Verhandlungsabbruch des Bundesrates – darf er das allein tun?
Zuerst war der Schock, er sass tief am 26. Mai – ausser bei der sich als Sieger feiernden SVP und den Gewerkschaften. Abbruch ohne Plan, lautete der Vorwurf. Die Entrüstung war gross. Sie entlud sich auch in einer Welle dringlicher Interpellationen. Die Mitte-Fraktion, die Sozialdemokraten, die Grünliberalen und die Grünen wollen in politisch leicht unterschiedlicher «Färbung» vom Bundesrat wissen, wie es nach dem Abbruch weitergehen soll, wie eine stabile und verlässliche Beziehung zur EU in Zukunft sichergestellt wird, wie ein Europa-Konzept aussieht. Die SVP wünscht sich hingegen vom Bundesrat einen dem Rütli-Schwur nachempfundenen «Bundesbrief der Unabhängigkeit und Freiheit wie 1291».
So feierlich wird es nicht zu und her gehen in der geforderten, für nächste Woche geplanten dringlichen Europa-Debatte. Auf zusammengezählt 40 Fragen und 11 Unterfragen soll der Bundesrat antworten. High-Noon-Stimmung ist angesagt – zwar nicht im Sinne der Stunde der Entscheidung. Warum sollte der Bundesrat nach seinem jahrelangen Zick-Zack-Kurs und den vielen Nebelpetarden plötzlich dazu fähig sein. Doch emotional dürfte es werden. Und das, obwohl die entscheidende Frage in den Interpellationen gar nicht gestellt wird, nämlich die Frage, ob sich der Bundesrat überhaupt für den definitiven Nicht-Abschluss eines Rahmenabkommens allein zuständig erklären darf.
Bundesrat darf nicht allein entscheiden
Für Markus Notter, ehemaliger Justizdirektor des Kantons Zürich und heute Präsident des Europa-Instituts an der Universität Zürich, ist die Antwort auf diese Frage klar: Nein. Ein definitiver Nicht-Abschluss sei von der Bundesversammlung zu genehmigen. Diese könnte den Bundesrat verpflichten, den Vertrag zu unterzeichnen und zur Genehmigung vorzulegen.
Ob ja oder nein zum Rahmenabkommen – das Verhältnis zur EU ändert sich
Es geht in diesem Artikel nicht um Ja oder Nein zum Rahmenabkommen mit der EU. Es geht vielmehr um das Gemeinsame von Ja und Nein. Denn beides verändert das bisherige bilaterale Verhältnis. Ja würde den Zugang zweifach dynamisieren: durch die regelmässige Übernahme von EU-Binnenmarkt-Recht und durch die Ermöglichung neuer sektorieller Abkommen. Nein zum Rahmenabkommen bremst hingegen die Aktualisierung, weil es gemäss bestehenden Verträgen keine Pflicht dazu gibt. So wird aus diskriminierungsfreiem Zugang von Fall zu Fall ein Zugang mit neuen Hürden. Oder anders gesagt: Der bilaterale Weg wird rückentwickelt statt weiterentwickelt.
Markus Notter zieht diesen Schluss in seiner Analyse der staatsrechtlichen Grundlagen durchaus im Wissen, dass die Bundesverfassung in Artikel 184 dem Bundesrat die Kompetenz erteilt, die auswärtigen Angelegenheiten zu besorgen, die Schweiz nach aussen zu vertreten, die Verträge zu unterzeichnen und die völkerrechtliche Ratifikation zu vollziehen. Doch das ist noch kein Freipass. Denn der Bundesrat hat auch die Mitwirkungsrechte der Bundesversammlung zu wahren. Und nicht nur das. Die Bundesversammlung beteiligt sich gemäss Artikel 166 an der Gestaltung der Aussenpolitik und beaufsichtigt die Pflege der Beziehungen zum Ausland.
Diese Mitwirkungsrechte hat der Bundesrat mit seinem Abbruchentscheid gering geschätzt. Oder wie es Nationalrätin Christa Markwalder jüngst formuliert hat: Das Parlament wurde nicht nur übergangen, die klaren Willensäusserungen der aussenpolitischen Kommissionen von National- und Ständerat wurden missachtet.
Mit dem Abbruch verändern sich die Spielregeln
Markus Notter geht noch einen Schritt weiter. Der Nicht-Abschluss eines Rahmenabkommens bedeute zwar keine Kündigung der Verträge, er verändere aber grundlegend das vertragliche Verhältnis zur EU. Denn bisher herrschte bei der EU und der Schweiz das «stillschweigende Einverständnis», die Abkommen an veränderte Verhältnisse anzupassen, auch wenn die Verträge keine Verpflichtung dazu enthalten. In den Abkommen ist vielmehr festgehalten, dass Änderungen und Aktualisierungen die Zustimmung beider Parteien erfordert.
Diese Zustimmung darf nun die Schweiz nicht mehr erwarten. Die EU erklärt seit Jahren, dass sie Aufdatierungen vom Abschluss eines Rahmenabkommens abhängig macht. Wohin das führen kann, erfährt jetzt die Medizinalbranche und möglicherweise schon bald auch die Maschinenbranche.
Das zeigt, dass auch ohne Kündigung der Verträge sich das Verhältnis der Schweiz zur EU durch den Verhandlungsabbruch grundlegend verändert.
Natürlich ist die Schweiz frei, einen solchen Entscheid zu fällen. Nur sollte der Bundesrat dazu stehen, was er tatsächlich getan hat. Und da der Entscheid so einschneidende Wirkung hat, sei er der Bundesversammlung vorzulegen, folgert Markus Notter. Denn es ist das Ende des Bilateralen Weges, wie wir ihn gekannt haben. Die Schweiz verliert den diskriminierungsfreien Zugang zu wichtigen Bereichen des EU-Binnenmarkts. Die Schweiz wird vom «zugewandten Ort» der EU zum Drittstaat zurückversetzt. Das bedeutet nicht das Ende wirtschaftlicher Beziehungen und Beziehungen anderer Arten. Aber die Qualität der Beziehungen ändert. Warum diese europapolitische Wende der Bundesrat im Alleingang vollziehen kann, ist nicht nachvollziehbar.
Undurchsichtige Verhandlungsführung
Hinzu kommt noch die undurchsichtige Art der Verhandlungsführung. Nach Juni 2019, als der Bundesrat in einem Brief an den EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker in den drei Punkten Lohnschutz, Unionsbürgerrichtlinie und staatliche Beihilfen Klärungs- und Präzisierungsbedarf angemeldet hatte, ging anderthalb Jahre nichts. Parteien, Verbände und Komitees verhedderten sich im europapolitischen Durcheinander und der Bundesrat schwieg zu alledem. Erst in der zweiten Hälfte Januar 2021 war er wieder verhandlungsbereit und nur für drei Monate. Dann war schon wieder Schluss, obwohl die Schweiz erreicht hatte, was die EU seit Ende 2018 als ausgeschlossen erklärt hatte. Es kam zu Nachverhandlungen. Der Vertragsentwurf stand in wichtigen Punkten neu zur Diskussion. Doch nun hiess es aus Schweizer Sicht, die Unionsbürgerrichtlinie werde nicht übernommen und der Europäische Gerichtshof dürfe beim Lohnschutz keine Rolle spielen. Das von Bundespräsident Guy Parmelin Ende April in Brüssel geäusserte Bekenntnis zur dynamischen Rechtsübernahme von EU-Binnenmarktrecht wirkt wenig überzeugend, will doch die Schweiz ausgerechnet jene Fragen davon ausnehmen, an denen die EU – ob zu Recht oder zu Unrecht – am meisten Anstoss genommen hatte.
Unklar bleibt nach dem Abbruch, welche Kompromisse und Verbesserungen am Vertragsentwurf möglich gewesen wären. Das zu wissen, sollte das Parlament zumindest in Erfahrung bringen. Die Antworten des Bundesrates auf die ihm gestellten 40 Fragen und 11 Unterfragen werden kaum diese Klarheit bringen. Denn diese beziehen sich auf das, was nach dem Abbruch drohen könnte und was der Bundesrat zu tun gedenke. Es wird mehr nötig sein. Warum nicht eine parlamentarische Untersuchung über die Hintergründe der europapolitischen Kursänderung verlangen? Dass es sich um eine grundlegende Wende handelt, daran lässt sich kaum zweifeln. Die SVP hat sich mit guten Gründen als Siegerin aufspielen können.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Meinungen in Beiträgen auf Infosperber entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Verhaftet in konservativem, autoritären Macht- und Blockdenken (Blockeinteilung in USA, Russland-China, EU, ist ein Produkt des Westens da er Feindbilder braucht) haben sich unsere Medien, Politiker und Intellektuelle aus Eigeninteressen und unter Missachtung der Neutralität dem EU-Block angeschlossen. Zum Schaden der Schweiz. Wohlwissend und verschweigend, dass Blockfreiheit und echte Neutralität zum Wohle und im Interesse der Mehrheitsbevölkerung wären.
Wie es mit dem Einbringen der Schweiz in der EU bestellt wäre, ist mit beiden Händen zu greifen. Bei allen Diskussionen vertritt ein Deutscher und nicht eine Person eines anderen EU-Landes (A, I, F, … ) die EU. Ganz abgesehen von der schon längst extrem unterwürfigen, einseitigen Nato/USA/Israel/EU-Ausrichtung von SRF.
Wie es um das Verständnis von Dialog, Meinungsfreiheit, Gleichwertigkeit, echte Demokratie steht ist daran erkennbar, wie damit umgegangen wird. Der EU-Befürworter Markus Mugglin sperrt bei einem seiner Artikel den Kommentarbereich zum vorneherein. Bei einem anderen zensiert er meinen Kommentar und bei einem anderen jener Teil, der auf ein Interview zur EU bei INTERNATIONAL im EU-Land Österreich hinweist (einem der Handvoll vertrauenswürdigen Presseportale im deutschsprachen Raum) was die Weitergabe von Informationen verhindert und meinen Kommentar verzerrt.
Der EU-Staat (Deutschland) will, neben Geld, Rohstoffen und über andere bestimmen, auch Einheitlichkeit im Denken (Orwell, Gruen, Mausfeld, … ).
Es ist möglich, dass das Nein zum Rahmenabkommen den bilateralen Weg nicht weiterentwickelt. Das ist dann wahrscheinlich, wenn die möglicherweise etwas beleidigten Beamten in Brüssel sich mit einer Piesackstrategie durchsetzen sollten. Ich halte dies für unwahrscheinlich, weil die Unternehmen in der EU an solchen Dingen nicht interessiert sind. Die wollen Handel treiben. Ich denke, es gilt das Primat der Wirtschaft (vor der Politik). Ob das generell gut oder schlecht ist, kann offen gelassen werden. Vorliegend ist es wohl eher ein Vorteil. Überall dort, wo es gemeinsame Interessen gibt, wird der bilaterale Weg folglich weiter entwickelt, wie bis anhin. Im empfehle dem Autor in dem Zusammenhang die Lektüre des Bunds vom 5. Juni, S.12, Tribüne.
Im Bundesamt für Justiz wimmelt es von guten Juristen. Der Bundesrat wird in diesem Bereich nichts machen, was rechtlich nicht korrekt wäre. Es mutet etwas merkwürdig an, wenn hier nun auf einen kantonalen Regierungsrat Bezug genommen wird, der notabene als Präsident eines Europa-Instituts wohl zur Gruppe der Euro-Turbos gezählt werden darf und damit keine Freude am Verhandlungsabbruch haben dürfte. Kurz: Ein Parteigutachten.
Der Autor hat meines Erachtens eine Interessenbindung: Er möchte die Schweiz in die EU führen. Das ist legitim, führt aber dazu, dass die Berichterstattung möglicherweise etwas einseitig ist.
Verhandlungen sind am Ende immer eine Machtfrage. Wer kann wen und womit erpressen? – Da hat die Schweiz schlechte Karten. Wir sind doch inzwischen an allen Ecken und Enden in diese EU eingebunden. Militärisch sind wir ein Fliegengewicht. Wir sind nicht einmal fähig eine autarke Stromversorgung anzustreben, geschweige denn, sicherzustellen. Im Winterhalbjahr müssen wir importieren, sonst gehen im Alpenstaat die Lichter aus. Ein Sonderstatus Schweiz hat nur noch Bestand, wenn dies im Interesse der EU liegt und das könnte unsere letzte Chance sein.
Der Bundesrat führt die Verhandlungen und er ist gemäss Art. 184 ausdrücklich befugt, den Entscheid zu fällen. Wieso sollte er dem Bundesparlament die Frage vorlegen, wenn er selbst nicht davon überzeugt ist? Das Rahmenabkommen wurde nun über 7 Jahre lang auf allen Ebenen, auch im Bundesparlament und in den Parteien intensiv diskutiert, das Bundesparlament hat aber nur Mitwirkungs- und keine Mitentscheidungsrechte! Die Mitwirkung ist erfolgt. Auch die Legislative hat die Gewaltenteilung zu akzeptieren!
Der Bundesrat ist aber gut beraten, sein Entscheidungsrecht bezüglich UnoMigrationspakt sich aber reiflich zu überlegen!
Alle diese Diskussionen können allerhöchstwahrscheinlich grundlegend nichts daran ändern, dass die Schweiz ein Teil von Europa ist und bleibt. Aber was, wenn es dabei vor allem um ein Ablenkungsmanöver geht, das dazu dient, dass gross Mächtige und schwer Reiche hinter den Kulissen tun oder lassen können, was und wie sie es wollen? Während vorne auf der Bühne die Politiker*innen von links bis rechts aufwendig und grossartig, aber perspektivenlos ihr Macht-Schach spielen?
Markus Notter schreibt: «Der definitive Nichtabschluss eines Rahmenabkommens steht nicht in der abschliessenden Zuständigkeit des Bundesrates. Die Bundesversammlung hat ihn zu genehmigen». Was meint Notter mit «der Bundesversammlung»? Er meint wohl den Nationalrat und den Ständerat. Diese bilden zusammen die gesetzgebende Gewalt. Die Räte genehmigen völkerrechtliche Verträge (Art. 166 BV). Wenn beide Räte den «definitiven Nichtabschluss» genehmigen würden, wäre die Meinung der gesetzgebenden Gewalten klar: Sie wären gegen den Abschluss des Vertrages. Aber was wäre, wenn nach Abschluss der parlamentarischen Verfahren beide Räte gegen den «definitiven Nichtabschluss des Rahmenvertrages» stimmen würden? Was würde das für den Bundesrat bedeuten? Man kann sich mit solchen Gedanken wohl endlos im Leerlauf im Kreis herumdrehen.
Der richtige Weg im schweizerischen Politsystem ist wohl, dass die Leute, die mit dem Nichtabschluss unzufrieden sind, ihre Vorstellung über die künftige Beziehung zur EU in einer Volkinitiative oder einem anderen Verfahren den Räten und am Schluss in einer obligatorischen Abstimmung dem Volk und den Ständen vorlegen. Sonst bleibt ihnen nichts anderes übrig, als dem Bundesrat die Vertragsverhandlungen zu überlassen, auch wenn dieser in den letzten 7 Jahren bei dieser Aufgabe nicht brilliert hat. Sonst müsste die Bundesversammlung halt einen anderen Bundesrat wählen.
Am Ende der Verhandlungen müsste ein Vertrag stehen, welchen der Bundesrat mit gutem Gewissen zur Unterzeichnung empfehlen könnte. Wenn der Bundesrat zur Ansicht gelangt, dass ein solcher Vertrag nicht in Reichweite ist, dann kann, ja muss er die Verhandlungen abbrechen.
Markus Mugglin und anderen Befürwortern eines EU-Beitritts steht es jederzeit frei, eine neue EU-Beitritts-Initiative zu lancieren!
Mit diesem Artikel hat sich Herr Mugglin prägnanter und verzweifelter geäussert denn je. Mein Urteil für seine Darstellungen sind vernichtend. Des Sperbers Grösse und Qualität wird sichtbar am veröffentlichen prägnanter Meinungen wie die von Autor Mugglin, auch wenn diese weit ab der Realität dümpelt. Mit dem Platz geben für die Gegenrede, sichert sich der Sperber einen exklusiven Platz gegenüber den Printmedien. Sperber sei Dank für diese Unbefangenheit und Weitsicht.