Widerspruch verheisst mehr als Widerspruch
»Diktatur der Finanzmärkte, EU-Krise und Widerstand». So lautet die Headline der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift «Widerspruch», die in ihrem Untertitel «Beiträge zu sozialistischer Politik» ankündet. Doch dieser Untertitel ist Geschichte. «Widerspruch» hat sich gewandelt. Die Zeitschrift ist zum Sammelbecken hochaktueller Diskussionsbeiträge zur aktuellen Politik geworden, auf schweizerischer, aber auch auf internationaler Ebene.
Ja zur Transaktionssteuer FTT
Man muss kein «Sozialist» sein, um einzusehen, dass die Financial Transaction Tax FTT, schon im Jahr 1972 vom US-amerikanischen Wirtschaftswissenschafter James Tobin vorgeschlagen und deshalb im angelsächsischen Raum auch oft Tobin Tax genannt, endlich eingeführt werden sollte. Mittlerweile ist ganz Europa für deren Einführung, mit Ausnahme Grossbritanniens, das seine City Banker schützen will, und Tschechiens, das sich eh mehr an den USA orientiert als an Europa. Und wahrscheinlich wäre auch die Schweiz dagegen, aus ähnlichen Gründen wie London.
Peter Wahl erläutert in der jüngsten Ausgabe von «Widerspruch» minutiös, was diese FTT wirklich ist, wie sie funktioniert und was sie bewirkt. Obwohl bei einem absoluten Tiefst-Steuersatz von zwischen 0.01 und 0.1 Prozent liegend, würde sie beispielsweise jene Machenschaften, mit Hilfe von Hochleistungscomputern im Bereich von Nanosekunden Währungskursänderungen zur eigenen Bereicherung auszunützen, sofort stoppen. Uneinig ist man in Europa betreffend der positiven Auswirkungen eigentlich nur darüber, ob die Steuer einen Milliardensegen im einstelligen oder eher sogar im oberen zweistelligen Bereich auslösen würde, und – nachvollziehbar – wie diese Milliarden dann auf die Staaten verteilt werden müssten.
Die Schweiz im Fokus
Während die FTT vor allem deshalb noch nicht eingeführt wurde, weil einige, vor allem die Banken natürlich, die These vertreten, sie funktioniere nur, wenn die ganze Welt mitmache und das nie der Fall sein werde, gibt es Probleme, die durchaus auch auf nationaler Ebene angegangen werden können. Wussten Sie, dass ein Prozent (!) der Schweizer Steuerpflichtigen mehr Vermögen ausweisen als die anderen 99 Prozent der Steuerpflichtigen zusammen, nämlich über 58 Prozent? Die Zahl steht jetzt zwar in einem Heft, das im Untertitel «Beiträge zu sozialistischer Politik» ankündigt, aber sie stammt aus einer Untersuchung der Grossbank CS Credit Suisse aus dem Jahr 2010. Ueli Mäder, Professor für Soziologie an der Universität Basel, präsentiert weitere Zahlen aus der Schweiz, die sehr zu denken geben. Hier nur noch eine: Die Vermögen der 300 Reichsten in der Schweiz sind, trotz Einbussen in der Finanzkrise, von 86 Milliarden Franken im Jahr 1989 auf 470 Milliarden im Jahr 2009 gestiegen. (Zum Nachrechnen: Wären die 86 Milliarden in diesen 20 Jahren mit 5 Prozent Zins und Zinseszinsen angewachsen, so wären daraus gerade mal 228 Milliarden geworden, also nicht einmal die Hälfte der Realität. Und man denke dabei an das Gejammer der Pensionskassen-Verwalter, dass die garantierte Verzinsung viel zu hoch liege und nicht eingehalten werden könne… )
Es gibt nicht nur die Globalisierung
Nein, es gibt nicht nur die Globalisierung. Gian Trepp weist in einem hochinteressanten Artikel auch auf eine Gegenbewegung hin, auf die sogenannte Metropolitanisierung. Die wirtschaftliche Entwicklung läuft, so die Beobachtung einiger Forschungsstellen, mehr und mehr um Metropolen herum gruppiert ab, unabhängig von nationalstaatlichen Grenzen. In der Schweiz sind es die Regionen um Zürich, um Basel unter Einbezug Südbadens und des Elsass, und die Region Genf-Lausanne, während Bern an Schwungkraft verliert und nur noch eine Koordinierungsfunktion zwischen den drei Metropolen einzunehmen vermag. Die UN-HABITAT, die Unterorganisation der UNO für Siedlungsfragen, geht davon aus, dass die Welt künftig von Metropolitanregionen überzogen sein wird und dass sich die Wirtschaftsentwicklung nicht mehr am Muster einzelner Länder orientiert, sondern von der Dynamik dieser Metropolitanregionen getrieben sein wird.
Über Souveränitätsgewinn und Souveränitätsverlust
Einem hervorragenden Artikel zum Thema Schweiz/EU in derselben Nummer aus der «Feder» von Nationalrat Hans-Jürg Fehr hätte man gerne eine möglichst grosse Leserschaft gewünscht. Hans-Jürg Fehr zeigt mit akribischer Genauigkeit und grosser Anschaulichkeit anhand von konkreten Beispielen auf, wie der sogenannte autonome Nachvollzug und die bilateralen Verträge zu immer mehr Fremdbestimmung führen und die Selbstbestimmung der Schweiz aushöhlen. Und er zeichnet auf, wie ein Beitritt zur EU die Fremdbestimmung zumindest in Mitbestimmung wandeln könnte. Dabei beleuchtet er auch einige Details, die in den meist parteipolitisch polarisierten Pauschal-Debatten grosszügig übersehen werden, etwa die Frage der internationalen Gerichtsbarkeit, die zurzeit völlig ungelöst ist.
(Der vollständige Artikel kann mit freundlicher Genehmigung von Hans-Jürg Fehr unten als pdf gelesen und/oder runtergeladen werden.)
Sehr, sehr viel Stoff in einer Nummer
15 schwergewichtige Beiträge umfasst die neuste Ausgabe von «Widerspruch» zum Thema Finanzmärkte und EU-Krise. Aber damit nicht genug. Auch in der Rubrik «Diskussion» findet sich Schwergewichtiges. Ein Artikel etwa von Rolf Bossart, der zusammen mit Monika Stocker die Zeitschrift «Neue Wege» betreut: «Der vulgäre Atheismus und der Niedergang der Religionskritik» ist interessant, aber schwer zu lesen. Die Religiös-Soziale Bewegung, begründet von Leonhard Ragaz, hat guten Grund, sich im Zeitalter der «Wiederkehr des Religiösen» zu Wort zu melden. In einem Themenschwerpunktheft zur Finanzwelt geht ein solcher Beitrag allerdings unter.
Wenig leserfreundlich
Schade, dass es das inhaltlich so anspruchsvolle und reiche Heft dem Leser so schwer macht, hineinzukommen in die Fülle der Stoffe. Das A5-Format des Heftes ist zwar handlich, geeignet für die Fahrt im 1. Klass-Abteil der SBB, aber die Schrift ist zu klein, die Zeilen sind mit rund 70 Anschlägen zu lang, die Zeilenabstände (für Fachleute: der Durchschuss) ist ebenfalls zu klein, und auflockernde Bilder oder hervorgehobene Quotes fehlen ganz. Man verspürt hinter dem Heft so etwas wie Arroganz: Wer schon sooo viel Inhalt geboten bekommt, der soll sich bitte die Mühe nehmen, auch unfreundlich Serviertes zu lesen.
Nein, Arroganz ist es sicher nicht, es ist wohl fehlendes Verlags-Know-how und es sind wohl auch fehlende Finanzen. Aber gerade mit einem freundlicheren Auftritt – man vergleiche etwa mit dem US-Magazin Foreign Affairs – und mit einem vierteljährlichen Erscheinungsrhythmus mit halb soviel Gewicht und einem etwas reduzierten Preis könnte diese Zeitschrift wohl deutlich populärer gemacht werden. Verdient hätte sie es.
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Nähere Angaben finden sich unter www.widerspruch.ch.
Das Einzelheft kostet CHF 25.- bzw. EUR 16.-
Das Heft kann bestellt werden (siehe unten den Link) und ist auch in geeigneten Buchhandlungen erhältlich.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine