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Slam-Poet, Satiriker und Komiker: Renato Kaiser nimmt kein Blatt vor den Mund – und hat damit Erfolg © tt

«Weisse Männer hören am liebsten weissen Männern zu»

Tobias Tscherrig /  Der Komiker und Satiriker Renato Kaiser mischt sich in Politik und Aktualität ein. Das Absurde ist sein täglich Brot.

Renato Kaiser

Renato Kaiser ist Spoken Word-Künstler, Komiker, Satiriker, Autor und Präsident von spoken-word.ch. Er wurde in der Poetry Slam-Szene bekannt, gewann den Schweizermeister-Titel und entwickelte sich zu einem ihrer bekanntesten Exponenten im deutschsprachigen Raum. Seit 2009 lebt er von seiner Kunst: Er ist in der Satire-, Comedy- und Kabarettszene tätig. Kaiser arbeitet mit dem Online-Portal «watson.ch» zusammen und ist aktuell unter anderem für das Schweizer Radio und Fernsehen tätig. Zudem ist er bekannt für seine satirischen Videokommentare zu Politik, Gesellschaft und Kultur.

In einem Ihrer Videos sprechen Sie von sich als «verhindertem Lehrer».
Renato Kaiser: Das stimmt (lacht). Viele Lehrerinnen und Lehrer sind gescheiterte Kabarettistinnen und Kabarettisten. Bei mir ist es umgekehrt: Ich bin aus Versehen kein Lehrer geworden, sondern Kabarettist.

Aus Versehen?
Ich hätte mir nie erträumt, von der Kunst leben zu können. Ich hatte nie Ziele oder Ambitionen, dafür aber das Glück, dass sich genügend Menschen für meine Kunst interessieren.

Seit 2009 leben Sie von Ihrer Kunst. Stimmen die Rahmenbedingungen für Künstlerinnen und Künstler in der Schweiz?
Meine Kunst kann in der freien Marktwirtschaft überleben. Ich bin aber auch verhältnismässig allgemeintauglich. Je mehr sich ein Künstler einer spezifischen Richtung zuwendet, umso schwieriger wird es. Dann ist man rasch auf Subventionen angewiesen. Als Kleinkünstler brauchst du all die regionalen Kulturstätten. Überall existieren Kulturkommissionen, die ihre Arbeit meist ehrenamtlich erledigen. Ohne diese Arbeit wären Künstlerinnen und Künstler in der Schweiz aufgeschmissen. In der Vergangenheit wurden viele Kulturbeiträge zusammengestrichen, ein aktuelles Beispiel ist St. Gallen. Wir alle müssen aktiv dafür kämpfen, dass wir auf einem gewissen Niveau bleiben und Kunst weiterhin ermöglicht wird.

Schweizer und Schweizerinnen seien verklemmt, heisst es. Dürfen Sie auf den hiesigen Bühnen Witze über alles machen?
Das Schweizer Publikum hat Humor. Witze über Politik und Religion kommen gut an. Wenn die Ironie beim Schweizer Publikum aufhört, dann beim Geld. Und das merkst du, wenn du im Kanton Zug einen Auftritt hast (lacht). Im Ernst: Wir Schweizer reden nicht gerne über Geld und es ist einfach zu sagen, Geld sei kein Problem – wenn man genügend davon hat. Wenn ich vor Reichen Witze über Reichtum mache, sind sie beleidigt. Aber warum ist es schlimm, Geld zu haben? Frei nach dem Motto: Wer das Geld hat, braucht sich um Spott doch nicht zu sorgen.

Wo sehen Sie die Grenzen der Satire?
Ich finde, man soll über alles Witze machen dürfen. Aber: Je heikler das Thema ist, desto mehr Mühe muss ich mir geben. Schlechte Witze sind nie zu entschuldigen. Wenn ich einen schlechten Witz über Früchte mache, ist es ein schlechter Witz. Problematischer wird das Ganze, wenn ich einen schlechten Witz über Minderheiten mache, die es sowieso schon schwer haben. Ich hätte aber gerne, wenn sich die Menschen nicht gleich beleidigt fühlen, sondern sagen: «Der Witz war nicht gut genug, gib dir das nächste Mal wenigstens mehr Mühe.»

Im Februar 2016 äusserten Sie sich in einem Video zur «Durchsetzungsinitiative». Es wurde ein Hit, seitdem veröffentlichen Sie regelmässig Videos zu Themen der Politik, Gesellschaft und Kultur. Sehen Sie sich als Botschafter?
Ich hatte nie vor, ein moralischer Botschafter zu sein. Falls ich Botschaften absetze, dann höchstens aus Versehen. Ich mache Witze über Themen, die mich interessieren, die ich absurd finde oder die mich nerven. In einer Woche sind das Teesiebli und Duschköpfe, in der nächsten spreche ich über die Sebstbestimmungs-Initiative. Ich denke, dass ich alle Themen auf dieselbe Art behandle. Wer ich nicht sein will, ist der, der zu jedem Thema auch noch etwas sagen muss. Ich finde, das kann man auf jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft anwenden: Wir können uns nicht jeden Tag pausenlos mit allen politischen und sozialen Themen auseinandersetzen.

Trotzdem sprachen Sie im Sommer oft über Flüchtlinge und über das Mittelmeer als Massengrab.
Die Situation im und um das Mittelmeer finde ich völlig absurd. Vor allem, weil sie so redundant ist. Auf einmal bemerkst du, seit wie vielen Jahren die Situation stagniert und das immer wieder dasselbe gesagt wird. Was neu ist: Heute weiss man ganz offen, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken. Das wird dann ignoriert oder relativiert. Menschen, die helfen, werden kriminalisiert. Das ist doch absurd.

Und sonst? Welches Thema fanden Sie im Jahr 2018 in der Schweiz am absurdesten?
Die Geschichte der Sozialdetektive. Was ich nicht verstehe: Warum können die Menschen bei solchen Diskussionen nicht gleichgültiger sein? Speziell beim Thema der Sozialversicherungen könnte man gut sagen: Das interessiert mich gar nicht. Helft diesen Menschen, das ist mir egal. Aber dass sich die Bevölkerung derart aufrühren lässt und sofort ein Gesetz machen will, ist unverständlich. Vor allem wenn man sieht, wie die Allgemeinheit auf das Thema Steuerbetrug reagiert. Wie viele Papers von Panama bis Paradise brauchen wir noch, um festzustellen, dass diese verschwundenen Milliarden ebenfalls ein Problem darstellen?


Renato Kaiser zur Selbstbestimmungs-Initiative

Die Realität schreibt also die skurrilsten Komödien.
Ja, klar, das ist so. Das reicht vom Duschkopf bis hin zum komischen neuen Spruch vom Papst, der Homosexualität im 21. Jahrhundert als Modeerscheinung bezeichnet und dabei noch als liberal gilt. Die Menschen sehen das, trauen sich in vielen Fällen aber nicht, darüber Witze zu machen. Auch, weil Rhetorik in der Schweiz nicht besonders gross geschrieben wird. Wenn man zum Beispiel einigen Schweizer Politikerinnen und Politikern beim Sprechen zuhört, merkt man das ziemlich schnell. Und das, obwohl das Sprechen den Grossteil ihres Jobs ausmacht, den sie teilweise schon seit Jahren machen.

Bleiben wir bei den Politikerinnen und Politikern. Manche ihrer Aussagen sind derart offensichtlich falsch, dass einem nur die Ironie als Ausweg bleibt. Stehen Sie dem manchmal ohnmächtig gegenüber?
Im Gegenteil. Ich habe sehr viel Hoffnung, was Politik anbelangt. Ich sehe so viele Menschen, die sich engagieren. In letzter Zeit hatte ich viel mit jungen Politikern und Politikerinnen zu tun und muss sagen, von Mitte-Links kommt sehr viel schlauerer Polit-Nachwuchs, als das bei Mitte-Rechts der Fall ist. Dann gibt es noch die Extrem-Beispiele, die mit falschen Aussagen provozieren. Andreas Glarner, Erich Hess oder Roger Köppel sind gute Beispiele. Derartige Aussagen kann man als Pointe verwenden. Aber man muss sich auch in Acht nehmen, damit man nicht nur über diese Menschen spricht – und ihnen damit noch mehr Aufmerksamkeit zukommen lässt. Ich bin immer noch der Meinung, dass man den Menschen nicht bewusst sagen muss: «Hey, was der Glarner da rauslässt, das ist unglaublich dumm.»

Einst sagten Sie, Politiker seien die besseren Satiriker. Sie fragten sich, wo Politik aufhört und Satire beginnt. Warum gibt es immer wieder Situationen, in denen Politikerinnen und Politiker mit ihren Aussagen über die Stränge schlagen?
Wenn du als Politiker aktiv provokante Aussagen tätigst, dann weisst du, dass die Gegenseite auf die Barrikaden geht. Ausserdem kommt man heutzutage mit mehr durch, auch wegen der vielen getrennten Informationskanäle. Die Aussagen laufen heute nicht mehr hauptsächlich über die Tagesschau oder die Zeitungen, sondern über die eigenen Kanäle.

Damit sind wir bei den sozialen Medien. Sie treten mit dem Programm «In den Kommentarspalten» auf. Warum das Thema der sozialen Medien und Plattformen?
Das Thema der Kommentarspalten handle ich sehr offen ab. Es geht darum, zu zeigen, dass es sich bei allen Aussagen bloss um Kommentare handelt. So wird zum Beispiel oft über die Verrohung der Sprache und die mangelnde Diskussionskultur diskutiert. Aber ich finde nicht, dass sich die Menschen im Internet anders verhalten als im echten Leben.

Sie finden es normal, wenn User Vergewaltigungsandrohungen in Kommentarspalten schreiben?
Das finde ich extrem – aber nicht absurd. Es ist furchtbar, aber es überrascht mich nicht. Solche Aussagen gibt es auch im «normalen» Leben. Hier drückt man sich einfach in abgeschwächter Form aus oder tätigt sie hintenrum. Ich finde nicht, dass die Kommentarspalte im Internet entstanden ist und daraufhin alle Menschen verrückt wurden.

Sondern?
Sagen wir es so: Auf der Welt hat es schon immer sehr viele Idioten gegeben – das sehen wir jetzt einfach noch ein bisschen besser.

Sie mobilisierten gegen SVP-Initiativen und sprechen oft über polemische Themen wie etwa über Flüchtlinge. Bekommen Sie in den Kommentarspalten Hass ab?
Nein. Es ist erstaunlich, wie wenig Hasskommentare ich erhalte. Der wichtigste Grund: Ich bin ein weisser CIS-Hetero-Mann. Viele wollen das nicht mehr hören, aber es ist wahr. Bereits wenn du eine Frau bist, ist vieles schwieriger. Meinen Sie, jemand hätte mal zu mir gesagt, ich sei untervögelt, hysterisch oder fett? Frauen sind solchen Aussagen ständig ausgesetzt. Dazu kommt, dass ich sehr durchschnittlich bin. Ich bin weder besonders gross, noch klein, dick oder dünn. Ich habe nicht mal eine Frisur (lacht). Am Anfang gab es manchmal oberflächliche Kritik wegen meiner «Warze» im Gesicht, die eigentlich ein Muttermal ist. Auch mein Dialekt wurde kritisiert. Das ist doch der beste Beweis dafür, wie lange sie suchen mussten, um überhaupt etwas zu finden.

Es soll aber Menschen geben, die Sie als nervig empfinden.
Natürlich nerve ich. Ich würde mich auch nerven, wenn ich nicht ich wäre. Ständig erreiche ich mit meinen Videos deinen Laptop, obwohl du das vielleicht gar nicht willst. Wenn Leute schreiben, ich sei ein linksversiffter Gutmensch, dann ist mir das so was von egal. Ich habe auch kein Problem damit, wenn Menschen finden, ich sei ein Arschloch. Ich gebe mir einfach sehr viel Mühe, möglichst wenig Angriffsfläche für Idioten zu bieten. Wenn jemand mir inhaltlich ein bisschen Kontra geben will, muss er sich mindestens so viel Mühe geben, wie ich es beim Verfassen des Textes getan habe. Die Meisten wollen das gar nicht, das ist zu anstrengend.


Renato Kaiser spricht über Rassismus

Immer wieder greifen Sie die Themen Rassismus und Sexismus auf. Warum?
Weil ich finde, dass es sich dabei um die präsentesten Themen handelt, mit denen wir bereits am längsten kämpfen.

Auch in der Schweiz?
Überall und auch in der Schweiz. Auch wenn viele Menschen immer wieder sagen, dass es hier keinen Rassismus und keinen Sexismus gebe. Das sagen in erster Linie weisse Cis-Hetero-Männer, die davon keine Ahnung haben. Dann haben sie noch einen dunkelhäutigen Kollegen, der kein Problem damit hat, wenn man «Morenkopf» sagt – damit ist das Thema erledigt. Dabei hätten wir die besten Chancen, strukturellen Rassismus in der Gesellschaft zu bekämpfen. Wir sind nicht geschädigt, hatten keinen Holocaust, zumindest nicht direkt, sondern ganz schweizerisch «hintenrum». Was hindert uns also daran, mit der Thematik gelassener umzugehen und den fehlbaren Menschen zu sagen: Deine Aussage ist ein bisschen rassistisch, damit bist du ein wenig ein Rassist. So könnte man Dinge korrigieren, statt Fronten zu verhärten.

Dann surfe ich im Internet und der weisse, privilegierte Cis-Hetero-Mann Renato Kaiser erzählt mir etwas zum Thema Rassismus.
Das ist das letzte Privileg der weissen Cis-Hetero-Männer: Wenn ich über Rassismus oder Sexismus rede, jubeln mir alle zu. Ich bin froh, dass viele Menschen, die von Rassismus oder Sexismus betroffen sind, finden, dass ich es richtig mache. Dieses letzte Privileg wird aber hoffentlich bald bröckeln. Damit es in der Schweiz keinen weissen Mann mehr braucht, der über Rassismus spricht. Denn es gäbe genügend Personen, die betroffen sind und etwas zu sagen haben.

Ein Beispiel?
Der Berner Rapper «Nativ» ist ein gutes Beispiel. Oder die Spoken-Word-Poetin Fatima Moumouni. Das sind unglaublich schlaue Menschen, die einiges zu sagen haben. Aber Dunkelhäutige haben das Problem, dass sie ständig nur über Rassismus sprechen müssen und dabei emotionalisiert werden. Der nächste Schritt wäre, dass so gescheite Leute wie Nativ oder Fatima auch schlaue Sachen über andere Themen sagen dürfen. Der Punkt ist, dass Fatima, Nativ und ich uns gegenseitig brauchen – noch. Ich brauche sie, wenn jemand mal wieder sagt: «Nein, die Schwarzen haben in der Schweiz kein Problem.» Und sie brauchen mich, weil sie ja «parteiisch» sind und wir alle wissen: Weisse Männer hören am liebsten weissen Männern zu.
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Mehr Videos von Renato Kaiser finden Sie hier.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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3 Meinungen

  • am 21.01.2019 um 12:20 Uhr
    Permalink

    Warum sind alle <Künstler> linke….

  • Christian Müller farbig x
    am 21.01.2019 um 12:44 Uhr
    Permalink

    @Karl Hoppler: Es ist nicht richtig, dass alle Künstler Linke sind. Es gibt – auch in der Schweiz – Künstler, die sogar ziemlich weit rechtsaussen ihre «Spässe» machen, siehe etwa Andreas Thiel (https://de.wikipedia.org/wiki/Andreas_Thiel_(Satiriker)).
    Mit Gruss, Christian Müller

  • am 21.01.2019 um 15:58 Uhr
    Permalink

    Und was ist mit den Mainstream-Parteien in der Schweiz? Die haben 70% Wähleranteil und werden von den Satirikern verschont. So ein Wermuth oder Glättli wäre doch auch einmal ein lohnendes Ziel für einen Satiriker.

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