Von Aussteigern, Aussitzern und Wankelmütigen

Hanspeter Guggenbühl /  Vor der Atomenergie-Debatte im Parlament stehen sich drei Gruppen gegenüber: Aussteiger, Aussitzer und Wankelmütige.

Heute können bestehende Atomkraftwerke (AKW) in der Schweiz solange betrieben werden, solange ihre «Sicherheit gewährleistet ist». Der Bau von neuen AKW ist möglich, doch die Rahmenbewilligung dafür untersteht dem fakultativen Referendum und mithin dem Entscheid des Volkes. So lautet die Regelung, die seit März 2003 im Kernenergie-Gesetz verankert ist.

Im Jahr 2008 reichten die Stromkonzerne Axpo, BKW und Alpiq Gesuche für den Bau von je einem neuen AKW in Beznau, Mühleberg und Gösgen ein. Ihre wiederholte Erklärung, sie würden die bestehenden Reaktoren in Beznau und Mühleberg nach 50-, jene in Gösgen und Leibstadt nach 60 Jahren abschalten, ist politisch zwar relevant, gesetzlich aber nicht verbindlich.

Die Reaktion auf «Fukushima»

Seit der Atomkatastrophe im japanischen Fukushima wanken diese Pläne: Drei Tage nach dieser Katastrophe sistierte Bundesrätin Doris Leuthard das Bewilligungsverfahren für die neuen AKW. Die Stromkonzerne «begrüssten» diese Sistierung – die sie der Energieministerin offensichtlich selber nahe gelegt hatten. In der Folge reichten Parlamentsmitglieder von links bis rechts über hundert Vorstösse zur Energiepolitik ein.

Der Nationalrat wird diese Vorstösse am 8., der Ständerat am 15. Juni beraten – bereits heute Mittwoch legt der Bundesrat seine Position fest und kann damit aufs Parlament noch Einfluss nehmen. Umstritten ist, ob das Parlament sofort über die Atomzukunft entscheiden soll. Zweitens geht es um den Inhalt dieser Politik. Aus der Flut von Vorstössen lassen sich drei Positionen heraus kristallisieren.

Vorzeitiger Ausstieg

Linksparteien und Umweltverbände verlangen, was sie seit 1979 in mehreren Initiativen erfolglos gefordert hatten: Einen vorzeitigen, möglichst schnellen Ausstieg aus der Atomenergie. Dafür wählten sie mehrere Mittel:

o Die Grünen lancierten eine Volksinitiative «für den geordneten Ausstieg aus der Atomenergie». Diese verbietet neue AKW und befristet den Betrieb der bestehenden auf 45 Jahre. Ausnahme: Beznau I soll schon ein Jahr nach Annahme der Initiative vom Netz. Unterstützt wird diese Initiative auch von der SP, EVP und CSP.

o Die SP verlangt per Motion direkt ein Gesetz, um eine «geordnete Beendigung der Kernenergienutzung in der Schweiz» zu erreichen: Demnach sollen neue AKW verboten und die Laufzeiten der bestehenden begrenzt werden. Im Unterschied zu früheren Stellungnahmen der SP nennt diese SP-Motion keine Fristen. «Im Prinzip wollen wir die bestehenden Atomkraftwerke nach 40 Jahren Laufzeit abschalten, das letzte also 2025», sagt Motionär Eric Nussbaumer, «aber mit der Motion signalisieren wir dem Parlament, dass man mit uns über die Laufzeit der einzelnen Werke reden kann.»

o Die Umweltorganisationen befürworten einen Ausstieg aus der Atomenergie wahlweise bis 2025 oder 2035. In ihrem Parteigutachten, das sie letztes Jahr erstellen liessen und jetzt wieder aus der Schublade holten, zeigen sie: Der Ausstieg ist auch wirtschaftlich vorteilhafter als der Bau von neuen Atomkraftwerken.

Abwarten und Aussitzen

Die SVP und FDP, der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse und weitere Verbände bilden zusammen mit der Stromwirtschaft den Gegenpol zur ersten Gruppe: Die Economiesuisse warnt vor «übereilten energiepolitischen Entscheiden» und verlangt, dass die «Option Kernenergie aufrecht erhalten wird.» So sollen die bestehenden Kernkraftwerke (gemäss bestehendem Gesetz) unbefristet weiter laufen, wenn ihre Sicherheit gewährleistet ist, und der Bau von neuen Anlagen soll nicht ausgeschlossen werden.

Allerdings erkennen Wirtschaftsverbände, SVP und FDP, dass sie momentan wenig Chancen haben, beim Volk eine Mehrheit für die Bewilligung von neuen AKW zu finden. Darum befürworten sie die Sistierung der Bewilligungsverfahren. Abwarten und Aussitzen lautet ihre Devise. Die Mehrheiten der FDP- und SVP-Fraktion, allenfalls unterstützt von einigen CVP-Mitgliedern, werden deshalb in der Junisession alle Vorstösse ablehnen, die verbindlich den – baldigen oder langfristigen – Ausstieg aus der Atomenergie anstreben. Mit den Worten der Economiesuisse: «Über einen allfälligen Ausstieg aus der Kernenergie darf erst entschieden werden, wenn sichere, zuverlässige, wettbewerbsfähige, ausland-unabhängige und umweltfreundliche Kompensationsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.»

Wankelmut in der Mitte

Zwischen linken und rechten Polen schwanken die Mitte-Parteien CVP und BDP. Nachdem sie vor dem 11. März neue Kernkraftwerke noch befürworteten (siehe Schluss dieses Textes), möchten sie diese jetzt verhindern, die alten Atommeiler aber noch möglichst lange laufen lassen. Wobei es auch inerhalb dieser Gruppe Nuancen gibt:

o Die BDP fordert ein Verbot von neuen AKW und ein Notfallszenario, falls bestehende Reaktoren aus Sicherheitsgründen vorzeitig abgeschaltet werden müssen. In diesem Fall sollen die klimapolitischen Schranken gegen Gaskraftwerke verwässert werden (keine CO2-Kompensationspflicht mehr im Inland) .

o Eine Motion von Roberto Schmidt, die 67 Ratsmitglieder von links bis zur Mehrheit der CVP unterzeichneten, verlangt ebenfalls ein Verbot von neuen AKW. Bestehende Anlagen sollen «gestaffelt stillgelegt werden». Beim Entscheid über deren Restlaufzeit sollen «der Strombedarf» und «die Möglichkeiten alternativer Energiequellen» berücksichtigt werden.

Falls eine Mehrheit einer dieser mittleren Motionen zustimmt, muss der Bundesrat entsprechende Gesetze ausarbeiten, die neue AKW verbieten. Allerdings bedeutet das nicht das sichere Aus für die Atomkraft. Denn bei den späteren Gesetzesberatungen können Parlamentsmitglieder ihre Entscheide wieder umstossen. Wie schnell der Wind drehen kann, zeigt nicht nur die Atom-, sondern auch die Klimapolitik: Das Parlament beschloss letztes Jahr eine Reduktion der CO2-Emissionen bis 2020 um 20 Prozent sowie CO2-Kompensations-Vorschriften, die den Bau von neuen Gaskraftwerken in der Praxis verhindern. Heute stehen diese Beschlüsse wieder zur Debatte. Äussere Einflüsse bringen vor allem die Parteiein in der Mitte ins Wanken – und können damit Mehrheiten wieder verändern.

Die alten Positionen

Bis zum 11. März 2011 befürworteten die bürgerlichen Parteien SVP, FDP, CVP und BDP, die im Bundesrat und Parlament die Mehrheit bilden, den Weiterbetrieb der alten wie auch den Bau von ein bis zwei neuen Atomkraftwerken. Das zeigen ihre Positionspapiere:

– Die SVP schrieb im April 2010: «Wasser- und Kernkraft als wichtigste Pfeiler des Schweizer Strommix sind zu stärken.» Und präzis forderte sie: «Die heutigen Kernkraftwerke sind nach Ablauf ihrer Betriebsdauer an den bestehenden Standorten zu ersetzen.»

– Die FDP formulierte im Juni 2010 etwas holpriger: «Der absehbare Wegfall der ältesten Schweizer Kernkraftwerke ist durch Ersatzkernkraftwerke zu ersetzen.»

– Der Parteitag der CVP beschloss im Januar 2011: «Bestehende Kernkraftwerke sollen durch sicherere und leistungsfähigere Anlagen ersetzt werden, sofern eine Verlängerung bestehender KKW sicherheitstechnisch nicht mehr möglich ist.»


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

keine

Zum Infosperber-Dossier:

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