Spiel auf Zeit: Neuartiges Kräftemessen zwischen Schweiz und EU
«Agenda der Schweiz», «Schnittmenge» und «gemeinsame Agenda» sind die neusten Wortschöpfungen von Aussenminister und Bundespräsident Ignazio Cassis zum Verhältnis der Schweiz zur EU (in der SRF-Arena vom 07.01.2022). Für eine Periode von rund 240 Tagen ein wahrlich magerer Plan B, den der Bundesrat der Öffentlichkeit bisher präsentiert hat. Sich möglichst viel Zeit lassen wird zur einzigen Konstante der schweizerischen Europapolitik.
Weiterhin hinauszögern
Es gibt zahlreiche Hinweise dafür, dass es so weitergehen soll wie seit mehr als einem Jahrzehnt. Es begann Ende Mai 2021 mit dem Verhandlungsabbruch ohne Plan B. Im August folgte die Ankündigung einer Drei-Phasen-Strategie. Zuerst Entspannung, dann zwei Jahre interne Diskussionen und erst nach 2023, also nach den nächsten Wahlen, über die «Flughöhe» der Beziehungen zur EU entscheiden.
Zwischenzeitlich versuchte EU-Kommissionsvizepräsident Maros Sefcovic die Verzögerungstaktik zu stören. Bis Mitte Januar am WEF in Davos sollte eine «Roadmap» für neue Verhandlungen vorliegen. Doch Omicron bremste das WEF aus und damit das «Roadmap»-Treffen, das nun frühestens im Februar stattfindet.
Auch nachher soll es nicht schnell gehen. Der vom Bundesrat neu ernannte «Mister Europa», der bisherige Staatssekretär Mario Gattiker, gab vor Antritt seines Mandats für die Suche nach innenpolitischen Kompromissen und Anpassungen an europäisches Recht zu verstehen, dass es für eine Lösung mit der EU längere Zeit dauern dürfte. Auch die Kantone drängen nicht. Laut dem St. Galler Regierungspräsidenten Marc Mächler brauchen sie 12 bis 18 Monate bis zur Klärung ihrer Vorstellungen, die sie dem Bundesrat nahebringen wollen. Zeit lassen wollen sich auch die Sozialdemokraten. Erst ab 2023 streben sie Verhandlungen über die Zukunft des bilateralen Weges an. Vorher möchten sie mit einem «Stabilisierungs»-Abkommen den Schaden begrenzen.
Rechtsübernahme, wenn es profitabel ist
Dass man sich Zeit lassen will, lässt sich auch an der inhaltlichen Stossrichtung ablesen, die sich innenpolitisch abzeichnet. Es ist ein Abrücken von jahrelang vertretenen Verhandlungspositionen. «Eine Neuauflage mit einem umfassenden Ansatz im Sinne eines institutionellen Abkommens» (Interview in NZZa.S. vom 19.12.2021) soll ausgeschlossen sein, hat Aussenminister Cassis kurz vor Weihnachten Härte markiert. Eine schnelle Einigung ist so nicht zu erwarten.
Eine dynamische Rechtsübernahme und einen Mechanismus für die Streitbeilegung soll es nur von Fall zu Fall geben, gab Cassis vor seinem Treffen mit EU-Kommissionsvizepräsidenten Sefcovic in einem Interview mit der NZZ (09.11.2021) bekannt. Auch ein Recht auf Ausnahmen der Rechtsübernahme enthält seine Wunschliste. Und eine volle Dynamisierung bei der Personenfreizügigkeit will er ausschliessen.
Bei den bürgerlichen Parteien «Die Mitte» und FDP kommen die Wünsche des Bundesrates gut an. «Die Mitte» hat sich in ihrer soeben durchgeführten Europa-Fraktionsklausur dazu bekannt, die Rechtsübernahme und Streitbeilegung auf noch zu bestimmende Sektorabkommen zu beschränken. Beim Personenfreizügigkeitsabkommen soll sie aber ausgenommen sein, also bei der Unionsbürgerrichtlinie und beim Lohnschutz. Folglich soll der Europäische Gerichthofe EuGH hier keine Rolle spielen dürfen.
Der Präsident der FDP, Thierry Burkart, hatte sich bereits vor dem Treffen in Brüssel für eine Dynamisierung in einzelnen Sektoren ausgesprochen (Interview in NZZ vom 2.11.2021). Auch er will die Unionsbürgerrichtlinie ausnehmen. Er nähme dafür Gegenmassnahmen der EU in Kauf.
Die Schweiz will die Rechtsübernahme und Streitbeilegungsregeln von Fall zu Fall als Konzession verstanden wissen. Doch es ist offensichtlich: Sie wünscht sich diese, wenn sie davon profitieren kann. Nicht aber, wenn es sie etwas kosten würde. Beim Abbau der technischen Handelshemmnisse will sie die Dynamisierung, um den Medtechunternehmen den Binnenmarktzugang wieder zu öffnen und der Maschinenindustrie den diskriminierungsfreien Zugang auch über die baldige Revision der EU-Maschinenrichtlinie zu erhalten. Bei der Personenfreizügigkeit beharrt die Schweiz auf Selbstbestimmung.
Selbst Österreich markiert Distanz
Es ist ein Minimal-Abkommen, das der Schweiz vorschwebt. Wie schon früher dürfte die EU auch jetzt skeptisch auf Einzelfall-Lösungen reagieren, weshalb ein schneller Abschluss wenig wahrscheinlich erscheint. Mehr als nur skeptisch hat sich ausgerechnet Österreich geäussert. Nach Verhandlungsabbruch hatte es sich noch als alleiniger Fürsprecher der Schweiz in der EU inszeniert. Beim Antrittsbesuch von Bundespräsident Cassis in Wien hat nun aber die EU-Ministerin Karoline Edtstadler dem Schweizer Vorschlag eine Absage erteilt. Die Aufschnürung der bestehenden Marktzugangsabkommen lehnte sie ab: «Wir sind für eine gesamtheitliche Lösung», wird sie in der NZZ (14.01.2022) zitiert. Auch brauche es nicht nur einen Mechanismus zur Streitbeilegung, sondern auch eine Änderung der Praxis bei den staatlichen Beihilfen, fügte sie hinzu.
Der französische Botschafter in der Schweiz, Frédéric Journès, äusserte sich vor Jahresende grundsätzlich, was die Schweiz zu erwarten habe. In «Le Temps» (28.12.2021) erinnerte er daran, dass der europäische Binnenmarkt das gemeinsame Gut aller Mitgliedstaaten sei. Die EU will ihn auch als gemeinsames Gut schützen. In den Brexit-Verhandlungen liess sie sich denn auch nicht auseinanderdividieren. Geduldet werde auch nicht mehr, dass Unternehmen von ausserhalb der EU dank tieferer Steuern auf dem Binnenmarkt Wettbewerbsvorteile ausspielen könnten, erklärte der Botschafter. Für die Schweiz tut sich so eine weitere höchst sensible «Baustelle» auf.
Abbruch kostet – wieviel ist noch unklar
Der Verhandlungsabbruch bedeutet nicht, dass nichts mehr geht. Das Luftverkehrsabkommen wurde seit Ende Mai schon zweimal aktualisiert, die Zusammenarbeit im Bahnverkehr im Rahmen des Landverkehrsabkommens immerhin verlängert. Beim grenzüberschreitenden Alpenraumprogramm bleibt die Schweiz in der neuen Periode 2021 – 2027 voll dabei, ebenfalls bei den Verhandlungen über neue Initiativen der Europäischen Weltraumorganisation. Die EU hat der Schweiz zugesichert, dass sie von den geplanten Zollabgaben auf klimaschädlichen Importen ausgenommen werde.
Der Verhandlungsabbruch hat aber einen Preis. Die Medizinalbranche trifft es besonders. Für den Zugang zum EU-Markt genügen Zertifizierungen aus der Schweiz nicht mehr. Schon bald könnte es mit der Maschinenindustrie die zweitwichtigste Exportbranche treffen. Forschende bleiben von Programmen ausgeschlossen. Die Erasmus-Privilegien für Junge sind nicht mehr gewährleistet, die Filmschaffenden von Kreativ-Programmen ausgeschlossen. Neue Abkommen gibt es nicht, solange die Weiterentwicklung des bilateralen Weges ungewiss ist. In der Stromversorgung steigen die Risiken, weil die EU ihre Energiewende weg von fossilen Brenn- und Treibstoffen ohne die Strombedürfnisse der Schweiz plant.
Selbst EU-Gegnern und erst recht den Stromunternehmen ist bange um die Versorgungssicherheit. Vor Verhandlungsabbruch habe sich die Netzgesellschaft Swissgrid noch an vielen europäischen Projekten beteiligen können, seither würden sich viele vorher noch offene Türen schliessen, äusserte sich vor ein paar Tagen Konzernchef Yves Zumwald besorgt (Coopération, 10.01.2022). Die Unsicherheit wird ihren Preis haben.
Die EU wandelt sich – mit Folgen für die Schweiz
Zweifellos ist auch die EU an guten Beziehungen zur Schweiz interessiert. Doch längerfristig klare Regeln gewichtet sie höher als kurzfristig spürbare Nachteile. Der Streit über die Anerkennung der Standards in der Medizinaltechnik steht dafür exemplarisch.
Es handelt sich um das in internationalem Vergleich umfassendste Abkommen über gegenseitige Produktbescheinigungen. Ob es mit den WTO-Regeln vereinbar ist, wird bezweifelt. (Europarechtlerin Christa Tobler in Tages-Anzeiger, 10.06.2021). Dass es trotzdem zustande kam und nicht angefochten wurde, liegt wohl daran, dass die Schweiz zur Zeit der Aushandlung noch als EU-Beitritts-Kandidatin galt.
Warum soll eine Nicht-EU-Kandidatin ein solch unübliches Privileg erhalten? Zur Diskussion steht deshalb mehr als ein Einzelfall. Der Schutz des Binnenmarktes wird im Lichte der neuen Handelspolitik der EU zum Thema. Maximaler Freihandel und Hyperglobalisierung sind nicht mehr oberste Maxime. Die EU reagiert auf die veränderten globalen Verhältnisse mit dem Kampf der Giganten USA – China, auf den Brexit und die wirtschaftlichen Erfahrungen in der Pandemie. Sie strebt wirtschaftspolitisch nach «strategischer Autonomie».
Die Zeit der «wirtschaftlichen Naivität» sei vorbei, nannte es der französische Botschafter in der Schweiz. Es sind mehr als nur Worte. Allein in den letzten Wochen stehen dafür mehrere Initiativen. Die EU-Kommission will die Minimalbesteuerung für Konzerne möglichst schnell umsetzen. Das wird auch in der EU ansässige Unternehmen mit Hauptsitz in der Schweiz betreffen. Auch die Abschaffung der Steuervorteile sogenannt substanzloser Konstrukte wie Briefkastenfirmen wurde angekündigt, die ebenfalls über die EU-Grenzen hinaus Wirkung zeigen soll. Mehr statt weniger Europäisierung der Schweizer Wirtschaftspolitik ist angesagt.
Pokern mit zu zahlendem Preis
Trotzdem soll die verhandlungspolitische «Schnittmenge» zwischen der Schweiz und der EU kleiner werden als sie war. Die Schweiz zeigt sich weniger kompromissbereit als vor der Publikation des Institutionellen Abkommenstextes im November 2018. Die EU ist stärker bedacht auf den Schutz ihres grossen Binnenmarktes als vor dem Brexit und den Handelskonflikten zwischen den USA und China. Wer einen diskriminierungsfreien Zutritt wünscht, soll sich an die Regeln dieses Marktes halten. Der Status quo mit der Schweiz steht nicht mehr zur Wahl.
Die entgegengesetzten Trends in der Schweiz und in der EU kündigen ein Kräftemessen neuer Art an, das sich länger hinziehen dürfte. Ungewissheiten werden dauern und Folgen spürbar. «Natürlich müssen wir einen Preis bezahlen», gab Aussenminister Ignazio Cassis schon mal in der NZZ zu verstehen. Wie hoch wird er sein? Wieviel wird der Bundesrat als verkraftbar einschätzen? Er scheint es testen zu wollen.
Ob es in ein paar Jahren erneut heisst, was Finanzminister Ueli Maurer soeben zur Übernahme der neuen globalen Mindeststeuer für Konzerne sagte: «Wir können uns ein Nein nicht leisten.» Ob das Kräftemessen dereinst wieder so enden wird?
Schweizer Medien vereint gegen vermeintliche «Nadelstiche»
Landauf, landab empören sich Medien über «Nadelstiche» aus Brüssel. Zum sprachlichen Eintopf tragen die NZZ (13.09.2021) und der Tages-Anzeiger (17.12.2021) bei, die Aargauer Zeitung (13.10.2021) und Blick Online (10.01.2021), Watson (21.07.2021) und die Handelszeitung (6.06.2021), um nur ein paar Beispiele aus jüngerer Zeit zu erwähnen. In grossen Lettern wird Empörung zelebriert und noch häufiger in Leads und Artikeln – gemäss Duden – über «versteckte Bosheiten gegen jemanden» bzw. gegen die Schweiz geklagt. Landesverteidigung ist angesagt: Macht die Schweiz ihre Interessen geltend, verteidigt sie ihre Souveränität, verteidigt die EU ihre Binnenmarktregeln, wird sie der «Nadelstiche» beschuldigt.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Das Lamento um Personenfreizügigkeit und Unionsbürgerrichtlinie ist nicht nachvollziehbar, wenn man einen Blick in die nächste Geländekammer wirft. Angesichts des Fachkräftemangels, der bereits heute in vielen Branchen spürbar ist und der sich in Kürze massiv verschärfen wird (Baby Boomers gehen in Rente), wird die Schweiz in Bälde in Europa händeringend nach Fachkräften werben, u.a. auch mit dem Versprechen auf grosszügige Sozialleistungen, wie sie die Unionsbürgerrichtlinie impliziert. Allein dieses Beispiel zeigt, wie wenig prospektiv unsere Exekutive ihre Politik – namentlich ihre Aussenpolitik gestaltet.
Medizinaltechnik- und Maschinenindustrie sind nicht zu bedauern. Auch sie haben im Fahrwasser von Economiesuisse kräftig am Narrativ des «Goldenen Wegs der Bilateralen» mitgewirkt, ohne die Bevölkerung darauf vorzubereiten, dass die Bilateralen wohl nur eine Übergangslösung sind und dereinst an ihr Ende gelangen könnten. Auch hier: Zu wenig prospektives Denken.
Schliesslich die Gewerkschaften und in ihrem Sog die Sozialdemokratie: Das Beharren auf der 8-Tage-Regel ist vorgeschoben. Die Ursache der Ängste ihrer Mitglieder liegt nicht in einer zu knappen Meldefrist, sondern in der konkreten Erfahrung an ihrer Arbeitsstelle/auf ihrer Baustelle über die äusserst löchrigen Kontrollmechanismen beim Lohnschutz. Das trifft in vielen Fällen auch zu. Wenn dort aber die Defizite sind, dann sind sie auch dort zu beheben.
Also nur zu den «Nadelstichen»: Für viele Massnahmen der EU, wie z.B. Aberkennung Börsenäquivalenz, Nicht-Teilnahme Horizon Europe, Ausschluss Erasmus haben mit dem Binnenmarkt nichts zu tun. Das Bezeichnen solcher Massnahmen als «Nadelstiche» ist nun wirklich nicht weit hergeholt. Der frühere Kommissar Martin Selmayr würde sie vielleicht auch als «Schüsse vor den Bug» bezeichnen.
Dem gegenüber steht das Nichtaufdatieren der Verträge der Bilateralen I, wie z.B. Konformitätsbewertungen der Medizinaltechnik. Diese Massnahmen sind ja nachvollziehbar und beziehen sich nur auf den Binnenmarkt und man fragt sich, wieso es denn noch weitere Nadelstiche braucht. Sollte der Verlust des Binnenmarktes für die Schweiz nicht schon genügend schmerzhaft sein?
Europa ist für die Schweiz Lebenswichtig. Soso…. und die Schweiz? Ist sie nicht auch wichtig für Europa? Warum ist der Titel so einseitig aufgemacht? Es gilt doch immer das grosse Ganze zu sehen. Das grosse Ganze endet aber nicht dort, wo die Nato und die EU enden. Die Nato und die EU ist nicht die Welt. Ein umfassenderes Denken wäre schon wünschenswert in der Wirtschaft sowie in der Politik.
Die Schweiz sollte sich nicht allzusehr von der EU drängen lassen. Es gibt auch noch andere wichtige Exportländer auf der Welt. Vor allem die Zusammenarbeit mit anderen Nicht-EU-Ländern in Europa wie Grossbritannien, Norwegen, Ukraine, Russland etc. könnte gezielt ausgebaut werden.