Amsterdam zwei Flüge zwischen Ashghabad und München auf, und die Rechercheure fanden heraus: Einige deutsche Ärzte wurden ins Reich von Präsident Berdimuhamedow ein- und Tage später von dort wieder ausgeflogen. Und gleich danach verordnete das Regime im zentralasiatischen «Paradies» Maskenpflicht. Nun ja, nicht wegen Corona oder Covid-19, sondern wegen potentieller Gesundheitsschäden aufgrund von Staub (den gibt es ja in den Regionen von Wüsten und Halbwüsten). Dumm nur, dass kurz danach im Dezember ein türkischer Diplomat in Ashghabad an Symptomen starb, die auf Corona hindeuteten. Und weiter häuften sich verdächtige Einzelfälle, von denen die Newsportale in Amsterdam und Wien Kenntnis bekamen.
Fazit eins: Auch dieses Land ist nicht «Corona-frei». Fazit zwei: Selbst ein Regime, das die Kunst des Sich-Abschottens in Bezug auf Informationen normalerweise meisterlich beherrscht, ist durchlässig. Fazit drei jedoch: Das schadet dem Land mit seinen gewaltigen Erdöl- und Erdgasreserven nicht. Eben tauchte in sozialen Medien ein Video mit dem britischen Botschafter Philpott auf, das zeigt, wie der Repräsentant der Queen mit einem turkmenischen Song dem Beherrscher Turkmenistans Lob spendet. Fast zeitgleich wurden ein Vertrag zwischen Turkmenistan und Afghanistan über Stromlieferungen und eine Vereinbarung mit Russland über die Weiterentwicklung der Beziehungen publik.
Nicht alles ist da negativ zu bewerten. Turkmenistan, noch vor wenigen Jahren isoliert auch in der eigenen Region (die Rivalität mit dem Nachbarn Uzbekistan etwa führte zu absurden Mini-Konflikten), lange Zeit als Absurdität abqualifiziert, findet langsam einen Weg in die zentralasiatische Normalität. Für uns im Westen ist sie allerdings weiterhin, um das mindeste zu sagen, befremdlich: Goldener Hund anstelle des geliebten Pferds – ist das wirklich schon ein Fortschritt?
Themenbezogene Interessen (-bindung) der Autorin/des Autors
Keine.
Lieber Herr Gysling
Gerne würde ich einmal eine solche Reportage, geschrieben mit gleich spitzen Finger, eines Schweizer Journalisten über die Schweiz, bzw. Schweizer Politiker lesen.
Warum geterauen sich die Schweizer Journalisten ihre Samthandschuhe eigentlich nur abzulegen, wenn es gegen allgemein bekannte und verachtete Politiker irgendwo fernab in der Asiatischen Steppe geht? Kann man nach der Veröffentlichung einer solchen Reportage wirklich noch in den Spiegel schauen, auch wenn man vorher nie den Mut hatte, den Propheten im eigenen Land derart auf die Füsse zu treten?
Ist dies nun ein aufklärerischer Artikel, oder doch nur Ablenkung von den Schweizer und des Journalisten Unzulänglichkeiten?