UNRWA-Chef Lazzarini hält der Schweiz nur den Spiegel vor
«Zu einem Doppelschlag ausgeholt» habe Philippe Lazzarini, der Chef des UNO-Palästinenserhilfswerk, empörte sich die Inland-Chefin der NZZ Christina Neuhaus am vergangenen Freitag . «Sorgfältig orchestriert» sei der Doppelschlag gleichzeitig gegen Israel und gegen die Schweiz erfolgt – gegen Israel über die «New York Times», gegen die Schweiz über die «Weltwoche». Als «Breitseite» gegen UNRWA-kritische Parlamentarier und vor allem gegen Aussenminister Ignazio Cassis prangerte NZZ-Inlandchefin den angeblichen «Doppelschlag» an, weil Lazzarini die Schweiz zu kritisieren wagte: «Bei der Entscheidung, der UNRWA die Gelder zu kürzen, hat sich die Politik einseitig von Israel beeinflussen lassen.»
Nähe zu Israel-Lobbys amtlich belegt
Erstaunlich ist weniger, was Lazzarini sagte, als was die NZZ-Inlandchefin nicht wahrhaben will. Denn sogar das amtliche Bulletin zum Ratsbetrieb liefert die Bestätigung für Lazzarinis Beobachtung. In der Dezember-Session stützte sich SVP-Nationalrat David Zuberbühler als Wortführer gegen die Hilfe an das Palästinenser-Hilfswerk UNRWA ausdrücklich auf die beiden Organisationen UN-Watch und IMPACT-se ab, die seit Jahren mit Kampagnen gegen das Palästinenser Hilfswerk Schlagzeilen machen. UN-Watch bekennt sich auch offen zum Ziel, die UNRWA abschaffen zu wollen.
Schon vor der Parlamentsdebatte, als Aussenminister Cassis Ende Oktober in einem Schnellverfahren die Zusammenarbeit mit israelischen und palästinensischen Menschenrechtsorganisationen blockierte, wirkte mit NGO-Monitor eine den israelischen Regierungskreisen nahestehende Organisation erfolgreich als Einflüsterin. Ihr Präsident reagierte hocherfreut auf die Blockade und gab sich überrascht, dass er so schnell Gehör gefunden hatte.
Die rufschädigende Massnahme traf damals selbst die drei Organisationen Gisha, Hamoked und Physicians for Human Rights-Israel, die sich zehn Tage zuvor in einer von 15 israelischen Menschenrechts-Institutionen unterzeichneten Stellungnahme «schockiert und entsetzt» erklärt hatten und festhielten: «Die schrecklichen Verbrechen der Hamas gegen unschuldige Zivilisten haben uns alle erschüttert».
Auch in der Sprache herrscht zuweilen Übereinstimmung zwischen der Schweizer Politik und der Rechtsaussen-Regierung Israels. Die UNRWA sei Teil des Problems, statt Teil der Lösung, sagte Bundesrat Cassis auf dem Rückflug aus der Region im Frühjahr 2018. Seither wiederholen es viele Aussenpolitikerinnen und Aussenpolitiker. Und es deckt sich mit der Formulierung, die Israels Botschafter in Berlin jüngst wählte.
Was die NZZ nicht sieht
Auf den angeblichen «Doppelschlag» von UNRWA-Chef Lazzarini hat die NZZ-Inlandchefin selber mit einem Doppelschlag reagiert. Sie sah sich zu Korrekturen genötigt. Der Entscheid des Bundesrates über Gelder an die UNRWA ist nicht mehr ausstehend, wie im ersten Artikel behauptet. Die im zweiten Artikel angestrengte Korrektur gelang aber nur teilweise. Auch die aussenpolitische Kommission des Nationalrats hat entgegen den Ausführungen der Freigabe der Gelder an die UNRWA bereits zugestimmt, wie die NZZ bereits am 30. April berichtet hatte:
«Mit 13 zu 11 Stimmen empfiehlt die Kommission dem Bundesrat, der UNRWA einen ersten Teilbetrag zu überweisen.» Und weiter: «Über die Höhe der Tranche soll der Bundesrat selbst entscheiden.» So hängt jetzt die Freigabe noch von der Zustimmung der ständerätlichen Kommission ab.
Eine Korrektur von grösserem Belang blieb hingegen aus. Der Bundesrat hat nicht – wie behauptet – am 24. April beschlossen, die Geldzahlungen an das Hilfswerk vorläufig zu stoppen. Er tat es bereits Ende Januar, nachdem Israel über die grossen US-Medien «New York Times» und «Wall Street Journal» der UNRWA vorgeworfen hatte, dass zwölf seiner Mitarbeitenden an den Kriegsverbrechen der Hamas am 7. Oktober beteiligt gewesen seien.
Ob erst im April oder bereits Ende Januar – die Differenz ist keine Lappalie. Ende Januar reagierte die Schweiz wie es auch die EU, rund ein Dutzend europäische Länder sowie Australien, Japan und Kanada taten. Inzwischen leisten fast alle diese Länder wieder Hilfe an die UNRWA. Sie sehen es ein: Kein anderes Hilfswerk kann an seine Stelle treten. Es gibt keine Alternative für die Unterstützung der hungernden Menschen in Gaza. Nur noch die Schweiz zusammen mit den USA und Grossbritannien gestehen es nicht ein und machen im Kampf gegen die UNRWA gemeinsame Sache mit der Rechtsaussen-Regierung Israels.
Verletzt die Schweiz ihre völkerrechtliche Verpflichtung?
Bis die Schweiz die Blockade gegen das Palästinensische Hilfswerk aufhebt, werden selbst im besten Fall mehr als vier Monate verstrichen sein. Die schon Mitte April vom Völkerrechtsprofessor Marco Sassòli von der Universität Genf in den Tamedia-Medien gestellte Frage drängt sich jetzt erst recht auf: «Verletzt dann die Schweiz nicht ihre Verpflichtung einen (…) Völkermord zu verhüten, wenn sie der einzigen Organisation, die in der Lage ist, diese Hilfslieferungen zu verteilen, die nötigen Mittel vorenthält?»
Sassòli stellte die bange Frage im Kontext der Klage, die Nicaragua beim Internationalen Gerichtshof gegen Deutschland wegen des Verhaltens im Gaza-Krieg eingereicht hatte. Das Gericht hat inzwischen zugunsten Deutschlands geurteilt. Einer der Gründe muss der Schweiz besonders zu denken geben. Deutschland wurde zugutegehalten, dass es im März wieder Hilfe über die UNRWA und andere Organisationen zugunsten der notleidenden Bevölkerung im Gazastreifen leistete. Es kam ihm zugute, was die Schweiz noch immer nicht bereit ist zu tun.
«Wollen wir, dass man die Schweiz in Den Haag verklagt?», fragte der Völkerrechtler Marco Sassòli noch bevor der Internationale Gerichtshof geurteilt hatte. Nach dem Urteil drängt sich seine Frage erst recht auf. Die Aussenpolitikerinnen und Aussenpolitiker täten deshalb gut daran, ihre einseitig von der Netanyahu-Regierung beeinflusste Politik gegen die UNRWA zu überdenken. Immerhin geht es auch um den Ruf der Schweiz als Depositarstaat der Genfer Konventionen zum humanitären Völkerrecht.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Keine
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Da fehlt einiges in der (folglich einseitigen) Einschätzung von MM.
Es liegen ausreichend Beweise vor, dass aktive Kämpfer (um die Bezeichnung Terroristen nicht zu verwenden) der Hamas bei der UNRWA arbeiten; dass sich Mitarbeiter sogar am Massaker vom 7.10.23 beteiligten; dass Guerillainfrastruktur auf dem Gelände der UNWRA gebaut wurde; dass Waffen in Gebäuden der UNWRA gelagert wurden; dass die Lebensmittelversorgung sichergestellt ist (bewiesen durch die effektiven Preise auf den Märkten); dass der UNWRA (und erstaunlicherweise unkritisiert auch dem IKRK) jegliche Betreuung der israelischen Geiseln verwehrt wird und diese das telquel akzeptiert. Zu keinen Punkten hat Lazzarini je wirklich Stellung genommen oder reagiert. Man darf deshalb mit Fug und Recht annehmen, dass er so quasi at gunpoint einer AK47 arbeitet.
Diese Fakten sollten bei seriöser Betrachtung in die Ode für den Chef der UNWRA einfliessen.
Mittlerweile ist bekannt, dass die «Geständnisse» einiger UNRWA-Mitarbeiter:innen, sie seien für die Hamas tätig, unter Folter in israelischen Gefängnissen «zustande gekommen» sind. Ueberhaupt ist die Lage für palästinensische politische Gefangene in israelischen Gefängnissen katastrophal.
Bürgerliche Politiker sind häufig von den zionistischen Ideen des Bevölkerungstransfers überzeugt. Transfer, Vertreibung oder Vernichtung. Herzl war lange vor dem Zweiten Weltkrieg. Seine Ideen sind aus dem 19. Jahrhundert, jedoch sind sie offenbar bis heute aktuell.
Ausgezeichneter Artikel, der gut aufzeigt, wie ignorant und voreingenommen unsere Politiker urteilen.
Der Pressesprecher von Ignazio Cassis behauptete in der Sendung «Forum» (RTS) bezüglich des Friedenskongresses auf dem Bürgenstock, dass die Schweiz international sehr geschätzt sei für ihre «Unparteilichkeit»… Dass das Aussendepartement völlig aus den Fugen geraten ist, ist tatsächlich sehr gefährlich. Wenn der IGH die Schweiz wegen Unterlassen ihrer humanitären Hilfe an eine unter Völkermord leidenden Bevölkerung verurteilen sollte, könnte die Schweiz ihren Ruf, ihre guten Dienste und ev. auch alle humanitären Organisationen in Genf verlieren.
Der springende Punkt scheint mir, dass die UNRWA die einzige Hilfsorganisation ist, die Hilfe leisten kann in Gaza. Seit vielen Jahrzehnten ist sie dort tätig, deshalb ist es einleuchtend, dass diese Organisation am effektivsten Hilfe leisten könnte. Wenn es bereits 2018 Kritikpunkte gegen die UNRWA gab, dann soll die Schweiz und damit Ignazio Cassis, diese aufarbeiten und ihre Unterstützung neu konzipieren. Hilfe zu verweigern – die auch den israelischen Geiseln zugute kommen könnte – ist unverständlich und sehr bedenklich.
Schon eine Google Suche «wer leistet humanitäre Hilfe in Gaza» ergibt eine grosse Anzahl Organisationen, die humanitäre Hilfe leisten. UNRWA ist bei weitem nicht die einzige. Sie geniesst einfach am meisten mediale Aufmerksamkeit.