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Patienten häufig unnötig auf dem Operationstisch © Adam Chapman/Flickr/Creative Commons

SP auch im Nationalrat auf Seite der Spezialärzte

upg /  Bessere Behandlungen in Ärztenetzwerken lehnt die SP ab. Damit setzt sie sich mit den hochbezahlten Spezialärzten ins gleiche Boot.

Jetzt hat nach dem Ständerat auch der Nationalrat die erste kleine Reform des Gesundheitswesens angenommen: Der direkte Zugang zu Spezialärzten soll etwas erschwert und der Zugang zu Gruppenpraxen und Qualitätsnetzen von Ärzten gefördert werden. Beides ist im Interesse von Patientinnen und Patienten. Doch beides bekämpft die SP mit wenig überzeugenden Argumenten. Damit vereinigt sie sich in einer unheiligen Allianz mit den Radiologen, Urologen und andern Spezialärzten. Diese fürchten, künftig im schlimmsten Fall statt einer Million nur noch 800’000 Franken zu verdienen. Deshalb finanzieren sie ein Referendum gegen die Vorlage des Parlaments. Mit Hilfe der SP könnte es diesen Interessenvertretern und der Ärztevereinigung FMH gelingen, die bescheidene Reform zu bodigen.
Bessere Qualität und mehr Leistungen
Gruppenpraxen und Ärzte-Qualitätsnetze bieten ihren Patientinnen und Patienten in aller Regel eine bessere Qualität als Einzelpraxen und obendrein manchmal Leistungen, welche die Grundversicherung sonst gar nicht abdeckt. Zum Beispiel Kurse für Diabetiker, Übergewichtige und Asthmatiker. Oder Kurse für Kranke mit einer Herzinsuffizienz oder für Osteoporose-Patientinnen mit Sturzrisiken. Eine Vergleichsstudie in Genf hat bewiesen, dass ältere Patientinnen dank solcher Präventionsprogramme in Ärztenetzwerken nur halb so häufig stürzen wie Patientinnen von Einzelpraxen. Und Herzinsuffizienz-Patienten müssen seltener für einen neuen Eingriff ins Spital. Nichts kommt im Gesundheitswesen teurer zu stehen als unnötige Mehrfachuntersuchungen und –behandlungen sowie unnötige Komplikationen.
Dazu kommt: Patienten, die sich Ärzte-Netzwerken anschliessen, profitieren in der Regel nicht nur von einer besseren Medizin, sondern profitieren meistens erst noch von günstigeren Prämien.
Der Ärztelobby aufgesessen
Trotzdem redet die SP von «Sozialabbau». Nach eigenen Angaben stört sich die Partei daran, dass Leute, die ohne Einweisung Spezialärzte in Einzelpraxen aufsuchen, pro Jahr maximal 300 Franken mehr als heute aus der eigenen Tasche zahlen sollen (bisher 10 Prozent und höchstens 700 Franken Selbstbehalt jährlich, neu 15 Prozent und höchstens 1000 Franken Selbstbehalt). Das sei «Sozialabbau» und erst noch eine «Einschränkung der freien Arztwahl», sagt Jacqueline Fehr, tonangebende Gesundheitspolitikerin der SP.
Offensichtlich ist die SP der Ärztelobby (auch in den eigenen Reihen) aufgesessen. Denn beide Argumente überzeugen nicht.

Das Argument der freien Arztwahl krankt in dreifacher Hinsicht
Erstens wird man mit der neuen Vorlage immer noch unter Hunderten von Netzwerke-Ärzten in der ganzen Schweiz wählen können (solange es auf dem Land keine Netzwerke gibt, zahlt man dort gemäss Übergangsbestimmungen auch in der Einzelpraxis keinen höheren Selbstbehalt). Eine derart grosse Ärzteauswahl in der Grundversicherung gibt es in praktisch keinem andern europäischen Land.
Zweitens wäre die freie Wahl des Chirurgen im Spital noch wichtiger als die freie Wahl sämtlicher Praxisärzte. Eine freie Arztwahl im Spital hat bei uns jedoch nur, wer sich eine teure Privatversicherung leisten kann. Für die freie Arztwahl im Spital hat sich die SP in den letzten dreissig Jahren jedoch nie stark gemacht.
Drittens wollte die SP die Vorlage nur unterstützen, falls die Räte die unterschiedlichen Selbstbehalte mit 15 und 7,5 Prozent festlegen. Es braucht schon eine starke Dosis Psychopharmaka um zu verstehen, weshalb 15 statt 10 Prozent Selbstbehalt die freie Arztwahl einschränken sollen, 15 statt 7,5 Prozent jedoch nicht.

Das Argument des Sozialabbaus krankt ebenfalls
Der direkte Gang zu Spezialarzt-Praxen ist mit hohen Risiken behaftet: Unzählige Patientinnen und Patienten lassen sich zu diagnostischen Verfahren, Eingriffen und Behandlungen überreden, die ihnen nichts nützen, sondern nur schaden und die Solidarität der Prämienzahler strapazieren. Je mehr gynäkologische Chirurgen in einer Gegend sind, desto mehr Frauen haben keine Gebärmutter mehr. Je mehr Herzspezialisten in einer Gegend, desto mehr Patienten unterziehen sich einer risikohaften Katheteruntersuchung und noch risikoreicheren Herzeingriffen. Die vielen Überbehandlungen bringen den Patientinnen und Patienten keinen Nutzen, sondern setzen sie einem unnötigen Risiko aus. Die betroffenen Patienten glauben dann allerdings fälschlicherweise, der Eingriff habe sie vor Schlimmerem bewahrt.
Spezialärzte erhöhen Kosten ohne Zusatznutzen
Der direkte Zugang zu Spezialarzt-Praxen treibt damit die Kosten enorm in die Höhe. Es gibt in der Schweiz immer mehr Spezialisten und immer weniger Allgemeinpraktiker. Wo die Spezialisten-Dichte besonders gross ist wie etwa in den Kantonen Waadt, Bern und Zürich, sind auch die Kosten und Prämien viel höher als in andern Kantonen – ohne einen auch nur im Ansatz bewiesenen gesundheitlichen Nutzen. Höhere Prämien ohne Zusatznutzen sind das Unsozialste. Das ist sozialer Raubbau, gegen den sich die SP wehren müsste.
Ärzte-Gruppenpraxen und -netzwerke senken nachweislich die Gesundheitskosten und steigern durch die gute Koordination die Behandlungsqualität. Deshalb ist es gesundheitspolitisch kurzsichtig, wenn die SP einen «Sozialabbau» diagnostiziert, weil der direkte Zugang zu Spezialarzt-Praxen mit einem leicht höheren Jahresselbstbehalt wenigstens ein bisschen erschwert wird.
Erholungsaufenthalt in Skandinavien
Der SP täte ein Erholungsaufenthalt in Skandinavien oder Holland gut. Deren Sozialsysteme gelten in der Regel als vorbildlich. Sie würde dort entdecken, dass es mit guten Gründen in keinem dieser Länder einen direkten Zugang zu Spezialarzt-Praxen gibt, nicht einmal gegen einen höheren Selbstbehalt.
Redaktor Patrick Feuz hat es im Berner «Bund» auf den Punkt gebracht: «Faktisch genommen ist die SP nur mit einer Gruppe solidarisch: mit den gut verdienenden Spezialärzten. Diese bekämpfen die Reform am heftigsten – weil sie um ihren Umsatz und ihre Macht in den Tarifverhandlungen bangen.»
Argument für Einheitskrankenkasse würde abhanden kommen
Doch der SP jedoch es vielleicht um ein ganz anderes Anliegen. Das Gesetz zur Förderung der Ärztenetzwerke verschärft nämlich auch den Risikoausgleich unter den Kassen, um der stossenden Jagd auf gute Risiken (gesunde Mitglieder) ein Ende zu setzen. Die unsinnige Jagd auf gute Risiken ist ein Hauptargument der SP zugunsten einer Einheitskrankenkasse. Die SP möchte verhindern, dass ihr dieses Argument abhanden kommt.


Themenbezogene Interessenbindung der Autorin/des Autors

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Eine Meinung zu

  • am 21.09.2011 um 22:12 Uhr
    Permalink

    Der Atikel von Urs P. Gasche ‹Die SP ist gesundheitspolitisch krank› ist oberflächlich. Wieso sollen Netze ohne Budgetmitverantwortung weniger effizeint sein? Wieso sollen Kranke gebüsst werden, wenn sie an der freien Arztwahl festhalten? Ich bitte dringend um sachlichere und sorgfältigere Artikel zur Frage Managed Care Vorlage.

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