Sprachlupe: Ist Hochdeutsch in «Biu» nur eine Fremdsprache?

Daniel Goldstein /  «Le bilinguisme n’existe pas», behauptet ein Bieler Museum. Gemeint ist globale Vielstimmigkeit, nicht deutsch-welsche Dissonanz.

«In der heute teilweise hochgespielten Problematik Hochsprache–Dialekt, Deutsch–Welsch kommt Biel-Bienne ein Modellcharakter zu. Wann endlich nimmt man in helvetischen Landen den Sonderfall Biel nicht nur als beispielhaft zur Kenntnis, sondern versucht ihm gar nachzuleben?» So fragte 1985 der frisch pensionierte «Bund»-Chefredaktor und frühere Bieler Stadtpräsident Paul Schaffroth. Heute müsste man ihm antworten: Es ist immer noch nicht geschehen, «et pour cause», aus gutem Grund.
Als «typisch bielerisch» beschrieb Schaffroth im Sammelband «Des Schweizers Deutsch» (Hg. Gerd Padel) den Sprachgebrauch in den Behörden: Da «spricht jeder in seiner Muttersprache, das heisst französisch oder Dialekt». Begegnet man sich sonst, etwa beim Apéro: «Der Deutschschweizer bemüht sich, wenn am Tisch Romands sitzen, mit ihnen französisch zu sprechen. Nie wird er – oder dann beweist er, dass er kein ‹echter› Bieler ist – sich in der deutschen Hochsprache mit seinem welschen Gegenüber unterhalten.» Letzteres werde das auch nicht erwarten, geschweige denn selber so antworten. Und doch: Damals wie heute klagen Romands, die etwas weiter von der Sprachgrenze entfernt leben, ihr Schuldeutsch werde in der Deutschschweiz mit unverständlicher Mundart quittiert. Dabei gehört doch «in helvetischen Landen» auch Hochdeutsch zur sprachlichen Verständigung – «accent fédéral» durchaus genehm.

Italienischer Pressepionier

«Le bilinguisme n’existe pas» nennt sich eine Bieler Sprachausstellung, die noch bis 22. März  2020 zu sehen ist. Keine Zweisprachigkeit, ausgerechnet in Biel? Der Besuch zeigt schnell: So ist der Anklang ans Motto des Schweizer Weltausstellungs-Pavillons von 1992 nicht gemeint. Sondern so wie im Untertitel: «Biu/Bienne, città of njëqind Sprachen». Also «hundert», aus denen Italienisch und Albanisch dank Arbeitszuwanderung hervortönen – neben Globalenglisch, den angestammten Sprachen (samt Hochdeutsch) und gut dreissig weiteren, in denen man sich beim Eingang begrüssen lassen kann.
Ausstellungsbild
In der Ausstellung zum Anhören und Anklicken (© NMB)

«Biu/Bienne» entspricht dem von Schaffroth gepriesenen Modell, doch gehört sein Text nicht zu den vielen gedruckten oder audiovisuellen Dokumenten, welche die Ausstellung einfallsreich präsentiert. Eine Wand mit unterschiedlich alten Briefkästen, mit Namen aus mehreren Sprachen angeschrieben, lädt zum Hineinspähen ein – und da liegen entsprechende Originaldrucksachen aus dem gesellschaftlichen und kulturellen Leben (das auch laut Schaffroth meistens getrennt verlief, wenngleich mit «Tendenz zur Mischung»). In einem eigenen Schaukasten ist « La jeune Suisse / Die junge Schweiz» von 1835 zu sehen – die erste zweisprachige Zeitschrift, jedenfalls in Biel. Herausgegeben wurde sie vom Italiener Giuseppe Mazzini und anderen liberalen Revolutionären, die in und um Biel Zuflucht gefunden und Gleichgesinnte angetroffen hatten.

Welsche Schweizer Mehrheit

Hörstationen mit dokumentarischen oder fiktiven Texten, auf Deutsch und Französisch auch zu lesen, vermitteln Lebensbereiche und Geschichte – von einem keltischen Schmied, dem ein Kenner des Altwalisischen die Stimme verleiht, bis zur Gegenwart. Aus dem Jahr 1310 etwa ist die Jüdin Guta zu hören – bisher auf Hebräisch statt auf Jiddisch. Der Kurator Florian Eitel berichtet, man habe zunächst keine passende Sprecherin gefunden, doch werde nun die Mutter eines Besuchers einspringen.
Der Blick weitet sich bis hin zu einer aus Hongkong stammenden Weltgrafik, die freilich der Schweiz nur gerade 700’000 Deutschsprachige zugesteht (gegenüber 1,9 Mio. Romands) und Österreich ganz unterschlägt. Ein Sprachenbabel ist dem Museum bei der Besucherschar zu wünschen. Als ich unter der Woche dort war, hatte ich die Ausstellung fast für mich allein – schön, um sich ins reiche Anschauungs- und Anhörungsmaterial zu vertiefen, aber doch schade, weil ich nicht feststellen konnte, ob «le bilinguisme existe». Sicher aber tut er es in Hirschhorns Walser-Kosmos am Bahnhof.
— Zum Infosperber-Dossier «Sprachlupe»
— darin: «Fribourg» auf Deutsch, kein «Biel» auf Französisch


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

Der Autor war Redaktor beim «Sprachspiegel» und zuvor beim Berner «Bund» . Dort schreibt er die Kolumne «Sprachlupe», die auch auf Infosperber zu lesen ist. Er betreibt die Website Sprachlust.ch.

Zum Infosperber-Dossier:

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Daniel Goldstein zeigt, wie Worte provozieren, irreführen, verharmlosen – oder unbedacht verwendet werden.

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