Glosse
Zweitwohnung? Kann nix verstehn!
»Der Anteil von Zweitwohnungen am Gesamtbestand der Wohneinheiten ist auf höchstens 20 Prozent beschränkt.» Dieser Satz steht seit Sonntag in der Bundesverfassung. Alles klar? Nichts ist klar! Denn das ist ein ganz schwieriger Satz. Nicht einmal Bundesrätin Doris Leuthard kann ihn fassen: Nach dem Ja des Schweizer Volks zur Franz Weber-Initiative sagte Leuthard: «Es ist nirgends definiert, was überhaupt eine Zweitwohnung ist.»
Die Medienschaffenden erblassten, als sie das hörten. Denn seit Jahrzehnten schreiben sie über Zweitwohnungen sowie die Zweitwohnungszählungen des Bundesamtes für Statistik. Und jetzt erfahren sie aus bundesfraulichem Mund, dass sie nicht wussten, worüber sie schrieben. Der Bundesrat selber war offenbar ahnungslos, als er vor der Abstimmung unter dem Titel «Die Argumente des Bundesrates» in der offiziellen Abstimmungsbroschüre schrieb: «Die Beschränkung der Zweitwohnungen auf einen fixen Anteil von 20 Prozent aller Wohnungen würde in zahlreichen Gemeinden zu einem abrupten Baustopp führen.»
Nicht nur beim Begriff «Zweitwohnung» reagiert die unterlegene Elite mit dem Satz «Kann nix verstehn». Ebenso unklar ist, wie hoch «höchstens 20 Prozent» sind. «In peripheren Räumen soll die 20-Prozent-Regelung nicht gelten», hätten die Initianten gesagt, sagt etwa der Bündner Regierungsrat Hansjörg Trachsel. Für den Regierungsmann zählt also nicht, worüber das Volk abstimmt, und was danach in der Verfassung steht, sondern das, was irgendwelche Initianten irgendwann gesagt haben sollen.
Wenn sich die Interpretation von Abstimmungsresultaten auf Aussagen im Abstimmungskampf stützt, gehen wir abenteuerlichen Zeiten entgegen. So erinnern wir uns an ein brachiales Inserat, mit dem Gegner drohten, ein Mann mit Hammer und Sichel werde bereits bestehende Ferienhäuschen zertrümmern, falls das Volk Franz Webers Initiative annehme. Müsste die Regierung nicht auch diese Aussage zum Nennwert nehmen? Und darf künftig ein Primarlehrer seinen Schülerinnen das Prozentrechnen beibringen, bevor er dafür ein Rechtsgutachten eingeholt hat?
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Sehr schön!