Toni Brunners seltsame Erinnerungslücken
Für die SonntagsZeitung vom 17. Juni war Brunners Ankündigung anscheinend die wichtigste Story: »Krankenkassen – SVP will Obligatorium abschaffen», titelten die Macher am Tag der massiven Ablehnung der Managed Care-Vorlage auf der Frontseite und den Verkaufsplakaten. «Recherchen» der Zeitung hätten ergeben, dass SVP-Präsident und Nationalrat Toni Brunner (SG) das Krankenversicherungs-Obligatorium abschaffen wolle. Kostendämpfende Reformen seien im heutigen System nicht mehr möglich, es brauche jetzt eine Systemänderung, agumentiert Brunner und weiss: «Die Aufhebung des Obligatoriums ist notwendig, um die Sparanreize zu erhöhen.»
Der «Tabubruch» war früher
Einen «Tabubruch» nennt die Zeitung die Pläne Brunners. Tabubruch ist ein ganz grosses Wort. Und es trifft hier in keiner Weise zu: Schon am 29. Mai 2009 hatte Brunners Parteifreund Alfred Heer im Nationalrat nämlich eine Motion mit genau diesem Inhalt eingereicht: «Der Bundesrat wird beauftragt, das Obligatorium zur Versicherung im Krankenversicherungsgesetz aufzuheben.» Damit hätte «der Bürger freie Wahl», so der Zürcher Heer, «ob er eine Krankenversicherung will oder nicht, was in einem freiheitlichen Staat eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte».
Der Bundesrat allerdings erteilte Heer drei Monate später eine klare Absage. Das Volk habe 1994 dem Gesetz und damit dem allgemeinen Versicherungsobligatorium zugestimmt. Erst das Obligatorium mache Solidarität innerhalb des Versicherungssystem möglich, und dieses System habe sich bewährt: «Für den Bundesrat besteht kein Anlass, eine Änderung des Systems vorzunehmen.» Der Nationalrat sah es am 12. April 2011 genau gleich. Er lehnte die Motion Heers mit 101 Nein gegen 44 Ja ab. Im Plenum gab es dazu keine einzige Wortmeldung. Das sagt eigentlich schon alles.
Brunner unterschrieb Heers Motion
Insgesamt 34 Mitglieder des Rates hatten 2009 den Vorstoss unterschrieben. Die allermeisten aus der SVP, aber auch ein paar Rechtsausleger der FDP (u.a. Filippo Leutenegger, Doris Fiala, Pierre Triponez). Unterschrieben hatte auch – Toni Brunner. Nur drei Jahre später erinnert er sich offensichtlich nicht mehr daran. Auch SVP-Gesundheitspolitiker Toni Bortoluzzi (ZH) gehörte zu den Mitunterzeichnern der Motion. Aber immerhin scheint Bortoluzzi lernfähig zu sein. Im «Blick» wurde er auf die Abschaffungs-Pläne von Toni Brunner angesprochen, und Bortoluzzi sagte klipp und klar: «Das ist nicht mehrheitsfähig, das muss man akzeptieren».
Auch Plan B, den Brunner in der SonntagsZeitung auftischt (u.a. drastische Ausdünnung des Leistungskataloges in der Grundversicherung), ist alter Wein in neuen Schläuchen. Die SVP-Fraktion hatte diesen Vorschlag schon am 6. Juni 2001 in einer Interpellation formuliert und lief beim Bundesrat und im Parlament damit auf. Brunner sitzt seit 1995 im Nationalrat und war damals Vizepräsident der Partei.
Hauptsache eine Schlagzeile
Die politischen Erinnerungslücken in Sachen Gesetzgebung in der Krankenversicherung werden Brunner nicht übermässig kümmern. Und vielleicht ist es ja gerade umgekehrt: Brunner erinnert sich sehr wohl an die früheren Vorstösse, aber die SonntagsZeitung nicht. Dann hätten wir es hier mit einer Schlaumeierei Brunners zu tun. Wie immer: Hauptsache, der SVP-Präsident hatte wieder einmal eine Schlagzeile. Dafür kann er der SonntagsZeitung dankbar sein.
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
keine
Nicht nur Brunner hat seltsame Erinnerungslücken. Die meisten SVP-Exponenten (oft auch jene anderer Parteien) leiden daran – es scheint dass diese «Krankheit» in der SVP extrem verbreitet ist. Das seltsame Leiden findet leider auch bei deren Wählerbasis eine Fortsetzung.
Kommt dazu, wie richtig erkannt wurde, dass das Abschaffen des KVG-Obligatoriums schlussendlich auf einen Sozialabbau hinaus läuft und die Solidarität im Versicherungssystem massiv unterläuft.
Die damalige Motion Heer passt aber zu den Unterzeichnern vom äussersten rechten Politspektrum und deren neoliberalem Denken.
Und den innhaltlich immer dünner werdenden Blättern (Zeitungen) kommen solche «Heuler» gerade recht. Den beteiligten Journis jener Blätter scheint der Begriff Recherche irgendwie ein Fremdwort zu sein…
Bestimmt wollen wir kein amerikanisches System, wo sich die Ärmeren keine Krankenversicherung leisten können und Arbeitslose aus der Kasse fallen.
Aber die viel gepriesene «Solidarität» ist auch in der Schweiz an einem kleinen Ort, so lange alle die selben Prämien zahlen müssen und die Kantone wegen ihres ruinösen Steuerwettbewerbs an den Prämienverbilligungen sparen.
Es ist keineswegs nur das «äusserste rechte Politspektrum", wie Urs Dietschi behauptet, das gegen das Krankenkassenobligatorium ist. Ich mache darauf aufmerksam, dass in der Volksabstimmung über die Einführung des Obligatoriums am 4. Dez. 1994 nur eine knappe Mehrheit (51,8%) dieses befürwortet hat. Um ein Haar wäre die Vorlage am Ständemehr gescheitert.
Da sich die vollmundigen Versprechungen der damaligen Sozialministerin Ruth Dreifuss, nämlich eine Verbilligung der KK-Prämien – wie wir alle schmerzlich erfahren mussten – sich in ihr Gegenteil verkehrten, ist es nichts anderes als überfällig, sich von diesem kostentreibenden und falsche Anreize schaffenden Modell zu verabschieden und das Obligatorium abzuschaffen.
Krankenkassen Obligatorium :
Anstatt abschaffen würde ich eher – leider, denn der Mensch ist und bleibt unbelehrbar ! -, das Verursacher-Prinzip einführen mit einem Bonus-Malus System.
Also Raucher (Sorry meine Herren …aber es ist nun mal allgemein bekannt dass später ein Lungen oder Kehlkopf Krebs entstehen kann … meinem Vater wurde deswegen sogar ein Bein abgenommen !), Schwergewichtige (auch hier Sorry, aber Physikalisch kann sich nur ansetzen was vorab oral eingenommen wurde), Alkoholiker, Kiffer, Drogenjunkies, extrem Sportler (Nottwil wurde erst nötig nachdem zum Lifestyle auch diese Disziplin in Mode kam !), müssten auch finanziell mehr Verantwortung tragen. Wobei ich mir bewusst bin dass so wieder der Staat dran kommt, denn die obgenannten Kategorien (mit Ausnahme der Raucher und extrem Sportler), gehören meistens schon der Gruppe an die schon vom Staat getragen werden …
Aber es geht um die «Signal-Wirkung» : Du trägst selber auch Verantwortung für deine Gesundheit, du kannst dir nicht alles erlauben und dann „die Schäden“ der Solidargemeinschaft aufbürden !