Süd- und Mittelamerika: Was in vielen unserer Medien unterging
Beim Übergang ins Jahr 2024 präsentiert sich Lateinamerika wie ein buntscheckiger Flickenteppich. Zu Beginn dieser kaleidoskopartigen Schau auf das Geschehen im Erdteil, unser Hinweis auf eine Reportage, die in der genossenschaftlich organisierten deutschen TAZ erschienen ist und ein dramatisches Erbe der politischen, sozialen und kulturellen Realität in Chile beschreibt. Es wird von den herrschenden Kreisen seit Generationen unter den Teppich gekehrt: der lange Leidensweg der Mapuche, des grössten indigenen Bevölkerungsteils der 20-Millionen-Nation am Pazifik.
Das Schicksal dieser Ureinwohner war 2022 Gegenstand der Beratungen über eine neue Staatsverfassung. Dabei waren die Interessenvertreter linker und indigener Gruppen in der vom Volk gewählten Kommission stark vertreten und versuchten, die Rechte der seit zwei Jahrhunderten missachteten und unterdrückten Menschen mit ähnlichem Nachdruck zu formulieren, wie das um 2007 im benachbarten Bolivien geschehen war. Die Mehrheit der Stimmberechtigten schien diesen neuen Akzent im Grundgesetz jedoch nicht zu goutieren – jedenfalls wurde der Verfassungstext insgesamt klar abgelehnt.
Chile hält vorerst an der Pinochet-Verfassung fest
Bei der Wahl eines neuen, numerisch stark reduzierten Rates, der einen zweiten Entwurf des Grundgesetzes erarbeiten sollte, wurden die Linken und Vertreter der Indigenen richtiggehend abgestraft. Konservative, Rechtsaussen und Neoliberale feierten ein Comeback an den Urnen und machten sich daran, einen Text nach ihrem Gusto zu entwerfen. Doch auch diese Version lehnte das Stimmvolk am 17. Dezember 2023 mit derselben Vehemenz ab. Seitdem sieht sich Chile damit konfrontiert, mit der alten Verfassung weiterleben zu müssen, die 1971 unter dem Diktator Pinochet in Kraft gesetzt wurde. Der amtierende, demokratisch gewählte Staatspräsident Gabriel Boric stellte klar, dass seine Regierung diese Serie von gescheiterten politischen Experimenten vorderhand nicht fortsetzen wolle.
Im Süden des Landes, wo die Mapuche eine Mehrheit sind, herrscht damit weiterhin de facto der Belagerungszustand. Dutzende indigene Anführer sitzen im Gefängnis und werden ohne Rücksicht auf historische Fakten als Terroristen gebrandmarkt. Der Konflikt droht immer wieder zu eskalieren, denn die Mehrheit der Grundbesitzer – unter ihnen zahlreiche Nachfahren von Immigranten aus den Alpenländern – weigern sich, ihren illegitimen Besitz an die ursprünglichen Eigentümer zurückzugeben.
Bolivien verliert gegen Rohstoffgigant Glencore
Die harte Hand der Herrschenden bekommt auch Bolivien zu spüren, das wie erwähnt einen ernsthaften (und soweit erfolgreichen) Schritt zur Wahrung der Rechte seiner Ureinwohner gewagt hat. Gleichzeitig ist die Regierung entschlossen, eine Steuerpolitik durchzusetzen, die den Interessen der eigenen Nation gerecht werden soll, insbesondere bei der Nutzung der beträchtlichen natürlichen Ressourcen. Glencore, der im Kanton Zug ansässige Gigant des internationalen Rohstoffhandels, stemmt sich diesem Ansinnen vehement entgegen. Erst recht, wenn es um eine Nationalisierung im Bergbau geht. Dem transnationalen Konzern steht ein weltweites Justiznetzwerk zur Verfügung, das in erster Linie die Funktion hat, die Interessen der Investoren zu schützen. So haben bei den Forderungen um Entschädigungen kleine Player kaum eine Chance gegen multinationale Grosskonzerne, wie der Bericht in amerika21 zeigt.
Boliviens Regierung ist in einem solchen Konflikt umso mehr geschwächt, als sie im Hinblick auf die nächsten allgemeinen Wahlen intern in mehrere Fraktionen gespalten ist. Laut einem jüngst gefällten Urteil des Verfassungsgerichts darf der frühere Staatschef Evo Morales nicht für ein viertes Mandat kandidieren, berichtete wiederum amerika21. Neben einigen gravierenden innenpolitischen Fehlern wird dem Gründer der MAS-Partei (Movimiento al Socialismo) auch die oberste Verantwortung für die massiven Umweltschäden im Zusammenhang mit weit verbreiteten Brandrodungen im Amazonasgebiet angelastet. Morales hatte diese Praxis mehrfach explizit gutgeheissen und damit die Expansionsgelüste der lokalen Agrarlobby befriedigt.
Uruguay: Strategische Partnerschaft mit China
Aus Uruguay, mit 3,5 Millionen Einwohnern ein Kleinstaat, der aber gut viermal grösser als die Schweiz ist, erreicht uns eine kurze Meldung der lokalen Nachrichtenagentur Nodal, die einiges Staunen auslöst. Im vergangenen November vereinbarten Chinas allmächtiger Xi Jinping und Luís Lacalle Pou, Vorsitzender der konservativen Regierung von Uruguay, ein Paket von 24 Abkommen zur Förderung des Handels zwischen den beiden Ländern mit dem Ziel einer «umfassenden strategischen Partnerschaft». Die zukünftigen Gäste aus Fernost dürfen sich auf Besuche in Montevideo freuen, denn die Hauptstadt am Rio de la Plata geniesst laut der Consultingfirma Mercer neuerdings den Ruf als Stadt mit dem höchsten Lebensstandard in ganz Lateinamerika und findet als einzige des Subkontinents Platz unter den hundert Besten weltweit.
Argentinien: Mit der Kettensäge in die Rezession
Am anderen Ufer des breit aufgefächerten Flussdeltas macht sich der soeben gewählte Senkrechtstarter Javier Milei in Argentinien daran, mitten in einer schweren politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Krise seine (theoretisch) umwälzenden Pläne zu realisieren. Nirgends ist unseres Wissens diese «Arbeit mit der Kettensäge» so kurz und krud beschrieben worden wie in der Tageszeitung junge Welt. Was dabei herauskommen wird, das wissen (im Detail) die Götter. Viele zivile Politiker und solche in Uniform haben seit den 1960er Jahren versucht, in Argentinien «aufzuräumen». Auf Dauer sind solche Unterfangen jedes Mal mehr oder weniger krachend gescheitert.
Man darf gespannt warten, wie die notleidenden Massen im Gran Buenos Aires, auch Conurbano genannt, wo rund 40 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes leben, auf die Gewaltkur von Milei reagieren werden. Warten auch auf den Widerstand der nach wie vor starken Gewerkschaftsbewegung peronistischer Prägung und Gouverneure diverser Couleur im Landesinnern. Als sicher gilt vorderhand nur, dass Argentinien eine schwere und abgrundtiefe Rezession bevorsteht. Anders ist das Ergebnis einer Politik mit Kettensäge und Zweihänder kaum denkbar – sofern der radikal libertäre Präsident bei seinen Plänen und Versprechen bleibt, analysiert der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck in seinem Blog Relevante Ökonomik.
Lichtpunkte in Venezuela – Auszeit in El Salvador
Ähnlich verworren ist die allgemeine Lage in Venezuela. Eine differenzierte Annäherung an die Realität ohne Scheuklappen beschreibt die Autorin Katharina Wegner im IPG Journal. Ihr Versuch einer objektiven Einschätzung zeigt zwar einige Lichtpunkte auf, doch diese dürften eher den Bessergestellten im Land nützen. In der stark dollarisierten Wirtschaft kommen sie ungleich besser zurecht, als die Mehrheit derer, die unter der noch immer galoppierenden Teuerung viel stärker leiden. Insgesamt resultiert das Bild einer verzweifelt taktierenden Regierung, die 2024/25 schicksalsschweren Wahlen um das Amt des Staatspräsidenten und einige Monate danach um die neue Sitzverteilung im Parlament entgegengeht. In diesem Wahlkampf scheinen bis jetzt fast alle Parteien der Opposition in allen wichtigen Fragen heillos zerstritten.
Unvergleichlich leichter hat es Staatschef Nayib Bukele im zentralamerikanischen Kleinstaat El Salvador. Er findet immer neue, für Lateinamerika fast elegante Formeln und Wege, um an der Macht zu bleiben, obwohl die Verfassung das eigentlich untersagt. Seit 2019 formell legal an der Macht, überlässt er nun die Führung seiner Regierungsequipe für sechs Monate einer ihm seit langem vertrauten Person, um nach diesem Interregnum ins Präsidentenamt wiedergewählt werden zu können. Eine satte Mehrheit des Einkammer-Parlaments sieht offenbar kein Problem, diesen Schachzug gutzuheissen. Die halbjährige Auszeit des Präsidenten, von BBCMundo transparent dargestellt, wird offiziell als «licencia» (Erlaubnis) bezeichnet, was durchaus auch als respektabler Begriff in Lateinamerikas Jurisprudenz angesehen werden darf.
Am 14. Januar 2024 soll die Macht in Guatemala an den verfassungsmässig gewählten, leicht links stehenden Bernardo Arévalo übergeben werden. Das schweizerische Guatemala-Netz kommentiert zu diesem Ereignis Folgendes: Der sogenannte «Pakt der Korrupten» mit der Generalstaatsanwaltschaft versucht weiterhin, die Machtübernahme mit allen erdenklichen juristischen Mitteln zu verhindern, was aber bis jetzt noch nicht so richtig klappen wollte. «Ich gehe heute davon aus», schreibt der erfahrene lokal ansässige Kolumnist Miguel Mörth, «dass Arévalo und (Vizepräsidentin) Herrera ihre Ämter übernehmen werden. Sie werden es erschöpft tun und mit einem Haushalt, der sie kaum agieren lässt.»
Kolumbien reformiert seine Drogenpolitik
Den Schlusspunkt in dieser Rundschau soll der Präsident von Kolumbien, Gustavo Petro, setzen. Er hat seinem Land, das als weltweit grösster Kokainproduzent gilt, eine neue Drogenpolitik verschrieben, die den Drogenkrieg beenden soll. Der massive Einsatz von Glyphosat auf Feld und Wald sei gescheitert. Als neue Kriterien im Kampf gegen die Mafia verkündet er die Respektierung der religiösen und kulturellen Bräuche der indigenen Gruppen und Völker. Mit der neuen Zehn-Jahres-Drogenstrategie des Landes, befasst sich ein ausführlicher Artikel im IPG Journal. Doch vieles, was Petro feierlich verkündet, klingt nach hehren Absichtserklärungen, die im Wirbel der brutalen Sitten der kriminellen Banden, die diese Geschäfte organisieren und global ausweiten, unterzugehen drohen.
Gleichzeitig lanciert Präsident Petro wider alle Zweifel und Widerstände eine nicht minder anspruchsvolle Erklärung zur Unterstützung eines Vertrags, der den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen ermöglichen soll. Kolumbien hängt in hohem Masse vom Export von Erdöl und Kohle ab, in dem just Unternehmen wie Glencore stark engagiert sind. Dass dieser Schritt durch einen grossen Exporteur von Erdöl und Erdgas erfolge, sei historisch – und könnte die Wirtschaft des Landes endlich diversifizieren, schreibt der Kommentator in Makroskop.
Ob ein solcher Hochseilakt gelingen wird, ist mehr als fraglich – zumindest während des Mandats des linksgerichteten Staatsmannes. Und sollten 2026 konservative oder rechtsliberale Politiker in Kolumbien das Szepter wieder übernehmen, dann wohl erst recht.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Xi Jinping ist nicht allmächtig. Er ist lediglich mächtig in China.