pausenhof

Schulkinder auf dem Pausenhof im Peters-Schulhaus in Basel: Nur jedes dritte soll später ins Gymi © Kanton Basel-Stadt/Juri Weiss

Zu viele wollen ins «Gymi»: Basel-Stadt zieht die Schraube an

Linda Stibler /  Lehrpersonen sollen Schüler strenger bewerten, damit die Gymnasialquote sinkt. So bleibt die Chancengerechtigkeit auf der Strecke.

Eigentlich müsste man sich im Basler Erziehungsdepartement freuen, denn die Zahl der gescheiten Jugendlichen nimmt offenbar rasant zu: 45 Prozent der Schülerinnen und Schüler werden 2018 ins Gymnasium eintreten – das sind fast 10 Prozent mehr als im vergangenen Schuljahr. Das teilte das Erziehungsdepartement nach einer Bilanz zum Abschluss des ersten Harmos-Durchgangs mit.
An einer Medienkonferenz zeigte sich Erziehungsdirektor Conradin Cramer von der «historisch hohen Gymnasialquote» keineswegs erfreut, sondern konsterniert: «Wir haben das Ziel verfehlt.»

Abschied von der Orientierungsstufe

Was ist denn da schiefgelaufen? Ein Rückblick: Nach einer langen Zeit des Umbaus gab es l991 in Basel-Stadt endlich eine Reform im veralteten Schulwesen. Mit der neu eingeführten Orientierungsstufe (OS) erhielten die Kinder eine ruhige Zeit zwischen der damals vierjährigen Primarstufe und den weiterführenden Schulen, um sich auf die zukünftige Schullaufbahn vorzubereiten. In dieser Zeit gab es relativ wenig Selektionsdruck.
Die dreijährige Orientierungsstufe war durchaus erfolgreich. Doch mit der Harmos-Reform sollte das Schulsystem bereits fünfzehn Jahre später wieder umgekrempelt werden. Die OS wurde fallengelassen und die Zwischenstufe um ein Jahr gekürzt. Das sei nötig, weil man sich in das gesamtschweizerische Harmos-Programm einfügen müsse. Zudem sei das auch dem internationalen Wettbewerb geschuldet, begründete das Basler Erziehungsdepartement den Schritt. Daneben versprach man, die neuerliche Schulreform verbessere die Chancengleichheit für alle Kinder. Ein Mittel dazu sollten die standardisierten Leistungstests sein, die von neutraler Seite überprüft werden und nicht nur vom Goodwill der Lehrpersonen abhängig seien.

Harmos-Reform hat Wettbewerbsdruck erhöht
Es mutet jetzt etwas sonderbar an, wenn das Basler Erziehungsdepartement in seiner Pressemitteilung behauptet, mit der Harmos-Reform habe man eine Stärkung der Berufsbildung und die Stabilisierung der Gymnasialquote angestrebt. Davon war bei der Einführung der Harmos-Reform nicht die Rede, auch wenn Kritiker der Orientierungsstufe hinter vorgehaltener Hand immer von «Kuschelpädagogik» sprachen.
Grosse Versprechen zur Verbesserung der Bildungsqualität und Chancengleichheit standen im Vordergrund. Allerdings: Mit der Harmos-Reform wurde in erster Linie die Selektion verschärft, und die Anzahl von Tests – und später von Checks – stieg an. Das führte zu mehr Wettbewerbsdruck in den Schulen; viele Kinder und Eltern können ein Lied davon singen. Und die Kinder strengten sich an. Sind sie deshalb klüger geworden? Der Eindruck täuscht: Mit zum Teil grossen Anpassungsleistungen und Gehorsam haben sich alle – Kinder, Eltern und Lehrpersonen – an dieses auf Messbarkeit fokussierte Lernen angepasst und ein «Teaching to the Test» betrieben. Das verbesserte die Test-Resultate – und siehe da: Einige ergriffen die versprochene Chance auf höhere Schulbildung.
Lehrpersonen werden zu Vollzugsbeamten
So war es wahrlich nicht gemeint! Nach gut schweizerischem Bildungsverständnis sollten nicht mehr als ein Drittel der Kinder ins Gymnasium gehen, der Rest sollte in der Sekundarschule I bleiben, die Hälfte davon später in höhere Diplomschulen oder spezielle Berufsausbildungen wechseln. Und die andere Hälfte – also das restliche Drittel – sollte nach der obligatorischen Schulzeit eine Lehre beginnen. So bleibt die (Klassen-)Gesellschaft intakt. Was also ist zu tun?
Die Quoten müssen runter, Chancengleichheit hin oder her. Basel-Stadt will die Schrauben anziehen. Der Volksschulleiter im Erziehungsdepartement, Dieter Baur, schlägt folgende Massnahmen vor: Bereits in der Primarschule und beim Übertritt in die Sekundarstufe I (also nach dem 6. Schuljahr) soll der Notendurchschnitt von beiden Zeugnissen im letzten Jahr (bisher nur eines) gelten. Und auch die Klassendurchschnitte müssen runter; sie seien mit 5.0 eindeutig zu hoch
Konkret heisst das: Die Lehrerschaft muss willkürlich diese Grenze verschieben und das selektive Denken aktivieren. Wie das mit der viel zitierten «Chancengerechtigkeit» zu vereinbaren ist, ist noch rätselhaft.
Es ist kaum anzunehmen, dass sich am Run aufs Gymnasium etwas verändern wird; aber es ist anzunehmen, dass der Kampf härter wird. Auf dem Buckel der Kinder und späteren Jugendlichen. Auf dem Buckel der Lehrerinnen und Lehrer, die zu Vollzugsbeamten degradiert werden.
In der Arbeitswelt zählt der glückliche Zufall – nicht die Bildung
Und was hat das längerfristig für gesellschaftliche Konsequenzen? In den Schulen wird es noch mehr Konkurrenz unter den SchülerInnen geben, damit verbunden auch die Verführung zu Ausgrenzung und zu Mobbing. Nicht allen Kindern ist das zuträglich, zum Beispiel jenen SchülerInnen, die sich nicht nach der Norm entwickeln. Verständnisvolle Eltern werden als Alternative eine Privatschule suchen, die ihre Kinder trotzdem zur Matura führt. Dieser Trend ist heute schon im Gang. Allerdings können sich das nur die Wohlhabenden leisten.
Doch die Hoffnungen auf einen sicheren und gut bezahlten Job werden dabei nicht immer erfüllt, denn diese Jobs lassen sich nicht beliebig vermehren. Wer nicht vorher scheitert und selektioniert wird, muss sich nach dem Studium oft von Praktikum zu Praktikum hangeln. Auch hier ist wiederum das Elternhaus gefragt, das seine Kinder über längere Zeit finanziell unterstützen muss. Für die andern entscheidet das Glück – und nicht etwa die bessere Bildung. Wer verliert, wird sich auf niedrigem Niveau durchschlagen müssen. Von sogenannter Chancengerechtigkeit kann nicht die Rede sein.
Und jenen, denen man eine gute Berufsausbildung wünscht: Die Motivation dafür kann die Schule nicht beibringen. In vielen Branchen sind die Arbeitsbedingungen keineswegs erstrebenswert. Und das gilt nicht nur in finanzieller Hinsicht. Es ist auch der Respekt und die Achtung für die vielen gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten, die fehlen. Das muss sich vor allem in der Arbeitswelt ändern, wenn sich die Motivation zur Berufslehre einstellen soll.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Linda Stibler ist Mitglied der Fachgruppe Bildung im Denknetz.

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9 Meinungen

  • am 25.05.2018 um 12:37 Uhr
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    Zu den (zu) vielen Gymelern fällt mir folgendes Zitat ein. Es stammt von Roman Herzog, Alt-Bundespräsident von Deutschland, Preisträger, zu Helmut Schmidt, Alt-Bundeskanzler, Laudator, am 29. März 2003, anlässlich der Entgegennahme
    des F.J.Strauss-Preises der Hanns-Seidel-Stiftung

    «Lange bevor die PISA-Studie erschienen war, wussten wir beide, was in unserem Bildungswesen los ist, und ich habe einmal zu Ihnen gesagt, das komme daher, dass auf der einen Seite die Linke die Anforderungen in unseren Schulen immer weiter abgesenkt hat, um den Kindern aus nichtarrivierten Schichten den sozialen Aufstieg zu erleichtern (ein Motiv, das ich gut verstehe), und dass die Bürgerlichen das mitgemacht haben, um den dummen Kindern arrivierter Familien den Abstieg zu ersparen. »

  • am 25.05.2018 um 15:30 Uhr
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    Was ja bei den Gymi-Quoten auch noch eine Rolle spielt: Die Schweiz bedient sich aus den Nachbarländern, um den Bedarf an akademischen Jobs zu decken. Und die ausländischen Akademiker gegen dann auch noch ein gutes Feindbild für die rechtskonservativen Kreise ab.
    Bei uns inNidwalden fanden übrigens Landräte der SVP die hiesige Maturitätsquote von 19% zu hoch. Ist das nicht schön , sozusagen ein perpetuum mobile für die politische Mobilisierung. Wenn man aufgrund einer verfehlten Bildungspolitik die «fremden Fötzel» ins Land lockt und sie dann noch politisch – sprich: fremdenfeindlich – bewirtschaften kann.

  • am 25.05.2018 um 17:06 Uhr
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    Der Run aufs «Gymi» hat eben einen ganz konkreten Grund: Wer das Gymnasium absolviert und die Matur besteht, hält sich zum vornherein alle Optionen offen. Kommt dazu, dass man als Akademiker mit abgeschlossenem Studium durchaus intakte Chancen auf einen gut entlöhnten Job hat und sich überdies in unserer bürgerlichen Gesellschaft auch noch eines beträchtlichen Gewinns an Sozialprestige erfreuen kann. Die Berufslehre ist eben, allen anderslautenden Beteuerungen zum Trotz, keineswegs der Königsweg zum Wohlstand. Es sei geklagt: In nicht wenigen Branchen sind die Löhne, auch für qualifizierte Berufsleute mit ordentlichem Lehrabschluss, bescheiden und verharren auch bei langjähriger Beschäftigung auf unterdurchschnittlichem Niveau. Mangelnde Perspektiven für die berufliche Weiterentwicklung und die Aussicht mit miesem Lohn in einer Tieflohnbranche (Gastgewerbe, Reinigung, Bau, Detailhandel, Gartenbau, Landwirtschaft, Hauswirtschaft, Coiffeure usw.) ein Leben als «working poor» zu fristen, wirken abschreckend. Der Spruch «Handwerk hat goldenen Boden» tönt in Zeiten der Globalisierung, des rasanten technischen Fortschritts, der Digitalisierung und der Automatisierung nur noch antiquiert und hohl.

  • am 25.05.2018 um 17:08 Uhr
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    Ich verstehe nicht das so ein reiches Land wie die Schweiz seine Jugendliche keine gute Schulausbildung gönnt. Wohl werden viele Studierten aus dem Ausland gehollt. Und viele ausländische Mütter die mit Schweizern verheiratet sind, gehen zurück in ihre Heimat um ihre Kindern eine gute Ausbildung zu erlauben. Darum gehen Ehen kaput, oder es gibt eine Wochenend Ehe.

  • am 25.05.2018 um 21:43 Uhr
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    Ein Gymnasialquote von 45% ist bei Weitem zu hoch und volkswirtschaftlich nicht sinnvoll und auch nicht tragbar. Es braucht nicht 45% Akademiker in der heutigen Gesellschaft. Zudem macht es Sinn, die Selektion frühzeitig zu machen, nicht erst an der Universität, das kostet eine Menge Geld. In meiner Jugendzeit waren es auf dem Land weniger als 5%, die es ans Gymi schafften. Ich konnte das Gymnasium besuchen, als Arbeitersohn, es war aber nicht einfach, im Gegenteil. Gewahrt und gefördert werden muss aber die Chancengleichheit, es darf nicht sein, dass das Vermögen und Einkommen der Eltern darüber entscheidet, wer ans Gymi darf und wer nicht.

  • am 26.05.2018 um 16:09 Uhr
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    Es gibt keine Anzeichnen dafür, dass die Schülerinnen und Schüler in den vergangenen Jahren besser geworden wären. Einzig die Notenschnitte sind angestiegen. Das muss aber nicht auf die bessere Leistung, sondern vielmehr auf die mildere Bewertung zurückgeführt werden. Wer keinen Konflikt mit den Eltern will oder eine gute Stimmung in der Klasse will, der benotet einfach milder. Kein Schulsystem kann die Gauss’sche Normalverteilung aushebeln.

  • am 27.05.2018 um 21:34 Uhr
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    Die Bevölkerung wāchst und wāchst und wāchst. Man hat nicht genūgend Ausbildungsplātze und nicht genūgend Arbeit, und so wird eine junge Generation auf Wettbewerb, und nichts als Wettbewerb, getrimmt – und wird darin verheizt.

  • am 28.05.2018 um 15:34 Uhr
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    Der Glaube, zwischen der Gymnasial- oder Studiumsquote und Chancengleichheit bestünde ein Zusammenhang, wird nicht davon richtig, dass er verbreitet ist. Die Vermischung beider Gesichtspunkte ist Kennzeichen einer verwirrten Situation, in der vieles gedeiht, aber sicher nicht Gerechtigkeit. Ein Bildungssystem ist dann gerecht, wenn es unverzerrt selegiert und allenfalls durch gezielte Förderung soziale Nachteile ausgleicht, und wenn dann nur die tatsächliche Leistung beim Weiterkommen eine Rolle spielt. Um diese festzustellen, muss man nicht die Tests vermehren, sondern die Notenvergabe verbessern und einer gezielten Supervision unterwerfen. Wenn die Plätze an der Sonne später begrenzt sind und man durch die Ausweitung des Weges dahin «Gerechtigkeit» herzustellen versucht, findet die Selektion eben nach anderen Kriterien und verdeckt statt. Dann erst kommen Einkommen der Eltern und andere Faktoren zum Zuge, die mit Begabung und Leistung wenig zu tun haben.
    Eine Ausweitung der Gymnasialquote kann hingegen gerechtfertigt sein, wenn tatsächlich die Anzahl an Berufen steigt, für die der Gymnasiumsbesuch die Voraussetzungen bietet, oder wenn man der Meinung ist, ein langer Schulbesuch und gute Allgemeinbildung stelle ein Wert für die Allgemeinheit dar und für die Selektionsfunktion der Schulbildung reiche eine aussagekräftige Maturnote.

  • am 1.06.2018 um 13:01 Uhr
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    "Menschen zu bilden, bedeutet nicht, eine Vase zu füllen, sondern ein Feuer zu entfachen» (Aristophanes)

    Basis des Lernens sind Neugier, vernetztes Denken und Kreativität, und dies lebenslang, bis ins hohe Alter. Beim Selektionieren werden hingegen Gedächtnisleistung, Präzision und Fehlerlosigkeit getestet. Dies sind Parameter, die in der Berufswelt durchaus auch gefordert sind. Was wollen wir heute in der Schweiz mit der Bildung erreichen? Welche Berufsfelder sind momentan in Entwicklung und welche Ausbildung brauchen wir dafür? Ist Kreativität gefordert oder Perfektion? Vielleicht ist eine höhere Gymnasialquote in der heutigen Urbanisierung sogar sinnvoll?

    Eins ist sicher: Wir können nicht mit Massstäben von vorgestern an die Situation von morgen herangehen!

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