Volksbegehren zum Profilieren und als Wahlkampf
Volksbegehren verkommen zunehmend zu Profilierungs- und Wahlkampfmitteln. Die letzte und kurioseste Volksinitiative startete Ende November. Sie stammt von einem Komitee im bernischen Bönigen und fordert einen abgestuften Steuerabzug für alle, die zur Urne gehen. «In einem Wahl- und Abstimmungsjahr kann man mit einem Abzug von maximal 1250 Franken rechnen», sagte Erstunterzeichner Martin Frischknecht dem «Blick». Damit hat der Mann erreicht, worum es ihm wohl ging: Publizität. Denn sein Volksbegehren wird mit 99prozentiger Wahrscheinlichkeit am Mangel an Unterschriften scheitern.
Das Gleiche lässt sich für die ersten drei Volksinitiativen des Jahres 2011 voraussagen, die Marc Meyer im Januar als Multipack lancierte und dafür von der Lokalpresse als «Einzelkämpfer» gefeiert wurde. Darin fordert der Basler Lehrer und einstige SVP-Regierungsrats-Kandidat unter anderem eine «klare Kompetenzregelung der Armee im Ernstfall». Wie viele Signaturen er für seine drei Initiativen bereits erhalten hat, will Meyer auf Anfrage nicht preisgeben. Er klagt lediglich über «knappe Mittel» und meint: «Wenn ich eine halbe Million Franken hätte, brächte ich die Unterschriften locker zusammen.»
Rekord an Initiativen
Im ablaufenden Jahr 2011, so zeigt die Liste der Bundeskanzlei (siehe Grafik), wurden in der Schweiz 23 nationale Volksinitiativen neu gestartet. Das ist die höchste Zahl in einem Jahr seit 1891, als die Eidgenossenschaft das Initiativrecht einführte. Hinzu kommen sechs Volksbegehren, die bereits zwischen Juli und Dezember 2010 lanciert wurden (die Sammelfrist für die notwendigen 100 000 Unterschriften beträgt eineinhalb Jahre).
Heute gibt es auf Bundesebene also 29 hängige Initiativen; auch das ist eine Rekordzahl. Davon kommen, so lässt sich aus unserer Umfrage bei den Initiativkomitees abschätzen, folgende fünf wahrscheinlich zu Stande: Die GSoA-Initiative «Ja zur Aufhebung der Wehrpflicht» wird am 5. Januar 2012 eingereicht. Die «Stipendieninitiative», bei der die Unterschriftensammlung anfänglich harzig verlief, folgt am 20. Januar. Bereits genügend Unterschriften gibt es laut Angaben der Urheber auch für die SP-Initiativen für Mindestlöhne und für eine öffentliche Einheits-Krankenkasse» sowie das SVP-Begehren «Gegen Masseneinwanderung».
Ebenso sicher ist, dass neun der laufenden Volksinitiativen scheitern werden. Dazu gehören – neben den vier eingangs erwähnten – unter anderem die Forderungen für die «Todesstrafe bei Mord mit sexuellem Missbrauch», mehr «Transparenz in der Krankenversicherung» und «für ein EU-Beitritts-Moratorium». Ebenfalls chancenlos sind die beiden Begehren gegen Radio- und TV-Gebühren sowie gegen den Weiterbetrieb der Kernkraftwerke, welche die winzige «Partei Solidarische Schweiz» (PSS) lancierte mit der Begründung: «Als junge Partei, die bisher nicht in der Bundesversammlung vertreten ist, sind Initiativen die einzige Möglichkeit, politisch aktiv zu sein.»
Viele Initiativen auf der Kippe
Damit bleiben 15 Initiativen, deren Erfolg oder Misserfolg sich noch nicht abschätzen lässt. Das rührt einerseits daher, dass einige erst kürzlich starteten – etwa die die «Goldinitiative» der SVP oder die «Neutralitätsinitiative» der Auns. Andererseits bekunden einige Parteien und Gruppen bei der Unterschriftensammlung mehr Mühe als erwartet. Nachfolgend einige Beispiele in der Reihenfolge ihrer Erfolgschancen:
• Das Komitee, das die viel diskutierte Initiative für eine Besteuerung von hohen Erbschaften lancierte, sammelte in nur vier Monaten 48 000 Unterschriften. Die Erfolgsaussichten sind gut. Das zeigt sich auch daran, dass viele Millionäre ihre Villen fluchtartig auf Nachkommen übertrugen, um die Steuer von 20 Prozent zu umgehen.
• Die CVP hat für ihre Familieninitiativen «gegen die Heiratsstrafe» und «für steuerfreie Kinder- und Ausbildungszulagen» je rund 60 000 Unterschriften gesammelt; dies nach sieben Monaten Sammelzeit. Dieses Polster bietet noch keine Garantie, obwohl das Parteisekretariat die Erfolgschancen mit «100 Prozent» angibt.
• Die Grünen sammelten 60 000 Unterschriften für ihre Initiative «Grüne Wirtschaft» (nach neun Monaten Sammelzeit) und 70 000 Unterschriften «für den geordneten Ausstieg aus der Atomenergie» (nach sechs Monaten). Die Parteileitung ist mit dem bisherigen Resultat «zufrieden» und rechnet ebenfalls mit hundertprozentigem Erfolg.
• Die FDP-Initiative registriert für ihre Initiative «Bürokratie-Stopp» vier Monate vor Ablauf der Sammelfrist erst «zwischen 70- und 75 000 Unterschriften». Trotzdem mimt sie Zuversicht, die fehlenden Signaturen noch zusammen zu bringen.
• Die Grünliberalen erhielten für ihr Begehren «Energie- statt Mehrwertsteuer», die sie als Wahlkampfschlager lancierten, erst 25 000 Unterschriften; dies nach sechsmonatiger Sammelfrist. Die Sammlung laufe «schlechter als erwartet», die Erfolgschancen beziffert die GLP auf «70 Prozent».
Mehr als die Hälfte wird scheitern
Von allen 29 Initiativen, die sich Ende 2011 im Sammelstadium befinden, dürften nur 10 bis 12 zustande kommen. 17 bis 19 werden scheitern. Das schätzt der Schreibende. Wie weit die Prognose zutrifft, wird sich im Mai 2013 zeigen, wenn die Sammelfrist für die letzte der hängigen Initiativen abläuft.
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400 INITIATIVEN, NUR 18 ERFOLGE
Seit 1891 sind in der Schweiz 400 Volksinitiativen gestartet worden. 288 davon wurden eingereicht. Das zeigt die langfristige Statistik der Bundeskanzlei. Die meisten Initiativen lehnte das Volk ab. Deren 85 wurden zu Gunsten eines weniger weit gehenden Gegenvorschlags zurück gezogen.
Nur 18 Initiativen hat das Volk seit 1891 angenommen. Und selbst dieser Erfolg ist begrenzt. Beispiele: Die Alpeninitiative, der das Schweizer Volk 1994 zustimmte, wird laut neustem Verlagerungsbericht des Bundesrates auch im Jahr 2018 noch unverfüllt bleiben. Die Moore bluten trotz «Rothenthurm-Initiative» weiter aus. Die erfolgreiche Initiative «zur Verhinderung missbräuchlicher Preise» bescherte der Schweiz zwar einen Preisüberwacher, der aber nur über begrenzten Einfluss verfügt. Was zeigt: Die Publizität, die eine Volksinitiative geniesst, ist meist grösser als ihre reale Wirkung.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine