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Wusste noch um das Inseldasein der Schweiz: René Felber, Bundesrat 1987 bis 1993. © SRF

Unterkühlter SP-Abschied von einem Euroturbo-Bundesrat

Jürg Müller-Muralt /  Der kürzlich verstorbene frühere SP-Bundesrat René Felber war ein Euroturbo. In der SP ist das längst eine Minderheitenposition.

Manchmal ist Ungesagtes auffälliger als Gesagtes, wie jüngst wieder einmal eine Medienmitteilung der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz es zeigte. Am 19. Oktober 2020 würdigte die SP den verstorbenen alt Bundesrat René Felber unter anderem mit folgenden Worten: «1992 scheiterte seine schwierige Aufgabe, die Schweiz in den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zu führen.» Das war alles, was der SP zur Europa-Politik ihres alt Bundesrates einfiel – und es wird Felbers Wirken nicht gerecht.

Europafrage existenziell für die Schweiz

Denn René Felber, der von 1988 bis 1993 in der Landesregierung sass und das Europadossier betreute, war ein klarer Befürworter eines Schweizer EU-Beitritts (damals noch EG = Europäische Gemeinschaft). Felber sagte als erster Bundesrat klar: «Die Vollmitgliedschaft in der EG ist nicht mehr eine Option, sondern das Ziel der schweizerischen Integrationspolitik.» Der Neuenburger Magistrat verkörperte die nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 auch in der Schweiz verbreitete pro-europäische Aufbruchstimmung. Der Traum eines vereinigten Europas erfasste nicht bloss die Linke – diese aber ganz besonders. Nach der Bekanntgabe von Felbers Rücktritt aus dem Bundesrat am 14. Januar 1993 schrieb die Westschweizer Zeitung Le Nouveau Quotidien: «Er wird in die Geschichte eingehen als erster Bundesrat, der offen davon gesprochen hat, dass die Europafrage für die Schweiz eine politische und existenzielle Frage ist und nicht bloss ein nüchtern zu lösendes wirtschaftliches Problem.»

Euphorische Stimmung

Auch der Historiker Urs Altermatt hält in seinem von ihm herausgegebenen Bundesratslexikon fest: «In der Europapolitik, die in seiner Amtszeit im Vordergrund stand, setzte der europhile Romand Felber auf einen kontinuierlichen Annäherungskurs, der die Schweiz Schritt für Schritt zur heutigen Europäischen Union hinführen sollte.» Es war Felber, der den Bundesrat 1992 dazu drängte, ein Gesuch um Aufnahmeverhandlungen an die damalige EG zu stellen – und mit seinem Ansinnen in der Landesregierung auch mit vier zu drei Stimmen Erfolg hatte. Felber wusste in der Europafrage den freisinnigen Waadtländer Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz an seiner Seite und wurde von einer geradezu euphorischen Stimmung in der Romandie getragen. Als Bundespräsident überreichte Felber das Beitrittsgesuch persönlich in Brüssel. Es sollte sich als schwerer taktischer Fehler erweisen, vor allem auch im Hinblick auf die im gleichen Jahr stattfindende EWR-Abstimmung.

Unterkühltes Verhältnis der SP zur EU

Dass die SP in ihrer Würdigung Felbers Europa-Engagement praktisch unterschlägt, zeigt, wie unterkühlt das Verhältnis der Partei zur EU mittlerweile geworden ist. Bezeichnend sind auch die Aussagen des scheidenden SP-Präsidenten Christian Levrat in seinem Abschiedsinterview mit der NZZ am Sonntag vom 4. Oktober 2020. Einem möglichen Scheitern des Rahmenabkommens mit der EU sieht Levrat entspannt entgegen: Ein Verhandlungsabbruch wäre «auch nicht das Ende der Welt». Man würde wohl zur alten Situation zurückkehren: «Man entwickelt einzelne bilaterale Verträge dort, wo gegenseitiges Interesse besteht. Das ist nicht optimal, und es ist nicht mein Wunschszenario. Aber es wäre auch kein Drama.» Und eine Vorwärtsstrategie, also ein EU-Beitritt? Wohl kaum: «Die EU-Euphorie, die zu meinen Anfängen herrschte, ist weitgehen verflogen, auch in der SP».

Die Begeisterung ist weg

Dass diese Euphorie weg ist, zeigt auch ein Blick in die Wahlplattform Smartvote zu den eidgenössischen Wahlen von 2019. Die Recherche in der Datenbank macht klar: von den 48 Mitgliedern der SP-Fraktion (National- und Ständerat) sagen nur 12 klar ja zur Frage: «Soll die Schweiz Verhandlungen über den Beitritt zur EU aufnehmen?» 19 SP-Abgeordnete sagen nein oder eher nein, die restlichen 16 weichen auf das unverbindliche «Eher ja» aus. (Ein Fraktionsmitglied füllte den Fragebogen nicht aus).

Die Haltung der neuen Parteiführung

Im Parteiprogramm der SP Schweiz von 2010 heisst es: «Die SP steht für die rasche Einleitung von Beitrittsverhandlungen mit der EU ein.» Dass ein solches Postulat heute realpolitisch bar jeder Chance ist, sowohl innerhalb wie ausserhalb der Partei, ist klar. Interessant ist die europapolitische Stimmung ganz oben auf der Führungsetage der Partei trotzdem. Der bisherige Parteichef Christian Levrat zeigte sich auf Smartvote besonders EU-skeptisch: Die Frage nach der Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen beantwortete er mit «eher nein». Das neue Co-Präsidium Mattea Meyer / Cédric Wermuth dagegen sagt «eher ja». Doch verglichen mit der Smartvote-Umfrage vor den Wahlen 2015 hat die EU-Skepsis der beiden etwas zugenommen, denn damals votierte das heutige Führungsduo noch mit einem klaren Ja. Im ebenfalls neu gewählten Vizepräsidium (alles Mitglieder des Nationalrates) halten sich Gegnerinnen und Gegner von EU-Beitrittsverhandlungen ungefähr die Waage: Klar dagegen ist Jacqueline Badran (ZH), eher nein sagen Samuel Bendahan (VD) und Ada Marra (VD), klar ja sagen Barbara Gysi (SG) und Jon Pult (GR). Fraktionschef Roger Nordmann (VD) gehört ebenfalls zu den Befürwortern.

Die Wandlung des Cédric Wermuth

Bemerkenswert ist die Entwicklung des neuen Co-Präsidenten Cédric Wermuth vom Euroturbo zum moderaten EU-Skeptiker. Er war noch ziemlich frisch im Nationalrat, die Reihen der Beitrittsbefürworterinnen und -befürworter waren schon deutlich gelichtet – auch auf der linken Seite – als Wermuth 2012 eine neue EU-Debatte lancierte. «Die Schweiz sollte sofort Beitrittsverhandlungen mit der EU aufnehmen», wird der damalige Jungparlamentarier in der Aargauer Zeitung vom 01.04.2012 zitiert. Seine Argumentation: Alle wichtigen Entscheidungen würden ohnehin nicht in Bern gefällt, sondern in Brüssel. «Wollen die Schweizerinnen und Schweizer mitbestimmen, dann müssen sie auch mitmachen. (…) Die Scheinautonomie, die wir heute zelebrieren, wird uns in naher Zukunft die demokratische Mitsprache nehmen».

Sechs Jahre später tönte es dann etwas anders. Wermuth kritisiert die neoliberale Ausrichtung der EU scharf und spricht in der Aargauer Zeitung vom 27.08.2018 von einem «Drama für uns Pro-Europäer». Auch die heutige SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer, ebenfalls eine grundsätzliche Beitritts-Befürworterin, sagt: «Die EU ist in einer Sinnkrise». «Sie hat in den letzten Jahren keine Antworten geliefert auf den Klimawandel, die soziale Ungleichheit, die Flüchtlingssituation.» Die EU habe «Flüchtlinge zum Spielball internationaler Machtpolitik» gemacht und darin versagt, die finanziellen Krisen von Spanien, Portugal und Griechenland zu bewältigen. «Das ist nicht die EU, wie ich sie mir vorstelle.» Wermuth gibt zu, dass er schlicht vor einem Dilemma stehe. Er fügt gemäss Aargauer Zeitung noch an, vielleicht habe Jacqueline Badran mit ihrer System-Kritik an der EU eben doch recht.

«Die heutige real existierende EU will ich nicht»

Die Zürcher Nationalrätin Jacqueline Badran ist einer der herausragendsten Köpfe und eine der Vordenkerinnen der Schweizer Sozialdemokratie – und mittlerweile als Vizepräsidentin im obersten Führungskreis der Partei. Mit ihr ist eine EU-Beitrittsdebatte ganz sicher nicht zu haben. Die Frage «EU-Beitritt ja oder nein» sei ohnehin die falsche Frage, sagte sie in einem Interview am 4. März 2020. Die richtige Frage laute: «Welche EU wollen wir? Bei allem tiefen Respekt vor der grossartigen Friedensleistung der EU, die heute real existierende EU will ich nicht. Ich glaube auch nicht daran, dass wir Mitglied in einem neoliberalen, undemokratischen Konstrukt werden sollen – und dieses von innen heraus verändern können. Wir können das besser von aussen.»

Heute brauchen Beitrittsbefürworter Mut

Der Wind hat gedreht, seit geraumer Zeit schon. Allerdings habe es noch 2011 «viel Mut erfordert», sich in der SP gegen eine Mitgliedschaft in der EU auszusprechen, sagte der Berner EU-Skeptiker und SP-Nationalrat Matthias Aebischer, der damals erstmals kandidierte, zu Watson. Das News-Portal hat 2018 in fünf Akten nachgezeichnet, «wie die linke Liebe zur EU verblasste». Jetzt benötigt die andere Seite Mut: «Mittlerweile braucht es schon Zivilcourage, sich öffentlich zur Europäischen Union zu bekennen. Und es grenzt an Landesverrat, den EU-Beitritt mittelfristig für wünschbar, notwendig und unumgänglich zu halten», schreibt der Schriftsteller Alex Capus in einem im September 2020 erschienenen Sammelband («Als Gottfried Keller im Nebel den Weg nach Hause nicht mehr fand»). Capus war zwischen 2009 und 2012 Präsident der SP Olten. Er schrieb 2019 auch: «Ich bin sicher, dass es im 21. Jahrhundert keinen Platz mehr hat für nationale Alleingänge und Isolationismus. Das ist vorbei. Wir müssen zusammenarbeiten und das Rahmenabkommen unter Schmerzen annehmen. Die Kooperation mit unseren Nachbarn ist unvermeidlich. Ich befürworte deshalb einen EU-Beitritt.» (siehe Infosperber)

Einer der letzten Euro-Turbos im Parlament

Mut und Zivilcourage hatte auch der Zürcher SP-Nationalrat Martin Naef (siehe Infosperber). Er war Präsident der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz (Nebs), die für den EU-Beitritt einsteht. Naef wurde bei den Nationalratswahlen im Herbst 2019 nicht wiedergewählt. Im Oktober 2020 hat der Baselbieter SP-Nationalrat Eric Nussbaumer das Nebs-Präsidium übernommen. Er gilt als einer der letzten Euroturbos im Parlament.

Ganz allein auf weiter Flur sind die pro-europäischen Kräfte in der SP allerdings nicht. Auf Anregung der früheren Nationalrätin und Nationalratspräsidentin Gret Haller ist im März 2019 eine EU-Sektion innerhalb der SP ins Leben gerufen worden. Das Co-Präsidium besteht aus Gret Haller und der Solothurner Nationalrätin Franziska Roth. Die als Verein konstituierte SP-Sektion befürwortet gemäss Statuten «vorbehaltlos den Beitritt der Schweiz zur EU und fordert ein konsequentes Engagement der SPS zur Erreichung dieses Ziels.» Damit ist wenigstens dafür gesorgt, dass das im Parteiprogramm von 2010 enthaltene Beitrittsziel nicht auch noch SP-intern aus Abschied und Traktanden fällt.


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Der Autor ist SP-Mitglied

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7 Meinungen

  • am 2.11.2020 um 11:51 Uhr
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    Danke Jürg Müller für die kritische Darstellung der SP-Europapolitik im Nachgang zur Würdigung der Europapolitik des verstorbenen SP-Bundesrates René Felber.
    Die heute vorherrschende «zögerliche Haltung» der SP ist leider eher ein opportunistischer Kniefall vor dem gegenwärtig vorherrschenden Mainstream!

  • am 2.11.2020 um 12:17 Uhr
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    René Felber […] war ein klarer Befürworter eines Schweizer EU-Beitritts (damals noch EG)."
    Dieser Satz enthält meiner Meinung nach eine Fehlannahme dahingehend, dass sich die heutige EU mit ihrer Pesco-Militarisierung, ihrem forcierten «ever closer», und ihrer Gemeinschaftsschulden-Aufnahme nicht mit der damaligen EG vergleichen lässt.
    Wäre eine Pesco-Teilnahme mit der Schweizer Neutralität vereinbar?

  • am 2.11.2020 um 13:46 Uhr
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    Bundesrat Felber war zur falschen Zeit am richtigen Ort. Aber das «Volk» war nicht bereit für eine europäische Zusammenarbeit. Man hielt sich hier immer noch für was Besonders. – Ich allerdings wäre für einen raschen Beitritt, ABER unter der zwingenden Bedingung, dass das Referendums- und Initiativrecht in vollem Umfange bestehen bliebe. Nun, da dies sicher in der gegenwärtigen Form und Verfassung der EU nicht möglich ist, bleiben wir lieber draussen, respektive schliessen die notwendigen Rahmenabkommen. Denn, der Alleingang und das zeigt gerade die aktuelle SarsCov-2 Psychose ist nicht mehr möglich.

  • am 2.11.2020 um 15:15 Uhr
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    Bundesrat René Felber. Ein mutiger und standhafter Europäer. Weitsichtig und weltoffen. Ein internationalistischer SP-Politiker der Tat. Hat das epochale Friedensprojekt EU unbeirrt verteidigt, auch gegenüber den immer zahlreicher werdenden kleinmütigen EU-Verächtern in seiner Partei, welche sich willig ins Schlepptau der nationalkonservativen EU-Hasser nehmen lassen, den Isolationismus für sich entdeckt haben und sich nicht scheuen, in den Chor jener einzustimmen, die niemals müde werden, das Projekt Europa als neoliberal zu diffamieren. Die mittlerweile kleine Schar der Freunde des Hauses Europa schuldet Bundesrat Felber grossen Dank für seine leider gescheiterten Bemühungen, unser Land näher an Europa heranzuführen. Grossen Dank gebührt auch seinen Nachfolgern im Geiste, alt SP-Nationalrat Martin Naef und SP-Nationalrat Eric Nussbaumer für ihr Engagement im Dienste einer Schweiz in Europa.

  • am 2.11.2020 um 19:39 Uhr
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    SP’s aller Länder seht euch vor! Bald seid ihr alle auch nur noch in einer Minderheitsposition! Das Herumeiern um Positionen, nur um ja keinen Regierungsposten zu verpassen, ist einfah nur peinlich.

  • am 2.11.2020 um 20:59 Uhr
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    Es ist nach wie vor eine absolut legitime Haltung, den EU-Beitritt der Schweiz zu befürworten. Überaus mutig muss man dafür nicht sein. Meines Wissens ist noch niemand in der Schweiz wegen dieser Haltung Opfer eines Attentates geworden.

    Interessanterweise sind mittlerweile fast alle Beitrittsbefürworter der Ansicht, dass ihr Vorhaben realpolitisch keine Chance habe. Für einzelne Mitglieder des National- oder Ständerates ist das kein Problem. Man darf an Positionen festhalten, auch wenn sie chancenlos sind.

    Der Bundesrat hingegen sollte seine Strategien auch unter einem realpolitischen Blickwinkel prüfen. Weil es ganz einfach nichts bringt, Ansätze zu entwickeln, welche dann in voraussehbarer Weise durch ein Referendum gestoppt werden, oder welche man schon vorher aus Angst vor dem Scheitern freiwillig abbricht.

    In diesem Sinne müsste der Bundesrat ein ganz anderes Rahmenabkommen anstreben. Dieses dürfte nicht ein Trainingslager für den EU-Beitritt sein. Es müsste eine echte Alternative dazu darstellen. Ein solches Abkommen würde ziemlich sicher nicht den vollen Zugang zum Binnenmarkt beinhalten.

    Und dann könnte man abstimmen: Rahmenabkommen oder EU-Beitritt oder keines von beidem.

  • am 3.11.2020 um 23:25 Uhr
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    Die SP wird vermutlich das Rahmenabkommen mit der EU unterzeichnen, wenn sie den Lohnschutz bekommt. Dies trotz Unionsbürgerrichtlinie (500 Millionen EU-Bürger erhalten in der Schweiz nach 5 Jahren Aufenthalt Sozialhilfe), trotz Verbot staatlicher Beihilfen, was sich gegen den Service Public richtet, trotz Souveränitätsverlust und EU- Gerichtsbarkeit. Die SP ist und bleibt die EU- Partei.

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