Glosse
Sprachlust: Von der Mühe mit Deutschschweizern
«Nicht die Romands und Italienischschweizer tragen die Hauptschuld an dem zunehmend scheiternden Dialog zwischen den Sprachgemeinschaften, sondern die Deutschschweizer. Eines Tages haben sie einfach darauf verzichtet, sich mit uns, den Romands, aber auch mit ihren Nachbarn auf Deutsch zu unterhalten.» Zu diesem harten Befund gelangt der Westschweizer Journalist José Ribeaud in seinem Buch «Vier Sprachen, ein Zerfall» (Nagel & Kimche 2013). Und er verschärft die Rüge noch, indem er sich direkt an die Deutschschweizer wendet: «Ganz offensichtlich erwartet ihr von euren Gästen, dass sie sich in eurem Dialekt oder sonst mindestens auf Englisch ausdrücken.»
Mit solchen Pauschalurteilen leistet Ribeaud seinem wichtigen und richtigen Anliegen einen Bärendienst. Wer wollte bestreiten, dass die Schweiz für den Zusammenhalt ihrer Landesteile gute gegenseitige Verständigung und damit Kenntnisse der Landessprachen braucht? Offensichtlich ist auch, dass dabei die Mundart nur in der Deutschschweiz ein Hindernis ist. Das Kommerzenglisch freilich ist auch in der Romandie weit verbreitet. Dass aber der sehr gross gefasste Raum Zürich Englisch vor Französisch unterrichtet, empfindet der Autor zu Recht als «Affront sondergleichen».
Mundart als Nationalsprache?
Ribeaud war von 1966 bis 1990 Deutschschweiz-Korrespondent des welschen Fernsehens; er lobt die Offenheit und das Entgegenkommen, die er damals erlebte. Aber seither ist offenbar alles schlimmer geworden, und entschieden widersprechen mag ich dem Compatriote darin nicht: Es ist auch meine Beobachtung, dass Deutschschweizer häufiger als früher beim Dialekt bleiben, selbst wenn das eidgenössische oder ausländische Gegenüber damit Mühe hat. Und das Fernsehen, etwas weniger das Radio, hat den Schnabelwuchs bis weit in die politische Information ausgedehnt.
Aber aus solchen Erscheinungen konstruiert der Buchautor den angeblichen Trend, «Schwyzertütsch» zur Nationalsprache der Deutschschweiz zu erheben; am Sprachengesetz von 2007 kritisiert er, es gebe keine Antwort auf den «immer mehr um sich greifenden Mundartgebrauch». Nicht dass er diesen verbieten will, nur solle man es damit nicht übertreiben. Als Beispiel nennt er einen Lokomotivführer, der kurz vor Lausanne eine Verspätungsmeldung nur auf Schweizerdeutsch durchgab. Dass jetzt in den Zügen mehr Hochdeutsch zu hören ist, führt er nicht auf SBB-Schulung, sondern auf deutsches Personal zurück.
Politischer Balanceakt
Ausführlich geht Ribeaud auf die Geschichte des Deutschschweizer Verhältnisses zur Hochsprache ein, bis hin zur gegenwärtigen Einwanderung vieler Deutscher. Die Hysterie darob in manchen Medien nimmt der Autor zum Nennwert, anerkennt aber immerhin, sie habe sich «ein wenig gelegt». Von seinen Ratschlägen ist vieles zu beherzigen, vor allem, dass Schule, Medien und Bundesverwaltung die Landessprachen (inklusive Hochdeutsch) privilegieren und ausbalancieren sollten. Problematisch ist die Forderung, dem Bundesrat müssten immer vier Deutsch- und zwei Französischsprachige sowie ein italofones Mitglied angehören. Das ginge just in Richtung jenes Ethnonationalismus, vor dem der Autor sonst anhand belgischer und balkanischer Beispiele warnt.
In der Übersetzung sind viele Übertreibungen und sogar Fehler des 2010 erschienenen französischen Originals ausgemerzt; Caroline Gutberlet hat das Buch in gut lesbares Deutsch übertragen, wenn auch ohne die Verve und Eleganz des Autors. Von 278 auf 174 (ähnliche) Seiten geschrumpft, fehlen der Übersetzung allerdings auch viele Passagen, um die es schade ist – vor allem sprachkundliche über die lateinischen Landesteile, die das Buch doch den Deutschschweizern gerade näherbringen will.
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlust»
Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors
Der Autor ist Redaktor der Zeitschrift «Sprachspiegel» und schreibt für die Zeitung «Der Bund» die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.
Daniel Goldstein rezensiert das Buch des Westschweizer Journalisten José Ribeaud kritisch: «Die Deutschschweizer seien nicht mehr bereit, Hochdeutsch zu reden, klagt Buchautor Ribeaud. Er übertreibt, aber etwas ist dran.»
Ich behaupte dagegen: Ribeaud und Goldstein schauen am eigentlich Problem vorbei: Schwyzertütsch ist eine Landessprache, zudem die wichtigste, aber ohne Schrift. Das macht sie schwierig für Welsche, für Immigrantenen – und für die Deutschschweizerenen selbst.
Mehr: https://www.facebook.com/notes/billo-heinzpeter-studers-salon/über-schwyzertütsch-eine-unheimliche-landessprache/240160266153939
1)
Ich nehme an, dass José Ribeaud auch in Bern und Zürich, so ähnlich wie in Berlin auch in den Zeitungen v.a. Schriftsprache gelesen hat. Meine Mutter sprach mit mir nie Hoch-deutsch… Mein erstes Buch habe ich in Genf auf English geschrieben, mein zweites in Bern auf französisch, seither schreibe ich auch schon mal auf deutsch.
Vor etwa 35 Jahren habe ich in Afrika an einem internationalen Kolloquium zur Bedeutung der Vernakulärsprachen in der Wirtschaftsentwicklung teilgenommen. Damals wurde auch da schon die Meinung vertreten, dass eine Sprache nur nützlich sei, wenn sie auch geschrieben würde. Dass die ganzen Gebrauchsanweisungen auf den lokal verkauften Düngersäcken oder Medikamentenschachteln im Lande französisch – d.h. für die meisten im Lande nicht lesbar – waren, die Lokalsprache aber nur gerade in der Bibelübersetzung gebraucht wurde, schien diese Experten nicht zu stören.
2)
Immerhin kann man auf Schweizerdeutsch sehr wohl auch Nuklearphysik diskutieren. Will man die gefundenen Resultate weitergeben findet sich sicher eine praktikable Sprache, um das zu erreichen. Selbst der Bundesbrief von 1291 wurde in einer Fremdsprache verfasst. Mein erstes auf französisch geschriebenes Buch wurde aber von „welschen“, pardon „romands“ als miserabel geschrieben empfunden und auch mein zweites, immerhin von einem Romand sprachlich aufpoliert, wurde von der welschen Presse königlich ignoriert. Erst als zwei Jahre später die „hoch“-deutsche Version des Textes auf Internet erschien, sprach eine welsche Zeitung vom neuen „Geheimpapier“ der Bundesverwaltung. Dass dieser Journalist den Originaltext auf seinem Tisch so lange ignorierte kann wohl auch nicht als besondere Sprachkompetenz interpretiert werden.
Wie sagte doch Mme. Calmy-Rey so schön „Lesen können ist gut. Aber man sollte auch verstehen, was man liest.“