Sperberauge
Unsoziale Sozialkritik
Was ist Sozialkritik? Eine scharfsinnige Analyse von Verwüstungen, welche der Kapitalismus in der Gesellschaft anrichtet? Ein flammender Appell, etwas gegen solche Ungerechtigkeiten zu unternehmen? Weit gefehlt, jedenfalls wenn der Begriff im «Tages-Anzeiger» steht.
Wie ein aufmerksamer Leser mitteilt, ist dort neuerdings von «sozialkritischen» Gemeinden und Politikern die Rede, wenn es um Kosten und Missbräuche der Sozialhilfe geht. Diese meist der SVP angehörenden Politiker lassen vielleicht sogar die Wörterbuch-Definition von «sozialkritisch» für sich selber gelten: «an den Verhältnissen der bestehenden Gesellschaftsordnung Kritik übend» (dwds.de). Denn das Sozialwesen, das sie gern als «Sozialindustrie» verunglimpfen, ist ja auch ein Teil der bestehenden Ordnung.
Aber so weit, dass diese Stimmen von rechts die Definitionsmacht für «Sozialkritik» hierzulande an sich gerissen haben, ist es noch nicht: Der neue Sprachgebrauch beschränkt sich, wie ein Blick in die Schweizer Mediendatenbank zeigt, bisher auf den TA. Dort allerdings ist der Begriff seit Oktober mindestens ein halbes Dutzend Mal im Sinn von «Sozialhilfekritik» verwendet worden, und nur noch so. Höchste Zeit, dass es statt der rechten auch die richtigen sozialkritischen Stimmen wieder einmal ins Blatt schaffen!
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Während der Aufschrei bei der NZZ gross war, hat sich die Empörung in Grenzen gehalten, als vor 5 Jahren der Tagesanzeiger noch deutlicher als unter Peter Hartmeier nach rechts umerzogen wurde. Res Strehle war das Feigenblatt, das den links-liberalen Leser stillhalten sollte. Vielleicht würde bei einer Recherche herauskommen, dass auch dort der Verwaltungsrat seine Hand im Spiel hatte – offenbar mit Erfolg. Seither werden sozialpolitische Themen und Kulturinstitutionen von oben herab behandelt.