Türkei: Neue Repressionswelle gegen die Kurden
Steht tatsächlich ein neuer Friedensprozess zwischen der türkischen Regierung und der in der Türkei verbotenen «Arbeiterpartei Kurdistans» (PKK) bevor? Oder handelt es sich vielmehr um eine Mogelpackung des türkischen Staats? Diese Fragen beherrschen seit fünf Wochen die politische Agenda in der Türkei. Die Frage, ob nach 40 Jahren Krieg ein Frieden zwischen dem türkischen Staat und seiner revoltierenden kurdischen Minderheit überhaupt denkbar ist, wird in der weltweit verstreuten kurdischen Diaspora heftig diskutiert und bewegt auch die Gemüter in den Nachbarländern Syrien, Irak und Iran, in denen grosse kurdische Minderheiten leben.
Unerwartete Versöhnungs-Gesten vom Rechtsaussen
Die Debatte begann mit einem überraschenden Händedruck im türkischen Parlament. Devlet Bahceli, Vorsitzender der rechtsaussen angesiedelten Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) schüttelte bei der Eröffnung der Legislaturperiode Anfang Oktober zwei Abgeordneten der pro-kurdischen Partei für Gleichheit und Demokratie (DEM) die Hand. Für die politische Szene der Türkei war dies ein absolutes Novum: Der 76-jährige Bahceli und seine MHP-Anhänger hatten die Abgeordneten der DEM und aller pro-kurdischen Parteien bislang als Pest angesehen und jede Nähe bewusst vermieden. Noch vor kurzem hatte Bahceli das Parlament zudem ultimativ dazu aufgefordert, die DEM endlich zu verbieten. Anfang Oktober trat er aber plötzlich als Friedensapostel auf: «Wenn wir um Frieden in der Welt bitten, müssen wir den Frieden in unserem Land bewahren», so Bahceli, ein alter Fuchs in der türkischen Politik und langjähriger Bündnispartner des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.
Der Handschlag Anfang Oktober sollte nicht die einzige Überraschung von Rechtsaussen bleiben: Zwanzig Tage später forderte derselbe Politiker öffentlich nichts weniger als die Freilassung des PKK-Gründers Abdullah Öcalan. Öcalan solle aus der Isolationshaft entlassen werden, um vor dem türkischen Parlament die Entwaffnung und Auflösung der PKK zu verkünden, erklärte Bahceli. Mit diesem Vorschlag löste er Schockwellen in der türkischen nationalistischen Bewegung aus.
Abdullah Öcalan gilt seit Gründung der PKK 1978 als «Staatsfeind Nr. 1». Er wird seit seiner Festnahme 1999 auf Imrali, einer Insel im Marmarameer, meist in strengster Isolationshaft gehalten. Überraschenderweise unterstützte Staatspräsident Erdogan umgehend die Forderung seines Verbündeten Bahceli: «Lasst uns gemeinsam eine Türkei ohne Terror und Gewalt aufbauen», sagte er auf einem Parteitag der Regierungspartei AKP in Ankara. Erdogan sprach von einer «historischen Chance».
Gerüchte machten die Runde, wonach Öcalan und der türkische Geheimdienst MIT bereits Gespräche geführt hätten. Die türkische Staatselite war offensichtlich zur Überzeugung gelangt, ein Frieden mit den Kurden der Türkei sei ohne Öcalan nicht möglich. Und hatte ihn als Gesprächspartner für die angestrebte Lösung akzeptiert.
Breite Unterstützung
Es dauerte nur wenige Stunden, bis auch die Opposition geschlossen erklärte, die neue Versöhnungsinitiative zu unterstützen. «Krieg, Konflikt und Gewalt sind kein Weg, sie sind keine Lösung», erklärte die DEM-Sprecherin Aysegul Dogan. Die DEM tritt konsequent für die Rechte der kurdischen Minderheit der Türkei auf, lehnt aber ebenso konsequent den bewaffneten Krieg ab. DEM-Vorsitzender Tuncer Bakirhan reagierte euphorisch. Der 40-jährige absurde Krieg sei das Land sehr teuer zu stehen gekommen: 300 Milliarden Dollar an türkischen Ressourcen seien verschlungen worden, «nur um die einheimischen Kurden daran zu hindern, ihre Muttersprache zu sprechen». 16 bis 20 Millionen Kurden leben heute in der Türkei. Ihre Identität wird vom türkischen Staat nach wie vor geleugnet. Die kurdische Sprache ist an staatlichen Schulen verboten.
Am Abend des 22. Oktober sickerte durch, auch der bewaffnete Arm der PKK befürworte einen Dialog mit der Türkei. Murat Karayilan, Kommandeur der PKK-Kämpfer im irakischen Kurdistan, deutete in einem Interview an, dass er Öcalans Entscheidungen akzeptieren werde. Unter der Voraussetzung, dass Öcalan seine Entscheidungen frei treffen könne und freien Kontakt zur Aussenwelt habe.
Im Sog der Hoffnung
Fast vier Jahre lang wurde Abdullah Öcalan in eiserner Isolationshaft gehalten. Am Vormittag des 23. Oktober durfte Ömer Öcalan, Neffe des Kurdenchefs und Mitglied der Demokratischen Partei Kurdistans (DEM), seinen Onkel erstmals wieder im Gefängnis besuchen. Im Gespräch zeigte sich der PKK-Gründer für eine friedliche Lösung bereit. Er habe «die Kraft und die Macht, den Konflikt und die Gewalt zu beenden und sie auf eine gesetzliche und politische Ebene zu bringen», liess er seine Anhänger wissen. Unter der Voraussetzung, dass er seine Kontakte zur Aussenwelt frei pflegen könne.
Eine Euphorie erfasste auf einmal das Land. Für einige Stunden glaubte man, eine friedliche Lösung der Kurdenfrage in der Türkei stehe unmittelbar bevor. Und man war davon überzeugt, ein Frieden in der Türkei könnte signalisieren, dass auch im kriegsgebeutelten Nahen Osten ein anderer Weg als nur Gewalt und permanente Zerstörung machbar sei.
Ein Terroranschlag am Nachmittag des 23. Oktober auf die türkische Luft- und Raumfahrtfirma in Ankaras Stadtteil Kahramankazan tötete fünf Menschen und verletzte weitere 22. Die Verantwortung für das Attentat übernahm eine Jugendorganisation der PKK. Am späten Abend des 23. Oktober erklärte Erdogan in Ankara, die Terroristen seien aus Nordsyrien in die Türkei gekommen – ohne Beweise vorzulegen. Damit ignorierte er demonstrativ alle Beteuerungen der nordsyrischen Kurdenführung, die Angreifer hätten nichts mit ihnen zu tun.
Grossflächige Zerstörung ziviler Infrastruktur
Ankara griff damit erneut auf eine Methode zurück, die es seit Beginn des Krieges vor 40 Jahren kennt: tagelange Flächenbombardements gegen die kurdisch besiedelten Gebiete, diesmal gegen den kurdisch verwalteten Norden Syriens. Bei den Angriffen der türkischen Luftwaffe im kurdisch verwalteten Nordsyrien seien 17 Menschen getötet und 65 weitere verletzt worden, teilte die Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens mit. Bei den Toten und Verletzten handle es sich grösstenteils um Zivilist:innen. Die türkische Luftwaffe habe Gesundheitseinrichtungen, Wohnhäuser, Energieversorger, Treibstofflager, Getreidesilos, Bäckereien, Fabriken und viele andere Einrichtungen zerstört. «Die Versorgung der Bevölkerung mit Treibstoff, Lebensmitteln und anderen grundlegenden Dienstleistungen ist zusammengebrochen», warnten die Behörden. Kurz vor Wintereinbruch drohe fünf Millionen Menschen eine humanitäre Katastrophe.
Mazlum Abdi, Generalkommandant der sogenannten Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), ist dafür bekannt, auch in schwierigsten Situationen die innere Kontrolle nicht zu verlieren. Der Türkei gehe es darum, «die Selbstverwaltung zu zerstören, die Sicherheit und Stabilität in unseren Gebieten zu untergraben und unser Volk gewaltsam aus seinen Städten und Dörfern zu vertreiben», erklärte er besorgt in einer Videobotschaft, die er nach den Bombardements in Nordsyrien verbreitete.
Mazlum Abdi ist der starke Mann im kurdisch verwalteten Nordsyrien. Er befehligt eine Armee, die sich 2014 an die Seite der USA und anderer europäischer Staaten gestellt hatte, um den Vormarsch der fanatischen Dschihadisten des IS in Syrien zu bekämpfen. Im Rahmen dieses Kampfes wurden ihre «Peschmerga» von den westlichen Verbündeten bewaffnet und ausgebildet. Im Laufe des Krieges erlangten sie zudem die Kontrolle über ein Gebiet im Norden und Nordosten Syriens entlang der türkischen und irakischen Grenze, das über bedeutende Öl- und Gasvorkommen verfügt.
Die Region ist ethnisch vielfältig: Kurden, christliche Assyrer und Araber leben hier meist friedlich, und ihre Führung ist bemüht, demokratische Prinzipien wie etwa die Gleichberechtigung der Ethnien oder der Geschlechter so weit wie möglich zu respektieren. Bekannt ist die Region, die sich der Ideologie Abdullah Öcalans verbunden fühlt, vor allem unter dem Namen «Rojava».
Ankara prangert Rojava an, eine «existentielle» Gefahr für die Türkei zu sein. Mazlum Abdi und seine Armee seien demnach nichts weiteres als getarnte PKK-Kämpfer. Seit 2018 marschierte die türkische Armee dreimal völkerrechtswidrig in Nordsyrien ein, um den «Terrorkorridor Rojava» zu vernichten. Dass 900 US-Soldaten in Rojava stationiert sind und damit die Sicherheit dieser Region garantieren, sorgt für enorme Missstimmung zwischen Washington und Ankara.
Auf die Frage, ob Ankara in seiner jüngsten Versöhnungsinitiative mit den Kurden auch eine Entwaffnung der Truppen in Rojava beinhalte und ob er überhaupt einem ähnlich lautenden Aufruf Abdullah Öcalans zustimmen würde, winkte General Mazlum Abdi entschieden ab: «Wenn das Ziel der Friedensgespräche die Auflösung unserer Verwaltung oder unserer Armee im Nordosten Syriens ist, dann ist dieses Ziel weder realistisch noch akzeptabel», sagte er in einem Interview mit der Internetplattform Al-Monitor.
Grosse Umwälzungen in der Region
Tatsache ist, dass der Terroranschlag in Ankara und die flächendeckende Bombardierung Nordsyriens eine Zäsur darstellen in einem «Friedensprozess», der gerade erst begonnen hat. Unklar ist, wie lange er überleben kann. Tatsache ist auch, dass der türkische Präsident Erdogan und der Kurdenführer Mazlum Abdi sich bewusst sind, dass dem Nahen Osten im Zuge des Krieges um Palästina und nach dem Wahlsieg Trumps grosse Umwälzungen bevorstehen.
Die regionalen Grenzen würden in diesen Tagen wieder «mit Blut und Tränen» verändert, sagte Präsident Erdogan in dem für ihn charakteristischen melodramatischen Tonfall, bevor er seiner Öffentlichkeit die jüngste Versöhnungsinitiative mit den Kurden präsentierte. Sollte die Republik Türkei «morgen Israel gegenüberstehen, was werden unsere kurdischen Brüder tun?»,
wollte er besorgt wissen. War die Versöhnungsinitiative in erster Linie ein Produkt seiner Angst vor einer Allianz zwischen Israel und den PKK-Kurden, wie die regierungsnahen türkischen Medien behaupteten?
Der überwältigende Wahlsieg Donald Trumps hat Ankara mit Erleichterung aufatmen lassen. Erdogan und Trump pflegten während der ersten Trump-Administration ein besonders freundschaftliches Verhältnis; Erdogan dürfte einer der wenigen ausländischen Politiker sein, die Trump jederzeit telefonisch erreichen können. Ankara hat nun allen Grund, auf «bessere Zeiten» mit Washington zu hoffen. Insbesondere hofft Erdogan, dass Trump die amerikanischen Truppen aus Rojava abzieht und türkischen Truppen ohne Wenn und Aber erlaubt, in Nordsyrien einzumarschieren, um das Rojava-Experiment zu beenden.
Friedensinitiative als Farce
Am 31. Oktober verhaftete die Polizei in Istanbul 18 Personen wegen angeblicher Verbindungen zu «einer Terrororganisation» – gemeint ist damit in der Regel die PKK. Unter ihnen befindet sich Ahmet Özer, Bürgermeister des Istanbuler Stadtteils Esenyurt. Ahmet Özer hatte als angesehener Wissenschaftler an mehreren türkischen Universitäten Führungspositionen vom Dekan bis zum Vizerektor inne, bevor er für die grösste Oppositionspartei CHP in Istanbul kandidierte. Sein Amt wurde einem regierungsnahen Stadtverwalter übergeben. Dieses harsche Vorgehen gegen gewählte pro-kurdische Politiker wurde im von Kurden bewohnten Südosten des Landes oft angewandt; im Westen des Landes jedoch hatte der Staat bislang so drastische Eingriffen in die lokale Selbstverwaltung nicht gewagt.
In der Folge wurden am 4. November auch die Bürgermeister der Städte Mardin und Batman sowie des Bezirks Halfeti in Urfa ihres Amtes enthoben. Sie gehörten alle der Demokratischen Partei Kurdistans DEM an. Auch ihnen wurden Verbindungen zur verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorgeworfen. Hunderte gehen seitdem im kurdischen Südosten täglich auf die Strasse, um gegen den offensichtlichen «Raub ihrer Wahlstimme» zu protestieren, Dutzende wurden festgenommen.
Die Friedensinitiative Devlet Bahcelis müsse von allen Seiten ernsthaft geprüft werden, wiederholte der türkische Präsident Erdogan und sprach erneut von einer historischen Chance für die Brüderlichkeit von Kurden und Türken in der Türkei. Nach der Verhaftung von Ahmet Özer in Istanbul und der Absetzung der gewählten Bürgermeister in Mardin, Batman und Halfeti verkommt die Friedensinitiative Bahcelis für die Mehrheit der Kurden allerdings immer mehr zur Farce.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Wikipedia schreibt: «Die Republik Türkei ist seit 1952 Mitglied der NATO und unterhält innerhalb der NATO die zweitgrößte Anzahl an aktiven Soldaten nach den USA. Die türkischen Streitkräfte können im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe der NATO mit taktischen Sprengköpfen der US-Streitkräfte nuklear bewaffnet werden…» Das könnte wohl heissen, dass die «Türkei: Neue Repressionswelle gegen die Kurden» die Unterstützung aller NATO Staaten hat die Kurden-Frage mit militärischen Mitteln vom Tisch zu fegen: aus Bündnis-Treue?
Gunther Kropp, Basel