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«Wo ein Wille ist, da gibt es auch Wege, eine Lösung zu finden», meint Jens Stoltenberg, ehemaliger Nato-Generalsekretär, zum Krieg in der Ukraine. © Ale-Mi / Depositphotos

Stoltenberg zu Ukraine: Gebiet abgeben für Nato-Mitgliedschaft

Markus Mugglin /  Kaum als Nato-Generalsekretär abgetreten, spricht sich Jens Stoltenberg für einen Kompromiss im Ukraine-Krieg aus.

Was Jens Stoltenberg bis vor wenigen Tagen nicht zu sagen wagte oder nicht befugt war zu sagen, tat er nur vier Tage nach seiner Ablösung als Nato-Generalsekretär. Auf der kleinen, bewaldeten Insel Utoya vor den Toren Oslos sprach er bei einem gemeinsamen Mittagessen mit Henry Foy von der «Financial Times» aus, was im Nato-Bündnis bisher nur hinter den Kulissen über das Ende des Krieges in der Ukraine besprochen wurde.

Stoltenberg sieht die Nato-Mitgliedschaft gegen Gebietsverluste als mögliche Lösung für ein Ende des Krieges in der Ukraine. Doch bevor er es sagte, hatten die beiden Gesprächspartner weniger heikle Fragen der zehnjährigen Karriere an der Nato-Spitze besprochen. Die leeren Teller waren abgeräumt, als Henry Foy von der «Financial Times» die politisch sensible Frage stellte: Wo wird das enden mit dem Ukraine-Krieg?

Stoltenberg antwortete: «Wir müssen die Bedingungen schaffen, die es der Ukraine ermöglichen, sich mit den Russen zusammenzusetzen und etwas zu erreichen, das akzeptabel ist … etwas, bei dem sie als unabhängige Nation überleben können.»

Nach dieser allgemein gehaltenen Antwort, wollte der Journalist der «Financial Times» noch genauer wissen, was Stoltenberg Selenski vorschlagen würde. Er habe zuerst gezögert und dann mit einem historischen Vergleich geantwortet:  

Finnland, Japan und Westdeutschland als historische Vorbilder

«Finnland hat 1939 einen tapferen Krieg gegen die Sowjetunion geführt. Es hat der Roten Armee viel höhere Kosten auferlegt als erwartet. Der Krieg endete damit, dass es 10 Prozent des Territoriums aufgeben musste. Aber es bekam eine sichere Grenze.»

Doch Finnland bekam Neutralität bis es erst letztes Jahr Nato-Mitglied wurde. Die Ukraine aber will sofort die Nato-Mitgliedschaft, was Putin nicht will, gab der Journalist der «Financial Times» zu bedenken. Er insistierte auch mit dem Hinweis, dass die USA und Deutschland dagegen sind, der Ukraine die in Artikel 5 des Nato-Bündnisses festgeschriebene Beistandspflicht zu gewähren. Darauf meinte Stoltenberg: Es gibt immer Wege, das zu lösen. Und weiter: «Wenn es eine sichere Grenze gibt, ist das nicht unbedingt die international anerkannte Grenze.»

Auch dazu verwies Stoltenberg auf ein historisches Beispiel, auch wenn er es selber als «sehr gefährlich» bezeichnete, «Vergleiche anzustellen, weil keine Parallelen zu 100 Prozent korrekt» seien. Aber, so Stoltenberg, «die Vereinigten Staaten haben Sicherheitsgarantien für Japan. Aber sie decken nicht die Kurilen [Inseln] ab, die Japan als japanisches Territorium betrachtet, das von Russland kontrolliert wird.»

Stoltenberg stellte auch noch einen Vergleich mit Deutschland an: «Westdeutschland betrachtete Ostdeutschland als Teil des grösseren Deutschlands. Sie hatten keine Botschaft in Ost-Berlin. Aber die Nato hat natürlich nur Westdeutschland geschützt.»

«Wo ein Wille ist, da gibt es auch Wege»

Stoltenberg fuhr fort: «Wo ein Wille ist, da gibt es auch Wege, eine Lösung zu finden. Aber man braucht eine Grenze, die definiert, wo Artikel 5 in Anspruch genommen wird, und die Ukraine muss das gesamte Gebiet bis zu dieser Grenze kontrollieren.» Da Russland gemäss Selenski 27 Prozent des ukrainischen Territoriums kontrolliert, müsste die Ukraine heute auf einen bedeutenden Teil seines Gebiets verzichten – wenn auch «nur faktisch» und nicht völkerrechtlich verbindlich.

Ob Selenski dazu bereit ist? Anzeichen dafür gibt es nicht – jedenfalls nicht öffentlich. Laut SDA-Meldung vom 6. Oktober ist für den ukrainischen Präsidenten ein dauerhafter Frieden nur «ohne jeglichen Handel mit Souveränität oder Handel mit Territorien möglich». Doch die Ukraine scheint vermehrt unter Druck zu geraten. Einen Tag nach der Publikation des Gesprächs mit Jens Stoltenberg doppelte die «Financial Times» nach in einem Artikel mit der Überschrift «Nato membership and the West German model». Zentrale Aussage dabei:

«Westliche Diplomaten und zunehmend auch ukrainische Beamte sind zu der Auffassung gelangt, dass sinnvolle Sicherheitsgarantien die Grundlage für eine Verhandlungslösung bilden könnten, bei der Russland de facto, aber nicht de jure die Kontrolle über das gesamte oder einen Teil des ukrainischen Territoriums behält, das es derzeit besetzt hält.»

Noch will die Ukraine nichts davon wissen. Oder etwa doch? Ob der ukrainische Präsident Selenski deshalb gegenüber dem Nachfolger von Jens Stoltenberg an der Nato-Spitze, Mark Rutte, bei dessen Antrittsbesuch in Kiew betonte, dass das wichtigste Ziel der Ukraine sei, ein vollwertiges Mitglied der Allianz zu werden? Auch wichtiger als die Kontrolle über das gesamte Territorium des Landes?


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3 Meinungen

  • am 7.10.2024 um 11:20 Uhr
    Permalink

    Das wäre ein worst-case deal für Russland. Ich würde mich vielmehr auf Gorbis Zeiten beziehen und die «Nicht-einen-Inch-Ausdehnung der NATO» in Richtung Osten.

  • am 7.10.2024 um 11:38 Uhr
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    Es muss zu einem Einfrieren des Konfliktes zwischen der Europäischen Union und Russland kommen..
    Wer sich intensiver mit der Ukraine befassen will, sollte das Buch
    von Emmanuel Todd «La Défaite de l´Occidente» erschienen bei Gallimard, Paris 2024
    oder in Kürze auf Deutsch «Der Westen im Niedergang» im Westendverlag lesen.
    Historiker Todd hat bereits 1976 den Niedergang der Sowjetunion vorausgesagt. Ein Buch mit neuen Einsichten.

  • am 7.10.2024 um 12:55 Uhr
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    Hoffentlich hat die Bekanntwerdung nicht die Chancen für eine Realisierung vernichtet. Zeitpunkt und Person sind allerdings sehr überraschend – denn am 12.März 2022 hat ein Unbekannter ziemlich genau diesen Vorschlag gemacht und begründet. Der Vorschlag wurde aber von der Öffentlichkeit ferngehalten.

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