Zeit für ein Upgrade der Versammlungsdemokratie
Red. Autor Silvano Moeckli ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität St. Gallen und Demokratieexperte. Der Covid-19-Pandemie wegen abgesagte oder eingeschränkte Versammlungen bieten aus seiner Sicht Opportunitäten, die Versammlungsdemokratie zu reformieren.
Die ursprünglich für den 6. September 2020 angesagte Landsgemeinde in Glarus ist abgesagt worden. Geplant war, Bürgerinnen und Bürgern mit einer Körpertemperatur über 38° den Zutritt zu verweigern. Das gibt Anlass für ein paar grundsätzliche Gedanken zur Institution der Landsgemeinde und der schweizerischen Versammlungsdemokratien allgemein.
Dieser amtliche Entzug des Stimmrechtes (bei Fieber) ohne jedes Rechtsmittel dagegen ist nicht dasselbe wie der freiwillige Verzicht auf die Teilnahme. Natürlich war es für Kranke und Immobile schon immer schwierig, an der Landsgemeinde zu erscheinen, aber in etlichen Fällen nicht völlig unmöglich. Wie viele kranke Spitzenpolitiker haben sich fast bis zum letzten Atemzug ans Amt geklammert und politische Entscheide gefällt?!
Die vorgesehene Regelung war nach meiner Einschätzung klar verfassungswidrig, weil sie Teilnahmewilligen das Stimmrecht entzogen hätte und es andere Möglichkeiten gegeben hätte, die erhabene Tradition der Landsgemeinde auch in Corona-Zeiten weiterzuführen.
Die Versammlungsdemokratie, die in zwei Kantonen und immer noch in knapp 80 Prozent der Schweizer Gemeinden gepflegt wird, hat einige grosse Vorzüge: Das «Staatsvolk» wird sichtbar, es steht der Regierung Auge in Auge gegenüber, es kann diskutiert werden, Gegenanträge können gestellt werden. Der Abstimmungsentscheid erfolgt nicht isoliert auf Papier, sondern per Handaufheben, Schulter an Schulter mit meist bekannten Gesichtern. Das Staatswesen und die Verantwortung, die man dafür trägt, sind sicht- und spürbar.
Die Nachteile sind auch altbekannt: Wie erwähnt können etliche gar nicht teilnehmen. Das gilt nicht nur für Gebrechliche und Kranke, sondern auch für Berufstätige im Dienst wie Polizisten, Feuerwehrleute oder Pflegefachpersonen. Das Stimmgeheimnis wird nicht gewahrt. Und meist werden die Stimmen nur geschätzt, nicht gezählt. Bei der ringförmigen Aufstellung des Stimmvolkes wie in Glarus ist die Schätzung besonders anspruchsvoll.
Ein Blick auf die Geschichte der Landsgemeinde, deren Wurzeln bis ins 13. Jahrhundert reichen, zeigt, dass es immer wieder Upgrades bei Form und Inhalt gegeben hat. Bis zur Gründung des Bundesstaates 1848 waren die Landsgemeinden souverän, das heisst keiner anderen Gewalt unterworfen. Vollwertige Demokratien waren sie erst nach der Einführung des Frauenstimmrechts, und das gibt es in Appenzell Innerrhoden bekanntlich erst seit 1991. Bis ins 20. Jahrhundert mussten die Redner ohne Mikrofon und Lautsprecher auskommen, und mit Frack und Zylinder sind die Regierungsmitglieder im Spätmittelalter sicher nicht aufgetreten. Die Versammlungsdemokratien der Schweiz haben es aber – etwa im Unterschied zu Generalversammlungen – verpasst, von neuen technischen Möglichkeiten bei der Abstimmung Gebrauch zu machen. Schon vor mehr als 20 Jahren habe ich als Ergänzung zur Abstimmung vor Ort simultane elektronische Teilnahmemöglichkeiten vorgeschlagen.
Die Krise als Chance
Für eine verfassungskonforme Durchführung der Landsgemeinde in Corona-Zeiten bräuchte es aber nicht einmal diese technischen Hilfsmittel, sondern bloss eine zweifache Lesung, wie sie Parlamente kennen. Mein Upgrade sieht wie folgt aus: Die Landsgemeinde wird durchgeführt, und es kann auch die Körpertemperatur gemessen werden. Es wird diskutiert und abgestimmt, und es können auch Gegenanträge gestellt werden. Aber die Abstimmungsergebnisse sind nicht dezisiv, sondern bloss konsultativ. Die rechtskräftigen Entscheide würden erst danach an der Urne bzw. per Briefabstimmung getroffen. Daran könnten alle teilnehmen, die Abstimmung wäre geheim und das Ergebnis präzis. Möglich wäre, dass an der konsultativen Landsgemeinde auch ausländische Einwohnerinnen und Einwohner teilnahme- und diskussionsberechtigt sind.
Dieses Modell der zweistufigen Beratung wäre auch für Gemeindeversammlungen geeignet. Schon heute ist es so, dass in etlichen Gemeinden Vorversammlungen durchgeführt werden. In meiner Wohngemeinde wird das «Stadtapéro» genannt. Für die Gemeindebehörde hat eine Vorversammlung eine wichtige Funktion: Sie kann schon vor der Entscheidfassung die Stimmung testen, informieren und mögliche Opposition identifizieren.
Viele Gemeindepräsidenten ziehen die Versammlung der Urnenabstimmung vor, weil sie befürchten, dass bei der höheren Stimmbeteiligung an der Urne das Risiko des Scheiterns ihrer Vorlagen höher ist. In diesem Jahr mussten notgedrungen viele Gemeindeversammlungen durch Urnenabstimmungen ersetzt werden, und diese erste Erfahrung hat gezeigt, dass die allermeisten Vorlagen genauso schlank durchgingen wie an einer Versammlung. Vielmehr ist es so: Wenn eine Vorlage nicht breit abgestützt ist und bis zum Entscheid kontrovers bleibt, ist das Risiko einer Ablehnung hoch, egal ob man nun an einer Versammlung oder an der Urne abstimmt. Die zweistufige Beratung erlaubt eine präzisere Analyse der Akteure und Argumente der Gegnerschaft.
Damit Reformen angegangen werden und gelingen, braucht es oft einen starken Anstoss von aussen. Die Corona-Krise ist ein solcher Anstoss. Die Versammlungsdemokratien der Schweiz sollten diese Chance für ein Upgrade nutzen, damit sie auch noch weitere Jahrhunderte überdauern.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Silvano Moeckli ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität St. Gallen und Autor eines Buches über die schweizerischen Landsgemeinde-Demokratien.
Ein demokratische Wahl oder Abstimmung sollte grundsätzlich ‹geheim› sein, ansonsten ist es eine Diktatur der Mehrheit.
Nur so ist man vom fremden Willen und kann seinen Willen frei kundtun. So muss man auch nicht als Verlierer das Mobbing der Gewinner fürchten.
Eine öffentliche Abstimmung im Volk ist undemokratisch und schafft einen Zwangs-Frieden durch Gruppendruck.
Schon in der attischen Demokratie wurde aus gutem Grund mit schwarzen und weissen Zählsteinen abgestimmt.
Ein Land kann sich nicht demokratisch nennen, wenn die Meinungsmachungsmaschine von drei großen Medienunternehmen und der dahinterstehenden Finanz gesteuert wird.
«Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie(schon längst durch Kapital und der ihm dienenden Politclique) verboten».
Da macht die Schweiz keinen Unterschied. Im Gegenteil. Hier,wo jeder Erzverbrecher aus Politik und Wirtschaft sein Geld bunkern kann, noch besser als sowieso schon in anderen Ländern, muss mir keiner was von Demokratie erzählen. Auch nicht von der vielgepriesenen «direkten »,von der 1/4 der Einwohner der Schweiz eh ausgeschlossen sind.
Und auf dem Land, bei den Landsgemeinden entscheidet ebenfalls das Geld des – und der Arbeitsplatz, bei dem örtlichen Patron.