Kommentar
Unfreie Freiheit überfordert, nicht Monogamie
In einem soeben auf Infosperber wieder veröffentlichten Essai mit dem Titel «Serielle Monogamie – warum nicht gleich polygam?» plädiert Hanspeter Guggenbühl für mehr Ehrlichkeit im Umgang mit der Realität und für eine Öffnung der Paarbeziehungen. Trotz oder eher wegen meiner eigenen «seriell monogamen» Biografie drängt es mich, ihm zu widersprechen.
Absolut recht hat Guggenbühl, wo er die Bigotterie kritisiert, die Gespräche über Intimes aus der eigenen Paarbeziehung mit einer aussenstehende Person toleriert, nicht aber sexuelle Intimität mit dieser Person. Aus meiner Erfahrung ziehe ich aber genau den umgekehrten Schluss hieraus: Intimes muss innerhalb der eigenen Beziehung ausgeredet werden; wenn es stattdessen einseitig mit einer dritten Person geschieht, hat das Paar schon verloren.
Monogamie überfordere die Menschen, schreibt Guggenbühl. Das trifft wohl zu, wenn sich Monogamie darauf beschränkt, das Bett nur mit ein und der selben Person zu teilen, andere Dinge aber zunehmend seltener, je länger die Beziehung schon dauert.
Polygamie auf der andern Seite ist keine Befreiung, wie Guggenbühl plädiert, sondern schafft nur ein noch dichteres Netz an mentalen, emotionalen und materiellen Zwängen. Als familiärer Gast in einer muslimisch geprägten Gesellschaft konnte ich relativ leicht erkennen, dass das Leben polygam verheirateter Männer in Wahrheit kaum viel freier ist als dasjenige ihrer Frauen.
Unter gegebenen Umständen kaum Alternative zur Monogamie
Vermutlich hat Guggenbühl Polygamie nicht in diesem strengen Sinn gemeint; wovon er spricht, müsste genauer als «Monogamie mit gelegentlichen Abstechern» bezeichnet werden. Auch für sie gilt freilich, dass die Menge der Zwänge zunimmt.
Monogamie überfordert uns dann, wenn wir einem unreifen Freiheitsbegriff nachrennen und vergessen, dass Freiheit untrennbar mit Wahl verbunden ist. Die Freiheit besteht darin, dass ich eine Wahl unter verschiedenen Optionen treffen kann, aber genau so sehr darin, dass ich dieser Wahl folge und sie lebe. Andernfalls werde ich zum Gefangenen unablässigen Wählens, ohne eine der gewählten Möglichkeit je zu verwirklichen.
Unter gegebenen wirtschaftlichen, sozialen und emotionalen Bedingungen halte ich die Einehe – wenn ich an die Dramen ihres Zerbrechens denke – zwar für keine ideale Lösung, aber für die am ehesten lebbare, die ich kenne. Dass die Einehe unter den mehrfachen (Auf-) Brüchen in der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte hohen Scheidungsraten unterliegt und sich dies phänotypisch als «serielle Monogamie» beschreiben lässt, ändert ja nichts am Genotypus der Monogamie, der nach wie vor die Kernfamilie und damit die engsten Beziehungen an der Basis der Gesellschaft prägt.
Bedürfnis nach Gleichgewicht und Intimität sprechen gegen Polygamie
Wenn ein Paar für sich in aller Ehrlichkeit aushandelt, jedem der beiden Partner die Freiheit zu intimen Beziehungen mit Dritten zu geben, liegt das in der eigenen Freiheit und Verantwortung der davon betroffenen Menschen. Unredlich aber scheint mir, daraus ein Modell zu machen, das angeblich ehrlicher ist als der Versuch, intime Gespräche und Erlebnisse mit einem einzigen Menschen zu haben.
Unredlich aus zwei Gründen. Zum einen unterstellt die angebliche «Befreiung durch Polygamie», es seien beiden Mitglieder eines Paars mehr oder weniger gleichermassen und gleichzeitig interessiert an Intimität mit aussenstehenden Personen, eine Prämisse, die in der Realität erfahrungsgemäss eher selten so anzutreffen ist, und noch seltener, wenn das Gleichgwicht auch für die mitbetroffenen Dritten erfüllt sein soll.
Zum andern wird unterschlagen, dass eine Paarbeziehung ihre Stärke wesentlich aus der gemeinsamen Intimität im Austauschen, Entscheiden und Lieben bezieht. Wenn ich solche Intimität nebenbei auch mit einer dritten Person teile, einerlei, ob mental, emotional oder physisch, dann schwäche ich zugleich die Paarbeziehung. Das Leben zweier intimer Beziehungen zugleich ist nach meiner Erfahrung eine Illusion, die sich rasch zerschlägt; das Leben einer intimen Beziehung nach dem Ende einer früheren ist schon herausfordernd genug.
Was wirklich fehlt, sind grossfamiliäre Bindungen
Wenn heute die Hälfte der Einehen geschieden wird, ist dies aus meiner Sicht zuallerst und übrigens seit langem ein Grund, die sozialen und juristischen Voraussetzungen für Kinder und für Alleinerziehende massiv zu verbessern. Dass die Folgen von Trennung in einer wie auch immer «polygam» verfassten Gesellschaft kleiner oder leichter zu beheben wären, würde ich sehr bezweifeln. Was uns in unserer Gesellschaft als Paare, als Singles und als Kinder wirklich fehlt, ist ein Ersatz für das, was mit der Grossfamilie verschwunden ist – jenseits der Frage, wie eine Kernfamilie aktuell zusammengesetzt ist.
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Diesen Kommentar hat Billo Heinzpeter Studer auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine