Warum Mobility Pricing keine Lösung ist
Die Diskussion zum Mobility Pricing in der Schweiz ist lanciert: Das Bundesamt für Strassen (Astra) hat mit einer Anhörung die Meinungen dazu ergründet. Zur Linken findet man Mobility Pricing grundsätzlich gut, auch wenn man es gern griffiger hätte als es das Astra vorschlägt; der Rechten ist die Vorstellung eines steuernd in den Verkehr eingreifenden Staats ein Gräuel.
Doch die Debatte zielt am Wesentlichen vorbei: Was als Dilemma wahrgenommen wird, ist in Wahrheit ein Scheindilemma. Zentrale Begriffe werden verwechselt, und niemand scheint es zu merken. Was als marktwirtschaftliches Instrument daherkommt, entpuppt sich als Ausdruck von Marktmisstrauen. Und wenn sogar die SVP bei der Befürchtung, Herumfahren könnte teurer werden, ihre soziale Ader entdeckt, liegt sie richtig – nur aus anderen Gründen, als sie meint.
Worum es geht: Das Astra hat einen Berichtentwurf in die Vernehmlassung geschickt, bevor eine eigentliche Strategie oder ein Gesetzesentwurf vorliegt und die Sache politisch spruchreif ist – was eher unüblich und wohl Ausdruck einer gewissen Unsicherheit ist. Es geht immerhin um einen Paradigmenwechsel, denn die grundsätzliche Gebührenfreiheit von Strassen hat Verfassungsrang.
Mobility Pricing ist eine Weiterentwicklung einfacher Strassengebühren, wie sie beispielsweise von London und anderen Städten bekannt sind, wo AutofahrerInnen zahlen müssen, um in die Innenstadt zu fahren. Verkehrsaufkommen und Stauzeiten konnten durch diese «Staugebühr» deutlich reduziert werden.
Das Mobility Pricing, wie es dem Astra vorschwebt, will aber anderes: Das Verkehrsaufkommen (im privaten wie im öffentlichen Verkehr) soll explizit nicht reduziert werden. Es sollen lediglich Verkehrsspitzen gebrochen, der Verkehr zeitlich besser verteilt und die Kapazitäten somit besser genutzt werden. Das will man durch ausgeklügelt abgestufte Tarife erreichen, so dass das Befahren beliebter Strecken zu attraktiven Zeiten teurer wird. Insgesamt soll Mobility Pricing den Verkehr aber nicht verteuern, sondern andere Abgaben wie etwa die Mineralölsteuer ablösen.
Mobilität ist nicht = Verkehr
Der Streit um Mobility Pricing ist in der Wahrnehmung fast aller Beteiligten Ausdruck eines Dilemmas: Alle stören sich an den negativen Folgen der Verkehrszunahme, aber niemand will sich seine Mobilität einschränken lassen. Mobility Pricing bietet sich da als marktwirtschaftliches Instrument an.
Es handelt sich in dieser Sichtweise um das, was ÖkonomInnen als «Tragik der Allmende» bezeichnen: Der Strassenraum (beim Schienenverkehr ist es ein wenig komplizierter) ist ein Gemeingut (eine Allmende), also etwas, das allen gehört. Wird ein Gemeingut übernutzt, büsst es an Wert ein. Beim Gemeingut Strasse geschieht das, indem die Strassen verstopfen und man weniger schnell voran kommt. Die Antwort der orthodoxen Ökonomie auf eine solche Situation besteht darin, den Gemeingutcharakter des Gemeinguts aufzuheben, indem man das Recht, es zu nutzen – das Recht, das bis anhin allen gratis zustand – stückweise verkauft. Die Tarife des Mobility Pricing sind der Preis für das Recht, den öffentlichen Raum zu einer bestimmten Zeit auf einem bestimmten Abschnitt zu beanspruchen.
Allein: Das Ganze basiert auf einer falschen Analyse, und falsch ist die Analyse in ihrem Kern. Denn fast alle, selbst viele VerkehrswissenschafterInnen, verwechseln die beiden zentralen Begriffe. Der Bericht des Astra tut es ständig: Er schreibt von «Mobilität» und «Mobilitätsnachfrage», wo er Verkehr meint. Das kann aber nicht dasselbe sein, wie eine einfache Überlegung zeigt: Zwingt eine Baustelle die VerkehrsteilnehmerInnen zu einem Umweg, nimmt der Verkehr, gemessen in zurückgelegten Kilometern, zu. Aber nur ein Tor würde behaupten, eine Baustelle mache die Leute mobiler! Hat man verstanden, dass Verkehr und Mobilität nicht dasselbe sind, wird das Dilemma zum Scheindilemma: Dann kann man nämlich das eine reduzieren und gleichzeitig das andere mehren.
Verkehr frisst Mobilität
Aber was ist denn Mobilität? Sie liesse sich sinnvoll definieren als die Fähigkeit, seine Bedürfnisse nach Ortswechsel (zur Arbeit oder Schule, zu FreundInnen, zum Einkauf…) zu befriedigen. Eine so definierte Mobilität hat zwei Seiten. Die eine ist die Raumstruktur: Sind die Wege kurz, kann ich mit wenig Verkehr sehr mobil sein. Die andere Seite ist der Verkehr: Bei gleichbleibenden Weglängen machen mich schnellere Verkehrswege mobiler.
Aber die Weglängen bleiben eben nicht gleich, wenn der Verkehr schneller wird. Sie werden genau proportional länger – das zeigt die Erfahrung, das zeigen alle empirischen Studien, immer und immer wieder. Jeder Ausbau der Verkehrskapazitäten zwingt in gewissem Masse dazu, sie auch zu benützen: Die Leute ziehen weiter weg vom Arbeitsplatz, freiwillig oder weil sie sich die steigenden Wohnkosten an gut erschlossenen Lagen nicht mehr leisten können. Der Quartierladen ist nicht mehr konkurrenzfähig und muss schliessen, so dass auch die, die das nicht wollen, im entfernteren Supermarkt einkaufen müssen. Die bessere Strasse ermöglicht dem Gewerbler, in weiterem Umkreis Aufträge anzunehmen – aber er muss auch gegen Konkurrenz aus einem weiteren Umkreis bestehen – und so weiter.
Am Ende ist man auf immer längeren Strecken immer schneller immer gleich lang unterwegs, um die gleichen Mobilitätsbedürfnisse zu befriedigen: Die Mobilität stagniert, der Verkehr wächst. Und je mehr sich die durchschnittliche Geschwindigkeit von der Gehgeschwindigkeit entfernt, desto mehr wird immobilisiert, wer gewisse schnelle Verkehrsmittel, aus welchen Gründen auch immer, nicht nutzen kann.
Man kann die Mobilität nicht auf der Verkehrsseite der Medaille zu erhöhen versuchen, ohne gleichzeitig die Wegseite der Medaille zu schädigen. Hat man das erkannt, stellt sich die Sache etwas anders dar: Das wirkliche Gemeingut sind die kurzen Wege, und die Übernutzung äussert sich nicht in verstopften Strassen – ein minderes Problem –, sondern in der Erosion mobilitätsfreundlicher Raumstrukturen. Urheberin dieser Erosion ist letztlich der Staat, der Strassen baut (und seine Transportunternehmen, die das Angebot ausbauen). Er müsste sich selber zur Kasse bitten. Statt dessen versucht er, mit Gebühren seinen EinwohnerInnen das Herumfahren zu verleiden, nachdem er sie zu mehr Verkehr gezwungen hat, indem er ihre Wege verlängerte.
Unsoziales Mobility Pricing
Noch eine Ironie liegt in der Sache: Das «marktwirtschaftliche» Instrument des Mobility Pricing beruht im Grunde auf Marktmisstrauen. Denn das Verkehrssystem funktioniert von sich aus wie ein ziemlich idealer Markt: Übertrifft die Nachfrage das Angebot, steigen die Preise – bloss dass man die Preise auf diesem Markt in Zeit statt Geld zahlt. Stau ist nichts anderes als ein hoher Preis für ein stark nachgefragtes Gut.
Der Mobility-Pricing-Bericht des Astra stellt fest, dass die Bereitschaft, auf Randzeiten auszuweichen, unter den Verkehrsteilnehmern gering sei, selbst wenn sie dadurch Zeit sparen könnten. Nun, dann ist es eben noch nicht teuer (also langsam) genug.
Und das weist den Weg zur Lösung: Verkehr muss teurer werden in der Währung Zeit – also langsamer. Eine Verlangsamung bewirkt eine Verkürzung der Wege, also eine Stärkung des Gemeinguts: Verkehr nimmt ab, Mobilität nimmt zu, und insbesondere die schwächsten Verkehrsteilnehmer – die zu Fuss gehenden – bleiben nicht länger aussen vor.
Das wäre sozial; Mobility Pricing ist es nicht. Denn heute zahlen alle mit der selben Währung. Mit Mobility Pricing hingegen kann der Reiche mit Geld zahlen und Zeit sparen, während die Arme weiterhin mit Zeit zahlt – respektive in unattraktive Randzeiten verdrängt wird. Doch «jenseits einer kritischen Geschwindigkeit», hat der Philosoph Ivan Illich geschrieben, «kann niemand Zeit ‹sparen›, ohne dass er einen anderen zwingt, Zeit zu ‹verlieren›. Derjenige, der einen Platz in einem schnelleren Fahrzeug beansprucht, behauptet damit, seine Zeit sei wertvoller als die Zeit dessen, der in einem langsameren Fahrzeug reist.»
Das ist es, was Mobility Pricing unsozial macht.
—
Dieser Artikel ist am 10. September in der Wochenzeitung (WOZ) erschienen.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine.
Ok, wenn das Stauproblem so gelöst würde, wie Marcel Hänngi es vorschlägt, nämlich gar nicht, bzw. durch die schliesslich doch noch begrenzte Leidensbereitschaft der sich gegenseitig Stauenden, mit im Idealfall weniger Strassen statt mehr Strassen. So wurde das Stauproblem bisher aber leider nicht nichtgelöst. Es wird durch mehr Strassen gelöst, was auch keine Lösung ist, wie wir langsam gelernt haben sollten. Wie gut oder nötig Roadpricing ist, entscheidet sich also ziemlich daran, ob wir es politisch schaffen, ohne Roadpricing Strassen zu enfernen statt zu bauen.
Aber was ist denn das erste und Hauptproblem des Verkehrs? Es ist das CO2. Und wenn wir dieses konsequent mit «Pricing» lösten und das Geld daraus allen gleichermassen zurückgäben, dann wäre das gerecht und zufällig sogar — hallo SVP — sozial, wenigstens im kapitalistischen Sinn des Wortes. Nebenbei würde es den weniger Automobilisierten Mobilität ermöglichen, wenn sie diese wollen. Andernfalls können sie auch ein Buch kaufen, zum Beispiel «Wir Schwätzer im Treibhaus», und es anschiessend lesen und mit den Nachbarn darüber sprechen, was dann wirklich sozial wäre. Die längst überfällig CO2-Abgabe auf Treibstoffe würde vielleicht sogar ermöglichen, Strassen zu entfernen, wenigsten könnten wir hoffen, dass vorerst keine weiteren gebaut würden. Jedenfalls würde das erste Problem des Verkehrs angegangen, nicht das zweite oder das dritte. (Und es würde das erste Problem besprochen.) Kurz: CO2-Abgabe statt Roadpricing!
Weiterführende Themati, wo sich in der Debatte statt Ideologie auch Sachkenntnis ausleben könnte.
Im Grundsatz bin ich einverstanden mit Marcel Hänggi, obwohl er das eigentliche Übel nicht vollständig thematisiert: Die massiven externen Kosten Luftverschmutzung (tötet mehr Menschen als Unfälle), Unfälle, CO2, Lärm, und Landverlust werden von den Nutzniessern des Verkehrs nur teilwiese bezahlt, also ist der Verkehr (auch ÖV) für die Nutzer viel zu billig und müsste stark verteuert werden, was aber nicht einmal Grüne versuchen.
Der «Markt» funktioniert jedoch aus einem zweiten Grund nicht: die Kosten (ob Geld oder Zeit) und Nutzen werden nicht rationell bezüglich Fortbewegung bewertet, sondern emotionell oder subjektiv und bezüglich Dingen, die wenig mit Verkehr zu tun haben, z.B. absurd hohe Geschwindigkeits- und Beschleunigungsfähigkeit.
Velofahren ist für die meisten Wege innerorts bekanntlich die schnellste *und* billigste Form der Fortbewegung, trotzdem benutzen die meisten Leute das viel teurere Auto oder der (innerorts) viel langsamere ÖV. Oder fahren ausserorts Auto auch auf Strecken, die mit ÖV schneller *und* billiger sind.
Velofahren in der Stadt wäre für mich mutmasslich tödlich, und ich kann nie ohne Auto eine Bibliothek besuchen, weil stets ganze Körbe voller Bücher mit dabei sind. Wer es gewohnt ist, als Publizist immer auch vor Ort zu recherchieren, ist vielfach auf dieses Verkehrsmittel angewiesen, in meinem Fall sogar auf Sonderbewilligungen zum Befahren von Wäldern und Alpen, ohne das kann man kaum Namensforschung machen mit sogenannter Realprobe. Will ich über Marignano, Morgarten oder Sempach mitreden, gehört genaue Ortskenntnis dazu, wobei die Abgabetermine von Beiträgen gemütliches Arbeiten in der Regel nicht erlauben.
Obwohl das hier nicht das Thema ist, denn es geht um die Gesamtsicht und nicht um Individuen, sei Ihnen hier geantwortet, dass es nichts praktischeres gibt zum Transportieren von Körben voller Bücher als ein Velo (oder in Ihrem Fall vielleicht ein Last-Dreirad mit Elektroantrieb) mit einem schmalen Anhänger, den Sie gleich in die Bibliothek mitnehmen können. Sie bewerten eine Eigenschaft Ihres Autofahrens (ich weiss nicht welche) höher als den Nutzen, Ihrer Körbe auf Rollen überall mitführen zu können, und so machen es die meisten: der «Markt» funktioniert nicht, weil die Leute zu viel Geld und zu viel Zeit haben, auch wenn Sie das Gegenteil behaupten.
Falls Sie jedoch, wie ebenfalls viele Leute, Angst vor den Autos haben und sich deshalb in einem besser geschützt fühlen, erhöhen Sie dadurch die Kosten für alle andern ohne selber einen wirklichen Nutzen zu haben, denn *pro Weg* ist die innere Sicherheit (für sich selber) des Velofahrens besser als beim Autofahren, während die äussere Sicherheit (für andere) eine Grössenordnung besser ist. Und das noch ohne Berücksichtigung der Gesundheit und der Luftverschmutzung u.a.; dann ist das Verhältnis noch viel extremer.
Wenn es regnet, sieht es vielleicht anders aus, aber es regnet weniger, als man meint!
Mobility Pricing ist nicht per Definition unsozial, sondern es ist abhängig davon, was man mit dem eingenommenen Geld anstellt. Wie Kommentarschreiber Peter Vogelsanger bereits schreibt, eine gleichmässige Rückverteilung auf alle Einwohner wäre sogar ausgesprochen sozial. Der Nachteil einer reinen CO2-Abgabe übersieht allerdings, dass Mobilität auch durch überfüllte Züge zu Stosszeiten eingeschränkt ist.
Die Debatte sollte auch nicht das Verkehrsmittel thematisieren, sondern dass wir überhaupt zu weite Strecken reisen. Ein kurzer Arbeitsweg ist, egal mit welchem Verkehrsmittel, immer viel umweltfreundlicher, wie ein tägliches Pendeln von 50 und mehr Kilometer. Hätten wir einen Hochgeschwindigkeitszug von St. Gallen nach Genf, wäre auch dieser in Kürze überfüllt. Mit enormem Energieverbrauch, auch wenn dieser weitgehend elektrisch wäre.
Daher muss Mobilität generell mehr kosten. Orientieren sollten sich die Kosten am Verbrauch an Raum-, Ressourcen- und Ruheverbrauch. Alle drei Kategorien sind Gemeingut. Daher gehört auch der Erlös allen, was dann auch den erwähnten sozial gerechten Effekt hat.
Interessante Ausführungen. Ein Punkt scheint mir unangesprochen zu bleiben: Profiteure der hohen Mobilität sind Firmen, die Arbeitsplätze in die (verstopften) Zentren gelegt haben. Aber gerade Firmen zahlen je länger je weniger Steuern. Selbst die SBB, früher in jeder Ortschaft mit Bahnhof mit Personal vor Ort vertreten, hat heute nur noch wenige grosse Verwaltungszentren, wo sie ihr gesamtes Personal zusammenziehen. Firmen sollten mit einer Steuer belegt werden je km je Mitarbeiter. Und Mitarbeiter mit einer Umverteilungsabgabe, wie sie Vogelsanger vorschlägt.
@P. Meier: Sparen Sie sich und uns ihre Ausrede. Jeder, wirklich jeder hat seine eigene Ausreden, warum gerade er nicht auf das Auto verzichten kann. Ich spreche aus Erfahrung aus zig Gesprächen zu diesem Thema. Es gibt für alles Alternativen. Dass sie diese nicht nutzen wollen, kann ich verstehen. Aber es gibt sie.
Josef Brusa trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er schreibt, der Verbrauch von Gemeingut solle kosten und der Erlös gehöre allen. Die Zeit für diese Idee, die meiner Ansicht nach stärker sein wird als die gängige Idee des freien Marktes oder die alte des Sozialismus oder die noch ältere aber weniger umstrittene des Humanismus, ist noch nicht ganz gekommen. Es wäre aber sicher nützlich, wenn jemand die Idee systematischer Gemeingutabgaben mit pauschaler Rückverteilung mittels geeignetem Medium — einem Buch, wahrscheinlich — auch im deutschsprachigen Raum beliebt machte. Denkt der Autor dieses Buches scharf und schreibt er effizient, wie der Autor des Artikels, der hier kommentiert wird, würde das sicher nicht schaden. Damit wäre auch gesagt, was bei der Diskussion um das Roadpricing auch wichtig ist, nämlich, wem der Erlös eines allfälligen Roadpricings zusteht: sicher nicht dem Statt, der damit im schlimmsten Fall neue Strassen bauen und andere Torheiten begehen würde — wie es bei der ‹Leistungsabhängigen Schwerverkehrsabgabe› geschieht, bereits ein Roadpricing, und als solches übrigens auch eigentlich im Widerspruch zur Verfassung.