Süd- und Mittelamerika: Brasilien steht vor angespannten Wochen
Luiz Inácio «Lula» da Silva hat in der ersten Runde der Präsidentenwahl in Brasilien die absolute Mehrheit mit 48,4 Prozent der Stimmen knapp verpasst. Sein Widersacher, der amtierende Staatschef Jair Mesias Bolsonaro, kam auf 43,2 Prozent – deutlich mehr als die meisten Umfragen hatten erwarten lassen.
Bei der Stichwahl vom 30. Oktober dürfte es ein enges Resultat geben. Bei diesem Kampf um die Macht wird der sozialdemokratisch orientierte Kandidat Ciro Gomes das Zünglein an der Waage spielen. Er hat mit seiner kleinen, aber historisch gewichtigen Partei (Partido Democrático Trabalhista) 3 Prozent der Stimmen gesammelt, die Lula in der zweiten Runde zur absoluten Mehrheit verhelfen könnten.
Schon im Vorfeld der Wahlen hatte Bolsonaro verkündet, er werde das Ergebnis nicht akzeptieren, falls der linke Präsidentschaftskandidat Lula da Silva gewinnt. Welche politischen Risiken Bolsonaros Drohung für den grössten Staat Lateinamerikas mit sich bringt, wird im Hintergrundbericht eines Dozenten der angesehenen Fundação Getúlio Vargas erläutert. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht hier wie in einer Analyse der Nachrichtenagentur «amerika21» die Frage, wie sich Brasiliens Militär im bevorstehenden Machtkampf verhalten wird.
In Kolumbien hat die Linke unter der Führung von Gustavo Petro die hohe Hürde der Anerkennung ihres Wahlsiegs geschafft. Der neue Staatspräsident hat in den ersten Wochen seiner Amtszeit zu einer ausgedehnten Runde von Konsultationen im Landesinnern ausgeholt, um die Stimmung und die Bedürfnisse der Bevölkerung auszuloten. Nach 200 Jahren praktisch uneingeschränkter Dominanz der Konservativen und Liberalen sollen nunmehr neue soziale Dringlichkeiten im Programm der Regierung Petro Vorrang haben. Die Zeiten, wo Privatwirtschaft und Armee unter sich bestimmten, wie der 50-Millionen-Staat zu regieren sei, sollen der Vergangenheit angehören. Zudem bemüht sich die neue Regierung in Bogotá um eine Entspannung der seit vielen Jahren arg strapazierten Beziehungen zum sozialistisch orientierten Nachbarstaat Venezuela.
Nach dem mit 62 Prozent überaus deutlichen Nein zum Entwurf eines neuen Grundgesetzes aus den Händen der Convención Constituyente hat die Regierung des jungen Linken Gabriel Boric in Chile sichtlich Mühe, den Faden zu einer Entfaltung ihrer Reformpolitik zu finden. Akademische Kreise suchen nach Erklärungen für den unerwartet deutlichen Fehlschlag auf der Suche nach einer modernen Verfassung. Viele Chilen:innen kritisieren das Fehlen von Kompromisslösungen und rufen nach mehr Expertise – was allerdings nicht unbedingt vermehrte Präsenz von alteingesessenen Parteien im Rat bedeuten müsse. Auch in den USA befassen sich am Geschehen in Lateinamerika interessierte Kreise mit dieser Frage, wie aus einem Text hervorgeht, der im progressiv linksliberalen Wochenblatt «The Nation» erschienen ist. Es wird darauf hingewiesen, dass bei den Beratungen der Convención nicht alles so rund gelaufen sei, wie man es in einem Gremium von solcher Wichtigkeit erwarten würde.
Für die regierende Linke ist der Rückschlag an den Urnen insofern ärgerlich, als er Präsident Boric und seine mild sozialistische Koalition daran hindert, mit ihrem Regierungsprogramm möglichst rasch loszulegen. Das Mandat des Staatsoberhaupts ist auch in Chile auf vier Jahre beschränkt, eine sofortige Wiederwahl ist ohnehin ausgeschlossen, und die Kampagne zum nächsten Urnengang wird früher einsetzen, als es den Genoss:innen lieb ist.
Der zentralamerikanische Kleinstaat Costa Rica gilt seit Mitte des 20. Jahrhunderts als Modell für demokratische Herrschaft auf dem Subkontinent. 5 Millionen Menschen leben überwiegend friedlich in dem 50’000 Quadratkilometer grossen Land mit direktem Zugang zum Atlantik und Pazifik. Die «Ticos» wissen ihr verfassungsmässiges Regime zu schätzen. Seit der bürgerlichen «Revolution» von 1949 lösen sich an den Schalthebeln der Macht sozialdemokratische und christlich-soziale Kräfte problemlos ab. Das Fehlen einer Armee hat sich in vielen Aspekten, vor allem sozialpolitisch, als nützlich erwiesen.
Etwas weiter links gerichtete Beobachter wenden gerne ein, dass in diesem «Musterstaat» auch nur mit Wasser gekocht werde. Davon gibt ein Hintergrundartikel aus «Nueva Sociedad» beredtes Zeugnis. Nicht dass man deswegen alles Positive der langjährigen Entwicklung in diesem Land über Bord werfen müsste! Vielmehr liest sich diese kleine Studie insofern süffig und erhellend, als manche Parallelen zum politischen Betrieb in der Schweiz (und auch in deren unmittelbaren Nachbarländern) sichtbar werden. Sie gibt Aufschluss über jene treibenden Kräfte hinter dem Vorhang demokratischer Reinheit, die alle vier Jahre zum Wahltag hin operieren und intervenieren. Instruktiv ist vor allem, wie die real herrschende Klasse ihre wirtschaftliche Basis vom Kaffee und anderen Agrarerzeugnissen auf die Finanzwelt, den Tourismus und Immobiliengeschäfte ausgedehnt hat – und dabei selbst Kontakte zur Unterwelt des Drogenhandels nicht unbedingt scheut.
Wie weit solche Beeinflussung und Beschlagnahmung von öffentlich-staatlichen Strukturen durch private Interessen gehen kann, illustriert eine Dokumentation von Public Eye. Sie betrifft Mexiko (und teilweise auch Chile). Diese geballte Ladung von Informationen aller Art bedarf keines Kommentars. Die Fakten sprechen für sich.
Argentiniens neuer Wirtschaftsminister Sergio Massa, der de facto fast so etwas wie ein Premierminister ist, will das Ruder fünf vor zwölf, im letzten Moment vor einer weiteren Staatspleite, doch noch herumwerfen. Ob er das schafft, hängt in hohem Mass davon ab, wie die nächste Ernte in der Feuchten Pampa ausfällt und wie weit es ihm gelingt, halbwegs harmonische Beziehungen zu den Grossunternehmern in diesem Bereich, aber auch in der Industrie und mit den Banken zu pflegen. Eine weitere Kernfrage betrifft sein politisches Verhältnis zu Expräsidentin Cristina Fernández de Kirchner, die bisher alle orthodoxen Versuche, das schwer schlingernde Staatsschiff zu retten, blockiert hat. Einige lokale Beobachter glauben Indizien zu erkennen, wonach die streitbare Dame aus den Reihen des sogenannten Linksperonismus ihren Einfluss hinter dem Thron von Präsident Alberto Fernández zu mässigen scheine. Doch ebenso gut möglich ist, dass solche Vermutungen eher eigenen Wünschen als der Realität entsprechen.
Nach einem Umsturz rechtskonservativer Kreise, die sich knapp ein Jahr im Palacio Quemado in La Paz zu halten vermochten, konnte Boliviens Linke mittels Wahlen unter der Anführung des früheren Wirtschaftsministers Luis Arce an die Macht zurückkehren. Es gelang ihr, in kurzer Zeit an die insgesamt erfolgreiche und stabile Regierung von dessen Amtsvorgänger Evo Morales anzuschliessen. Richtungskämpfe im Schosse des seit 2006 herrschenden Movimiento al Socialismo sind, wie der Bericht eines qualifizierten Kolumnisten ausführlich darlegt, nicht zu übersehen. Während das einst sehr arme Land in ökonomischer Hinsicht frappante Erfolge zu verzeichnen hat, erweist sich das Justizwesen mit seiner unbändigen Langsamkeit und Intransparenz nach wie vor als Achillesferse. Ein weiterer Minuspunkt ist die beinahe so ruchlose Abholzung des Regenwaldes wie im Nachbarland Brasilien.
Als ein weit verbreitetes Übel entpuppt sich praktisch in ganz Lateinamerika immer wieder die Vetternwirtschaft. Nach dem überraschend klaren Wahlsieg der linksgerichteten Politikerin Xiomara Castro im Vorjahr mochte man auf einen Neubeginn in Honduras hoffen. Schon nach wenigen Monaten erfährt man jetzt in einer Reportage von «Nueva Sociedad», dass die Mehrheit einflussreicher Regierungsämter von Angehörigen zweier Familien besetzt wurden: jener des ersten weiblichen Staatsoberhaupts in der Geschichte des Landes und jener ihres Gemahls, des 2009 nach kurzer verfassungsmässiger Herrschaft von Konservativen gestürzten linksliberalen Expräsidenten Manuel Zelaya.
Das klingt ernüchternd und es wirft substantielle Fragen auf: Was unterscheidet nun Honduras in diesem Aspekt von früheren Regierungen im gleichen Land und in benachbarten Staaten? Ist solche Machtballung in wenigen Händen a priori zu verurteilen? Oder spiegelt sie einfach den Missstand eines Bildungswesens wider, das von A bis Z auf die Bedürfnisse und finanziellen Möglichkeiten einer kleinen Elite ausgerichtet ist und die immense Mehrheit nicht nur physisch, sondern auch geistig darben lässt? Das Problem wird in dieser Reportage in einmaliger epischer Breite und namentlicher Präzision ausgebreitet.
Eine weitere Frage von genereller Bedeutung stellt sich Lateinamerikas Linken hinsichtlich ihrer aussenpolitischen Orientierung, die in jüngerer Zeit ganz neue Züge angenommen hat. Ein früherer brasilianischer Aussenminister nimmt sie diesbezüglich in einem beachtenswerten Interview ins Gebet.
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Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine- Der Autor war 33 Jahre lang Korrespondent in Südamerika, unter anderem für den «Tages-Anzeiger».
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